Seine Leidenschaft hat Jürgen Bereiter-Hahn nie losgelassen. Auch wenn ihn zurzeit eine andere Baustelle auf Trab hält –, und zwar im wörtlichen Sinn: Auf dem Riedberg-Campus errichtet die „Stiftung zur Förderung der internationalen wissenschaftlichen Beziehungen der Goethe-Universität“ ihr drittes Gästehaus, und als Vorsitzender der Stiftung ist Bereiter-Hahn dafür verantwortlich, dass es bei den Bauarbeiten vorangeht – schließlich soll das Haus von Mitte 2022 an den Gästen der Universität zur Verfügung stehen. „Außerdem soll in dem Neubau ein Wohnheim für den naturwissenschaftlichen Campus entstehen“, berichtet Bereiter-Hahn, „Studierende wohnen dann Tür an Tür mit internationalen Forschern. Für dieses Modellprojekt hat sich die Stiftung mit dem Studentenwerk Frankfurt zusammengetan.“
Dass seine Leidenschaft bis zu seiner Entpflichtung im Jahr 2006 der Forschung galt, ist für den emeritierten Professor der Zellbiologie und Neurowissenschaft Bereiter-Hahn selbstverständlich. Aber auch ohne seine Arbeitsgruppe am Fachbereich Biologie der Goethe-Universität, auch ohne seine Labors und Messgeräte bildet aktuelle Forschung einen unabdingbaren Teil seines Lebens: So hat er gemeinsam mit einem Mechanik-Professor der „Frankfurt University of Applied Science“ (UAS) das LOEWE-Projekt „PräBionik“ geleitet, für das Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitäten Frankfurt, Marburg und Mainz sowie der UAS Frankfurt an Fragestellungen aus Biologie, Medizin und Ingenieurwissenschaften forschten. Seit zwei Jahrzenten fungiert Bereiter-Hahn zudem als Mitglied in Ausschüssen und als Gutachter für die europäische Raumfahrtagentur (ESA); im Zentrum dieser Forschung steht insbesondere die Rolle der Schwerkraft und der Einfluß von Schwerelosigkeit auf biologische Prozesse.
Außerdem leitet und koordiniert Bereiter-Hahn zusammen mit einem Tierphysiologen der Universität Marburg für die ESA eine internationale Forschergruppe, die sich mit „Hibernation and Torpor“ befasst, also mit Winterschlaf und dem Ruhezustand, auf den der Stoffwechsel in dieser Phase heruntergefahren wird: „Dieser Zustand könnte entscheidend sein, wenn Menschen zum Mars fliegen sollen“, kommentiert er, „die ESA hat jetzt einen neuen Generaldirektor bekommen, und ich bin gespannt, welchen Stellenwert dieses Thema bei ihm haben wird.“
Die erweiterte Rolle des Zytoskeletts
Bereiter-Hahn knüpft damit inhaltlich an ein Thema an, das seine aktive Zeit als Professor an der Goethe-Universität wesentlich bestimmt hat: die „erweiterte Rolle des Zellskeletts“. Dieses Zellskelett (auch: Zytoskelett) besteht aus fädigen Strukturen, welche die Form einer Zelle bestimmen und sie so in die Lage versetzen, sich fortzubewegen. „Um sich fortzubewegen, brauchen die Zellen Energie“, erläutert Bereiter-Hahn, „und diese Energie wird von Enzymen bereitgestellt, die sich direkt an die Fäden binden.“ Das Binden bewirke Zweierlei: Zum einen beeinflusse es die Festigkeit der fädigen Strukturen – und damit die Formstabilität und Beweglichkeit einer Zelle; deswegen spreche man hier von der „Rolle des Zytoskeletts“. Zum anderen werde dabei die Aktivität der Enzyme beeinflusst –, deswegen gehe es eben um die „erweiterte Rolle des Zytoskeletts“.
