Das Gefühl, mit den Händen in einen Schrank voller Papier zu fassen, bis die Finger etwas Festeres zu fassen bekommen. Wolfgang Schopf kann es noch heute spüren. Dabei ist es schon 15 Jahre her, als er das erste Mal im Keller des Verlagshauses Suhrkamp stand und mit Körper und Geist eintauchte in papiergewordene Dekaden Frankfurter Literaturgeschichte.
Verwinkelte Kellergänge mit Kisten, Truhen, Schränke, alle vollgestopft mit Briefen, Zeitungsauschnitten, Rezensionen und Manuskripten. „Es war einfach unglaublich“, sagt Wolfgang Schopf, dessen Augen noch heute glänzen vor Begeisterung über die Schätze, die sich ihm dort auftaten.
„Zwischen den Papieren stieß ich auf ein unscheinbar wirkendes Büchlein, in dem der Autor eine handschriftliche Botschaft an den Verleger notiert hatte: er solle das Exemplar gut aufbewahren – es beinhalte den neuen Schlussteil des Romans Stiller.“
Literaturgeschichtliche Perlen wie diese sollten Wolfgang Schopf in den kommenden Jahren immer wieder in die Hände fallen. Denn aus dem Stöbern in den Kellern des Verlags wurde ein archivarisches Lebensprojekt.
„Stiller“: Ein Mythos bröckelt
Im Jahr 2000 hatte sich der Suhrkamp Verlag an das Institut für Neue Deutsche Literatur der Goethe-Universität gewandt um seine gesammelten Dokumente und Korrespondenzen mit den Autoren sichten zu lassen.
Als klar wurde, welchen immensen Umfang diese Aufgabe hatte, gründeten Verlag und Universität 2002 gemeinsam das Archiv der Peter Suhrkamp Stiftung an der Goethe-Universität, womit der Bestand der Literaturwissenschaft zugänglich gemacht wurde.
Wolfgang Schopf, damals Doktorand am Institut für Neue Deutsche Literatur, sollte die Leitung übernehmen. Schopf war kein unbeschriebenes Blatt und hatte schon damals den Ruf eines literaturarchivarischen Goldgräbers: Mit einem katholischen Theologen hatte er schon Prozessakten des Indexverfahrens von Heinrich Heine aus dem vatikanischen Geheimarchiv ausgewertet und im Nachlass eines amerikanischen Fotografen den Prototyp des Modellbuchs von Brecht aufgestöbert.
„Das ich einmal die Möglichkeit bekommen würde, das Archiv des Suhrkamp-Verlags aufzubauen, hätte ich mich nicht zu träumen gewagt“, sagt Wolfgang Schopf. „Das war eine unglaubliche Chance.“
In den kommenden Jahren sollte es immer wieder Situationen geben, die nicht nur das Herz des Literaturwissenschaftlers Schopf höher schlagen ließen. Zwei Jahre nach der Gründung des Archivs stieß Wolfgang Schopf auf alte Druckfahnen, aus denen hervorging, dass Max Frisch den Anfang seines Romans Stiller noch kurz vor Veröffentlichung umgeschrieben hatte.
„Frisch selbst hatte an der Legende gestrickt, dass er den ganzen Roman auf den ersten Satz ‚Ich bin nicht Stiller’ aufgebaut hat“, sagt Wolfgang Schopf. „Die Druckfahnen zeigten, dass dem nicht so gewesen war. Der Mythos bröckelte.“
Der bahnbrechende Fund sollte an die breite Öffentlichkeit kommen, und Schopf organisierte in den Hallen des Bibliothekszentrums Geisteswissenschaften eine der ersten Hauslesungen.
Dass bei der Veranstaltung auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung zugegen war und das Thema auf die Titelseite des Feuilletons setze, machte das Archiv der Peter Suhrkamp Stiftung mit einem Schlag in der ganzen Bundesrepublik bekannt – genauso wie das Format der Hauslesung, das zu einem Kernstück von Schopfs Arbeit werden sollte.
Bis zu 120 Gäste bei Hauslesungen
„Wir hatten von Anfang an nach Wegen gesucht, unsere Fundstücke einer Öffentlichkeit zugänglich zu machen, die über das akademische Fachpublikum herausgeht“, sagt Schopf. Auf das Format einer Hauslesung wurde er durch eine Tradition im Suhrkamp-Verlag aufmerksam. „War ein Autor des Verlags in der Gegend, so war es üblich, dass er nach Frankfurt kam und für die Mitarbeiter des Hauses eine Lesung gab.“
Diese Hauslesung schien auch für Schopf ein geeigneter Weg zu sein, ein interessiertes Publikum auf den damals noch neuen und unnahbar scheinenden Campus Westend zu locken. Anstelle der Autoren sollten in den Hauslesungen des Archivs der Peter Suhrkamp Stiftung die Mitarbeiter der Universität und des FachbereichsNeue Philologien für die interessierte Öffentlichkeit lesen.
