» Du bist ein Kathederlöwe‹, hat ein Kollege einmal zu mir gesagt.«

Der Familienrechtler Ludwig Salgo blickt auf viele Jahre in der universitären Forschung und Lehre zurück. Nun beendet er seine Seniorprofessur.

Im November durfte er seinen 77. Geburtstag feiern, von Ruhestand ist aber noch keine Spur. Gerade bereitet er sich in seinem Büro über der Neuen Mensa am alten Campus in Bockenheim mit großem Elan auf die nächste Seminarsitzung vor. »Die Lehre an der Universität wie an Fachhochschulen war mir nie eine Last. Ich habe versucht, die Studierenden zu motivieren oder bei Bedarf gar zu provozieren, um zu kommunizieren, weil wir alle viel mehr von gegenseitigem Austausch haben«, sagt Ludwig Salgo. Zahlreiche Studierende der Sozialen Arbeit, aus der Rechtswissenschaft, aber auch aus der Erziehungswissenschaft haben seine Veranstaltungen besucht; etliche Juristinnen und Juristen haben bei ihm promoviert, sich für die pädagogische oder juristische Laufbahn qualifiziert. Sein zentrales Thema in Forschung und Lehre: das Verhältnis Eltern-Kind-Staat. Anfang 2012 ging er in den Ruhestand, doch die Lehre blieb vorerst seine große Passion. Jetzt beendet er seine Seniorprofessur an der Goethe-Universität zum Semesterende nach zehn Jahren: »Nun ist es genug«, sagt er. In der Fortbildung für Jugendämter, Verfahrensbeistände und Juristen, auch in Stiftungen und Verbänden, hier vor allem im Kinderschutzbund in Frankfurt, möchte er weiterhin aktiv bleiben, auch um für das Thema Kindeswohl zu sensibilisieren. Dass er dann mehr Zeit für seine große Leidenschaft haben wird, freut ihn: »Ich leide an der Melomanie«, sagt der passionierte Freund klassischer Musik. »Wie Nietzsche treffenderweise einmal bemerkt hat, wäre das Leben ohne Musik ein Irrtum.«

Flüchtlingskind

1956, nach der gescheiterten Revolution, kommt Salgo als Zehnjähriger mit Mutter und Schwester aus dem kommunistischen Ungarn nach Deutschland. Zu dieser Zeit reichte sein Deutsch eigentlich noch nicht, um die Aufnahmeprüfung fürs humanistische Gymnasium zu bestehen – dennoch wurde er aufgenommen: „Den Flichtling neme mer“, sagte der Schuldirektor auf Schwäbisch. Der Junge kann sich in einem bildungs- und migrantenfreundlichen Umfeld durchsetzen. „Dass ein Volk sich gegen die Machthaber erheben kann, hat mich schon sehr für mein Leben geprägt, auch wenn der Aufstand schließlich gescheitert ist. Wir Ungarn wurden jedenfalls in Deutschland als Helden gefeiert, weil wir es ‚den Kommunisten gezeigt haben‘.“ Ich hatte jedenfalls keinerlei Nachteile dadurch, dass ich Flüchtlingskind war“, erinnert sich Salgo. Deutsch, Geschichte und Musik sind in der Schule seine Lieblingsfächer, erinnert sich Salgo lachend. Nach dem Abitur 1968 studierte er Rechts- und Gesellschaftswissenschaften, zuerst an der Universität Tübingen, dann an Goethe-Universität. „Tübingen war eine der führenden juristischen Fakultäten des Landes, ich konnte dort vieles lernen. Aber der Umgang mit der NS-Zeit fand dort kaum statt, es gab immer noch einen Giftschrank mit Publikationen des noch aktiven Lehrpersonals aus der Zeit des Faschismus. Die gesellschaftliche Realität war in diesem idyllischen Städtchen, vor allem an der Juristischen Fakultät insgesamt doch sehr weit weg.“ Er wechselt an die Goethe-Universität. Die universitäre Juristenausbildung dort soll reformiert werden, Sozialwissenschaften sollen in das juristische Studium integriert werden, um die gesellschaftliche Wirklichkeit besser zu verstehen und dadurch eine bessere Rechtspraxis zu bewirken. Dass man in diesen Zeiten einiges von Marx, aber auch von Sigmund Freud oder aus den aktuellen soziologischen Diskursen gelesen haben musste, obwohl dies nicht Teil des Lehrplans war, mag zwar elitär erscheinen, aber ein „studium generale“ war gerade an Hochschulen früher und ist heute wieder aktuell. Zwar beklagt Salgo in der Rückschau, dass Teile der Studentenbewegung sich dogmatisch entwickelten. Als Flüchtling aus dem kommunistischen Ungarn war er dagegen gefeit und gehörte eher zu den „Spontis“. Gleichzeitig haben die gesellschaftskritischen Themen der Studentenbewegung einen anderen Blick auf die Rechtswissenschaft ermöglicht: „Verändern statt Verdrängen“. Im Bereich des Familienrechts stößt Salgo auf wichtige und ihn prägende Lehrende wie Spiros Simitis und Gisela Zenz. „Man beschäftigte sich in der juristischen Ausbildung im Familienrecht endlich auch mit Fragen der Familiensoziologie, der Psychologie, der Psychoanalyse und der Rechtstatsachenforschung in einem internationalen und interdisziplinären Umfeld – es herrschte also eine richtige Aufbruchstimmung. Es ging darum, Betroffene besser zu verstehen und aktuelle Rationalitätskonzepte an die Stelle längst überholter Regelungs- und Entscheidungskonzepte zu setzen. Die Rationalisierung des Familienrechts, insbesondere des Kindschaftsrechts, dessen Internationalisierung, Konstitutionalisierung und Prozeduralisierung; das waren Themen, über die am Lehrstuhl Simitis geforscht wurde. Simitis/Zenz gehörten in diesem Bereich zu den Pionieren der Rechtstatsachenforschung im Kindschaftsrecht in Deutschland. All dies sollte meine weitere berufliche Laufbahn prägen.“ Salgo entscheidet sich nach dem Zweiten Staatsexamen, zunächst als Anwalt zu arbeiten – „ich wollte mit Menschen zu tun haben, mit Mietern, mit Arbeitnehmern, mit Gefängnisinsassen, mit Jugendbehörden, Eltern und Kindern, das war auch ein Ansatz der 68er“. Die Kanzlei, die er mitgründet, läuft gut, doch der inspirierende Kontakt zu Simitis und Zenz zieht ihn wieder zurück an die Universität. Von 1982 bis 1988 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter von Spiros Simitis, seine Promotionsschrift, „Pflegekindschaft und Staatsintervention“ aus dem Jahr 1987 gilt bis heute als Fundament für kindesorientierte Rechtspolitik im Pflegekindschaftswesen; sie wurde mit dem Walter-Kolb-Gedächtnispreis der Stadt Frankfurt am Main ausgezeichnet. Seine Habilitationsschrift „Die Vertretung von Kindern in zivilrechtlichen Kindesschutzverfahren“ (1994) erschien später in erweiterter Fassung im Bundesanzeiger Verlag und bei Suhrkamp.

