Andreas Gold, Professor für Pädagogische Psychologie, über sein Buch zum Umgang mit digitalen Texten
UniReport: Sie haben ein Buch über das digitale Lesen geschrieben. An wen haben Sie beim Schreiben gedacht?
Andreas Gold: An die Leserinnen und Leser. An digitalen Texten – ob im Internet oder in Form von E-Books – kommt ja niemand mehr vorbei.
Was war für Sie der Anlass dafür, sich näher mit den unterschiedlichen Bedingungen von digitalem und analogem Lesen auseinanderzusetzen?
Vor gut vier Jahren wurde im Zusammenhang mit der sogenannten Stavanger-Erklärung der Begriff der „Bildschirmunterlegenheit“ diskutiert. Metaanalysen aus dem Bereich der Leseforschung hatten gezeigt, dass längere Sachtexte, die auf dem Bildschirm gelesen werden, nicht so gut verstanden und behalten werden wie gedruckte Texte. Das ist natürlich ein Problem.
Ich selbst lese Texte immer noch lieber auf Papier, mache mir Notizen, unterstreiche Sachen mit Textmarker.
Markieren können Sie am Tablet natürlich genauso. Überhaupt sind Tablets und E-Reader geeignetere Lesemedien als Laptop oder Desktop-Computer: Sie ähneln dem Buch ja schon allein dadurch, dass man sie vor sich liegen hat oder in der Hand halten kann.
Die Präferenz für Papier oder Bildschirm ist sicher auch eine Generationenfrage…
Eindeutig ja. Wobei das Interessante ist, dass auch die Studierenden sagen, sie lesen lieber auf Papier. Aber tatsächlich lesen sie dann meist doch digital. Das Lesen am Bildschirm hat enorme Sekundärvorteile: Die Texte sind leichter zu beschaffen und oftmals auch kostengünstiger. Einen Primärvorteil in Bezug auf das Textverstehen haben digitale Texte im Allgemeinen nicht, allenfalls in Bezug auf das informatorische Lesen, also das Suchen und Finden von Informationen. Papiertexte kann man definitiv nicht so leicht durchscannen wie einen digitalen Text.
Man erinnert sich ja kaum noch daran, wie früher recherchiert wurde…
Damals war man sehr von der Verschlagwortung abhängig, aber auch davon, ob eine Bibliothek leicht zugänglich war. Beim Lesen von Digitaltexten darf man aber nicht in diesem Quick-and-Dirty-Modus des informatorischen Lesens bleiben, sondern muss zum Textverstehen in einen langsameren, intensiven Lesemodus kommen. Und das ist nicht einfach.
Ihr Buch ist eine Reaktion auf die bereits erwähnte Stavanger-Erklärung. Wie sind Sie beim Verfassen vorgegangen?
Die Stavanger-Erklärung war ein Weckruf, der auf ein Forschungsdefizit aufmerksam machen sollte. Seither sind zahlreiche Studien und Metaanalysen publiziert worden. Ich habe auch Studien einbezogen, die weniger kulturpessimistisch getönt sind, sondern die besonderen Möglichkeiten des digitalen Lesens hervorheben. Ich wollte eine solide empirische Basis haben: Was weiß man, was weiß man noch nicht? Was kann man empfehlen?
Andreas Gold
Digital lesen – was sonst?
Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2023
Link zum Buch in der UB | E-Book
Link zur Stavanger-Erklärung
Muss man Schülern das Lesen unter digitalen Bedingungen nochmal ganz neu beibringen?
Unbedingt. Jahr für Jahr zeigen die großen Bildungsstudien auf, dass ein Viertel unserer Kinder und Jugendlichen nicht gut lesen können. Das gilt auch für das Bildschirmlesen. Für das digitale Lesen müssen bestimmte Skills eingeübt werden. Man kann ja mit digitalen Texten viel mehr machen, als nur einen digitalen Klon des Papiertextes zu erstellen. Man kann digital recherchieren lassen, man kann mehrere Texte parallel lesen lassen, man kann mit Hypertexten arbeiten. Aber die Kinder und Jugendlichen – und auch die Studierenden – sollten die richtigen Strategien dafür kennen.
Zusatzinformationen können aber auch vom vertieften Lesen ablenken. Sind Hyperlinks insofern nicht kontraproduktiv?
Leseunterbrechungen gibt es auch bei Papiertexten. Auch dort können Sie ihre Gedanken auf Wanderschaft schicken – und merken nach ein, zwei Seiten: Ich war ja gar nicht mehr dabei. In der Tat lassen wir uns aber am Bildschirm noch leichter ablenken, insbesondere, wenn wir online lesen. Da poppen Nachrichten auf, da gibt es Zusatzinformationen, die leicht vom Text wegführen. Leseunterbrechungen sind problematisch für das Verstehen und Behalten von Texten. Bei den Hypertexten ist es natürlich besonders „gefährlich“. Idealerweise würden die Links das Verstehen des Textes stützen – aber oft führen sie weg oder lenken ab. Das verbraucht kognitive Kapazität, die anderswo fehlt.