Daneben hat sich Bereiter-Hahn insbesondere in den Jahren vor seiner Emeritierung mit der Frage beschäftigt „Was passiert, wenn Zellen altern?“ Dazu hat er die Rolle der Zell-Organellen erforscht –, das sind die verschiedenen Bausteine, aus denen eine Zelle besteht: Wenn man sich die Zelle als Auto vorstellt, dann entsprechen die Organellen dem Motor, dem Lenkrad, der Handbremse und den anderen Autoteilen. Bereiter-Hahn hat nun gezeigt, dass für Zellen etwas ganz Ähnliches wie für Autos gilt, deren „Lebensdauer“ durch den Einbau von Ersatzteilen deutlich steigt: „Wir haben zum Beispiel in Zellen Gene eingeführt, die bewirken, dass sich der Umsatz an Organellen erhöht. Das heißt, alte und geschädigte Organellen werden verstärkt abgebaut, neue Organellen werden aufgebaut – und die Zelle bleibt länger funktionsfähig, das erhöht ihre Lebensspanne um rund ein Drittel.“
Bereiter-Hahn hat allerdings nicht nur mit schon vorhandenen Apparaturen experimentiert: Mit dem von ihm und seiner Gruppe entscheidend weiterentwickelten Ultraschall-Mikroskop wurde es möglich, lebende Zellen zerstörungsfrei zu untersuchen und ihre mechanischen Eigenschaften zu bestimmen –, die zellbiologische Forschung hat das deutlich vorangebracht. Außerdem war es für ihn neben seinen eigenen Forschungsprojekten immer wichtig, das Arbeitsumfeld „Fachbereich und Universität“ so zu gestalten, dass Forschung und Lehre davon profitierten: Unter dieses Motto hat er nicht nur seine Amtszeiten als Dekan des Fachbereichs Biowissenschaften und als Sprecher des Biozentrums auf dem Riedberg-Campus gestellt. „Das war gewissermaßen auch mein Programm, als ich von 2003 bis 2006 als Vizepräsident der Goethe-Universität amtierte“, blickt er zurück und fügt hinzu, „das fiel mir umso leichter, als ich zuvor sechs Jahre lang den Vorsitz im Konvent, dem damaligen Uni-Parlament gehabt hatte und mich entsprechend gut in allen Fachbereichen auskannte.“
Erfolg in der Exzellenzinitiative
Als „Vizepräsident für Forschung und akademische Infrastruktur“ war Bereiter-Hahn unter anderem zuständig für die von 2006 bis 2018 laufende Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder, und wie erfolgreich er in dieser Funktion agierte, lässt sich schon daran erkennen, dass es in seiner Amtszeit gelang, drei Exzellenzcluster einzuwerben: „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ (Rechts-, Gesellschaftswissenschaften), „Kardiopulmonales System“ (Medizin) und „ Makromolekulare Komplexe“ (Biologie, Biochemie); in Zahlen bedeutete das für die Goethe-Universität Fördermittel in Höhe von mehr als 130 Millionen Euro.
So leidenschaftlich Bereiter-Hahn auch forschte – er hat sich ganz bewusst dafür entschieden, das an einer Universität und nicht etwa an einem Max-Planck-Institut zu tun: „Für mich gehört es untrennbar zusammen“, zählt er auf, „Wissenschaft und Forschung betreiben, in der Lehre mit jungen Menschen zu tun haben und den ganzen Betrieb organisieren. Diese drei Felder lassen sich nirgends so gut gemeinsam abdecken wie an einer Universität.“ In den 1970er-Jahren habe man in der Biologie beispielsweise erkannt, dass die grundlegenden Vorgänge des Lebens dieselben seien, egal ob es um Bakterien, Pilze, Pflanzen oder Tiere gehe. Deswegen habe er sich damals zusammen mit einem Ökologen und zwei Botanikern darangemacht, den Anfänger-Unterricht im Biologie-Grundstudium neu zu gestalten: Weg von Veranstaltungen, deren Hauptziel es war, eine Zelle, einen Organismus korrekt zu beschreiben, und hin zu anspruchsvollen Versuchen, die ein Verständnis dafür vermitteln, wie Struktur und Funktionsweise eines Lebewesens zusammenhängen.