Mehr interdisziplinäre Kompetenz in der Justiz

Das „Kindeswohl“ lag Salgo immer schon am Herzen, wobei er darauf hinweist, dass die kaum vermeidbare Unbestimmtheit dieses Begriffs im Gesetzestext interdisziplinär aufgelöst werden muss. „Der Frankfurter Ansatz besagt: Juristinnen wie Juristen müssen humanwissenschaftliche Erkenntnisse in ihren Entscheidungen berücksichtigen. Wenn nicht die Lebenswirklichkeit in die Entscheidungsfindung von Behörden und Gerichten hineingeholt wird, wird über die Köpfe und an den Menschen, an ihren Bedürfnissen vorbei entschieden.“ Salgo spricht von großen Herausforderungen, die an
die Familiengerichtsbarkeit gestellt werden; so ist der Weg ein weiter, bis Anfang 2022 endlich unter anderem gesetzlich festgeschrieben wurde: Richterinnen wie Richter, die in der Familiengerichtsbarkeit tätig sein wollen, müssen dem Präsidium des Gerichts nachweisen, im Bereich der Entwicklungspsychologie, des Kindschafts- und Jugendhilferechts, des Familienverfahrensrechts kompetent zu sein, zudem Kenntnisse in der Kommunikation mit Kindern haben.