Also besser keine Hyperlinks nutzen?
Doch, auf jeden Fall! Ein digitaler Klon eines Analogtextes ist wenig innovativ. Interaktive Texte bieten ganz andere Möglichkeiten. Wer dieses Interview im digitalen UR liest, kann direkt auf die Stavanger-Erklärung klicken – oder auf den UB-Link zum E-Book „Digital lesen. Was sonst?“. Jedenfalls dann, wenn die entsprechenden Links gelegt sind.
Der Unterschied liegt Ihrer Meinung nach in der Haltung, mit der wir lesen. Wir nehmen das Lesen am Bildschirm nicht so ernst wie das Lesen in einem Buch?
Genau. Nicht das Lesemedium macht den Unterschied, sondern die Einstellung, wie wir an das Medium herangehen. Der Bildschirm triggert das oberflächliche Lesen, weil wir ihn so kennengelernt haben: als schnelles Recherchemedium. Es ist der Lesemodus des selektiv Überfliegenden, Oberflächlichen. Da muss man für das verstehende Lesen bewusst gegenarbeiten, um in einen anderen Lesemodus zu gelangen, einen langsameren, intensiven. Dann kann man auch am Bildschirm verstehend lesen wie auf dem Papier.
Dafür muss man aber erstmal ein Bewusstsein haben.
Deshalb sind diese Forschungsergebnisse so wichtig: Am Bildschirm lesen wir zwar oftmals schneller, oberflächlicher und weniger sorgfältig. Das muss aber nicht sein. In Lehr-Lern-Situationen kann man schon bei der Aufgabenstellung etwas tun, indem angekündigt wird: Im Anschluss an das Lesen müsst ihr eine Kurzzusammenfassung des Textes schreiben. Dann wird anders gelesen, auch am Bildschirm. Wenn ich aber weiß, am Ende des Tages muss ich nur 20 Multiple-Choice-Fragen beantworten, dann lese ich weniger sorgfältig.
Insofern müssten Lehrkräfte und Lehramtskandidaten entsprechend geschult und vorbereitet werden. Geschieht das bereits?
Der Digitalpakt Schule hat ja erhebliche Mittel in die digitale Ausstattung der Schulen gespült, sodass jetzt viele Schülerinnen und Schüler über Laptops und Tablets verfügen. Die Ausbildung und die Fort- und Weiterbildung der Lehrerinnen und Lehrer hinkt da noch etwas hinterher. Wir arbeiten daran.
Laut einer Studie schätzen Eltern die Kompetenzen ihrer Kinder im Umgang mit digitalen Medien wesentlich höher ein, als sie es tatsächlich sind.
Ja, viele Eltern meinen, ihre Kinder könnten die Glaubwürdigkeit von Quellen einschätzen. Aber vielleicht dient das eher der Selbstentlastung.
Wir sind vielleicht alle etwas überfordert.
Recherchieren und Navigieren kann man lernen: Vertrau nicht unbedingt der zuerst gefundenen Quelle! Gibt es eine alternative Sichtweise? Wer hat’s geschrieben? Mit welcher Absicht? Wo steht es? Gerade bei der Informationssuche im Internet ist die Gefahr groß, dass man nur Informationen findet, die zu den Einstellungen passen, die man ohnehin schon hat. Wir nennen das ein affirmatives Navigationsverhalten.
Und daraus entstehen dann auch die sogenannten Blasen oder Echokammern im Netz.
Ja, man findet vornehmlich das, was gut zu dem passt, was man ohnehin schon meint. Digitale Kompetenzen sind beim Online-Lesen enorm wichtig, um falsche Nachrichten als solche zu erkennen.
Doch zurück zur vermeintlichen Bildschirmunterlegenheit: Wie schaut es eigentlich mit literarischen Texten aus?
Das ist ein ganz anderes Thema: Einen literarischen Text lesen Sie ja normalerweise nicht, weil Sie hinterher darüber geprüft werden, sondern zum Vergnügen.
Das ist eine ganz andere Ausgangslage, die Motivation ist intrinsisch.
Deswegen sagen auch viele Studien: Bei literarischen Texten ist das Lesemedium egal. Das immersive, zeitvergessene Lesen kann auf dem E-Reader genauso gelingen wie mit dem Buch aus Papier. Eine nennenswerte Bildschirmunterlegenheit beim Verstehen und Behalten literarischer Texte gibt es nicht. Fraglich ist allerdings, ob das die richtigen Zielkriterien des literarischen Lesens sind.
Fragen: Anke Sauter