Preisgekrönte Mediendidaktik
Der Hochschullehrer Bereiter-Hahn hat Erklärungen gegenüber Beschreibungen ganz klar den Vorzug gegeben – auch wenn das deutlich seine didaktischen Fähigkeiten viel stärker forderte: „Ich wusste immer, um Zusammenhänge zu vermitteln, muss ich mich bemühen, sie bildhaft dazustellen“, sagt er. Dementsprechend hat er sich immer dafür eingesetzt, Lehrveranstaltungen mithilfe visueller Medien zu bereichern –, davon haben nicht nur seine Studierenden profitiert, sondern er selbst hat viel Anerkennung erhalten, indem zum Beispiel seine CD-Reihe „Die Zelle“ mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde. Und das „studiumdigitale“, in der COVID-19- Pandemie wichtiger denn je, geht ebenfalls auf die Initiative von Bereiter-Hahn und anderen Engagierten zurück; an dieser zentralen E-Learning-Plattform der Goethe-Universität arbeiten heute knapp 20 Personen mit.
Bei allem Vorwärtsdrang in Forschung und Lehre, bei aller Tatkraft, mit der Bereiter-Hahn Aufgaben in der akademischen Selbstverwaltung übernahm, hat er sich auch für ein gutes Miteinander im Uni-Alltag von Lehrenden einerseits sowie Studierenden und Wissenschaftlich Mitarbeitenden andererseits bemüht: 2010, also schon einige Jahre nach seiner Emeritierung, wählte ihn der Senat der Universität auf Vorschlag des damaligen Präsidenten zum (ehrenamtlichen) Ombudsmann. Zehn Jahre lang war er Ansprechpartner für alle Studierenden und Promovierenden, die in irgendeine Weise Probleme mit der Goethe-Universität hatten –, gleich ob sie sich über den rüden Umgangston oder gar sexuelle Belästigung durch einen Dozenten beschwerten, ob eine Fachschaft sich beklagte, dass ihr Fachbereich völlig unzureichend mit Hilfskraft-Stellen und Mitteln für Tutorien sei oder ob einem Studierenden die Exmatrikulation drohte, weil ein Dozent Prüfungsergebnisse falsch beziehungsweise verspätet an das zuständige Prüfungsamt gemeldet habe. „Dabei wollte ich den Rat-Suchenden zuhören und ihnen vermitteln, dass ihre Sorgen der Universität nicht gleichgültig sind“, sagt Bereiter-Hahn. Als Ombudsmann habe er Studierenden und Promovierenden helfen wollen, sich so weit wie möglich selbst zu helfen, ohne dass er gegenüber Uni-Verwaltung oder Lehrenden mit der Autorität eines ehemaligen Vizepräsidenten in Erscheinung treten musste.
Auch wenn Jürgen Bereiter-Hahn im April 2021 seinen 80. Geburtstag gefeiert hat: Die Leidenschaft für Forschung und Wissenschaft hat ihn nicht losgelassen: Sofern ihm der Neubau des Gästehauses auf dem Riedberg dazu Zeit lässt, führt er auch weiterhin die Forschergruppe Team „Hibernation and Torpor“ der ESA, und er beschäftigt sich mit Fragen der theoretischen Evolutionslehre: „Ich möchte die Aussagen von Charles Darwin ergänzen“, sagt er; Darwins Denkansatz sei in seinen Augen unvollständig: „Wenn man in der klassischen Evolutionslehre vom ‚suvival of the fittest‘ spricht, berücksichtigt man bisher nicht, dass die Moleküle, Einzeller, Tiere oder Pflanzen, die zueinander in Konkurrenz stehen, sich in diesem Wettstreit durch Kooperation den entscheidenden Selektionsvorteil verschaffen können, zum Beispiel in Form von Rudel- oder Staatenbildung.“
Stefanie Hense
Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 3/2021 (PDF) des UniReport erschienen.