Stärkung der Kinder im familiengerichtlichen Verfahren

Doch wie sieht es mit den Kindern in gerichtlichen Verfahren aus, womit lässt sich die kindliche Position in Verfahren zusätzlich zu der von Simitis und Zenz untersuchten Kindesanhörung stärken? Ein zentraler Begriff im Bereich der Familiengerichtsbarkeit ist heute die Verfahrensbeistandschaft. Doch diese Rechtsfigur musste erst noch entwickelt werden. Im Rahmen von Forschungsprojekten werden Konzepte und Erfahrungen vor allem aus Großbritannien, Australien und den Vereinigten Staaten ausgewertet, wie die Praxis vor Ort beobachtet. Salgo findet es interessant, dass in den Rechtstraditionen dieser Länder die Figur einer eigenständigen Vertretung von Kindern selbstverständlicher ist. „Man schaut dort stärker auf das Individuum, in Deutschland ist der Einzelne traditionell eher Teil einer Gemeinschaft oder Familie.“ Er steht damals auch im Austausch mit Jutta Limbach, einer Professorin der Rechtssoziologie und späteren Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, die ihn auf den im preußischen Landrecht verankerten „Kurator“ verweist, der durchaus als ein Vorläufer des heutigen Verfahrensbeistands betrachtet werden kann. Ein Gutachten für das Justizministerium fruchtet: Zunächst kommt die Figur des „Verfahrenspflegers“ ins Gesetz, musste aber im Sinne von Salgo in zwei weiteren Legislaturperioden als „Verfahrensbeistand“ an etlichen Stellen nachgebessert werden. „Gemeint ist damit, dem Kind eine unabhängige und dafür qualifizierte Interessenvertretung an die Seite zu stellen. Denn auch wenn die Eltern zuerst einmal Vertreter ihres Kindes sind, kann es vor Gericht durchaus zu Interessenkonflikten kommen, und dann ist im Verfahren ein Beistand aufseiten des Kindes sehr sinnvoll.“ Mittlerweile werden pro Jahr über 116 000 Verfahrensbeistände bestellt. Stärker erforscht werden müsse, fordert Salgo, wie dieser Beistand bei den Kindern ankommt, aber ebenso, wie die Gerichte und Behörden damit umgehen. 

„Der Fortschritt ist manchmal eine Schnecke“, sagt Salgo, und meint damit auch Veränderungen im Rechtssystem. Salgo erinnert sich, wie viele Forschungsarbeiten, auch und gerade seiner Doktorandinnen und Doktoranden, nötig waren, um Reformbedarfe aufzuzeigen und Reformvorschläge zu entwickeln. Einer seiner Doktoranden, Professor Dr. Stefan Heilmann,

Vorsitzender Richter an einem Familiensenat beim Oberlandesgericht, hat sich mit dem kindlichen Zeitempfinden und der Dauer von Gerichtsverfahren beschäftigt. „Man könnte ohne Überheblichkeit sagen, dass wir hier in Frankfurt auf Erfolge in der Weiterentwicklung des Kindschaftsrechts wie in der Familiengerichtsbarkeit zurückblicken können. Ich war natürlich nicht alleine, sondern hatte und habe viele Verbündete, um etwas in Bewegung zu bringen“, betont Salgo.

Mehr Rechtswissen in der Pädagogik

Ludwig Salgo ist nicht unzufrieden darüber, dass er Teil dieser Tradition am Fachbereich Rechtswissenschaft als Außerplanmäßiger Professor werden durfte. Auch in der zweiten Disziplin, in der er als Seniorprofessor nach seiner Pensionierung an der Fachhochschule Frankfurt aktiv war, hat der interdisziplinäre Austausch einiges bewirkt. „Am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Goethe-
Universität gab es seit Langem hauptamtlich Lehrende, die eine Expertise aus anderen Disziplinen wie zum Beispiel der Rechtswissenschaft mitgebracht hatten: Ich denke hier an Berthold Simonsohn, den Ehemann von Trude Simonsohn, der gleichermaßen Jurist und Sozialpädagoge war oder auch an Henner Hess, der als Kriminologe und Soziologe das Centre for Drug Research am Fachbereich Erziehungswissenschaften gegründet hat. Auch die Juristin und Psychoanalytikerin Gisela Zenz hatte von 1981 bis 2004 eine hauptamtliche Professur für Familien-, Jugendhilfe- und Sozialrecht an diesem Fachbereich. Danach ist diese Tradition nicht weitergeführt worden.“

Rechtsfragen, so Salgos feste Überzeugung, spielen auch in den Erziehungswissenschaften und in der Lehrerausbildung eine große Rolle. „Absolventen der Erziehungswissenschaften (wie der Fachhochschulen) arbeiten oft in Jugendämtern und bei Freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe, müssen beispielsweise Stellungnahmen für Gerichte verfassen und sich daher im Familienrecht und entsprechenden Verfahren gut auskennen. Sie müssen Schutzbedarfe von Kindern erkennen und hier richtig handeln. Deshalb haben wir für unsere und andere Studierende(n) mit Kollegen und Kolleginnen der Kinderklinik wie der Rechtsmedizin der Goethe-Universität sowie der Frankfurt University of Applied Sciences eine interdisziplinäre Fort-
bildungsreihe zum Kinderschutz entwickelt.“

Perspektiven

„Trotz der Tradition am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität, trotz großem Zuspruch bei den Studierenden und trotz eines Bedeutungszuwachses in einem erweiterten Rechtsmodul des Studienganges, ist die Reetablierung einer Rechtsprofessur bedauerlicherweise bisher nicht gelungen“, bedauert Salgo. Rückblickend ist er aber sehr dankbar auch dafür, dass er Wissen und Erfahrungen an Studierende weitergeben durfte, aber auch dafür, selbst von Kolleginnen und Kollegen wie von Studierenden der Pädagogik wie der Sozialen Arbeit viel gelernt zu haben.

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