Die Lesung konzipiert Wolfgang Schopf entlang eines Themas seiner archivarischen Arbeit. Er entwickelt dabei anhand von Auszügen aus Briefen oder Manuskripten, Zitaten und Rezensionen eine Dramaturgie, die den Zuhörern Einblicke in eine sonst in den Archiven schlummernde Welt einer Werkgeschichte oder einer Autoren-Verleger-Beziehung gewähren.
Die Liste der Lesungen ist lang und reicht über prominente Suhrkamp-Autoren wie Marcel Proust, Hermann Hesse, Berthold Brecht oder Ernst Bloch. Bis zu 120 Gästen konnte Wolfgang Schopf bei solchen Lesungen am Semesterende erreichen und ihnen die bisher unveröffentlichten, an der Goethe-Universität erschlossenen Quellen aus dem Archiv der Peter-Suhrkamp-Stiftung präsentieren.
„Frankfurt liest ein Buch“ – auch an der Goethe-Uni
[dt_quote type=“pullquote“ font_size=“h4″ background=“fancy“ layout=“right“ size=“3″]„Wir haben uns auf das besonnen, was wir in all den Jahren entwickelt haben.“[/dt_quote]
In Jahr 2009 kam der große Bruch: der Suhrkamp Verlag schlug in der altvertrauten Heimat Frankfurt die Zelte ab und zog nach Berlin. Sein historisches Vermächtnis und damit die Arbeitsgrundlage des Archivs der Peter Suhrkamp Stiftung verkaufte er an das Deutsche Literaturarchiv Marbach.
Für die Stadt Frankfurt, die Universität genauso wie für Wolfgang Schopf war dies ein herber Schlag. „Doch wir haben uns geschüttelt wie Hunde nach dem Regen und uns auf das besonnen, was wir in all den Jahren entwickelt haben“, sagt Schopf.
Denn auch wenn das Archiv der Peter Suhrkamp Stiftung verloren ging, so hatte Wolfgang Schopf eine ganz besondere Expertise und die dazugehörende Infrastruktur für die Vermittlung literaturwissenschaftlicher Inhalte entwickelt, die weiterhin genutzt werden wollte: Aus dem Archiv der Peter-Suhrkamp-Stiftung wurde das neue Literaturarchiv der Goethe Universität, und es sollte nicht lange dauern, bis Wolfgang Schopf mit Anfragen zur Archivierung von Dokumenten von bedeutenden Autoren und insbesondere Frankfurter Institutionen der Gegenwartsliteratur überhäuft wurde.
Mittlerweile verwaltet das Literaturarchiv der Goethe-Universität Archivalien von Autoren wie Eva Demski, Walter Boehlich und F. K. Waechter sowie von Verlagen wie dem Verlag der Autoren, Schöffling& Co. oder dem Eichborn Verlag.
Auch das Repertoire an öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten hat Schopf erweitert, so kuratiert er regelmäßig Ausstellungen im „Fenster zur Stadt“, ein im Restaurant Margarete liegender und dem Haus des Buchs benachbarter Veranstaltungsraum in er Braubachstraße.
Die Hauslesungen an der Goethe-Universität sind aber nach wie vor das Kernstück, mit der Schopf die Öffentlichkeit erreicht. Seit einigen Jahren kooperiert er dabei mit „Frankfurt liest ein Buch“ und konzipiert Ausstellungen und Lesungen passend zum Thema, in diesem Jahr im Rahmen der „Nacht der Museen“ zum literarischen Interesse der Familie von Anne Frank.
„Der Kern meiner Arbeit bewegt sich zwischen zwei Polen, die unterschiedlicher nicht sein könnten“, sagt Wolfgang Schopf. „Auf der einen Seite steht das Bewahren, das Sortieren und Konservieren von auf Papier getragenen Materialien, auf der anderen Seite das Neuanordnen und in die Öffentlichkeit tragen – ein Balanceakt.“ [Autorin: Melanie Gärtner]
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Interessanten an der Hauslesung können sich in den Informationsverteiler aufnehmen lassen. E-Mail an: schopf@archiv-suhrkamp-stiftung.de
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