Der Humboldt-Forschungspreis wird an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Ausland verliehen in Anerkennung ihres bisherigen Gesamtschaffens. Einer der aktuellen Preisträger ist Alexander Fidora. Für den Mittelalterphilosophen aus Barcelona bedeutet der Preis eine Rückkehr an seine frühere Wirkungsstätte.
Alexander Fidora ist Forschungsprofessor am Katalanischen Institute for Research and Advanced Studies (ICREA) an der Universität Autònoma de Barcelona. Sein Forschungsschwerpunkt ist der intellektuelle Austausch zwischen den Religionen im Mittelalter, insbesondere die Rezeption christlicher Philosophen durch die jüdischen Denker, aber auch umgekehrt die Diskussion jüdischer Texte unter christlichen Gelehrten. Ein wissenschaftliches Profil, das nahezu perfekt in den Themenkreis des Forschungsverbundes „Dynamiken des Religiösen“ an der Goethe-Universität passt. Das ist freilich kein Zufall, denn Alexander Fidora ist ein „Frankfurter Gewächs“: Er hat an der Goethe-Universität Philosophie studiert, wurde bei Prof. Matthias Lutz-Bachmann promoviert und arbeitete bis 2008 mit im Sonderforschungsbereich „Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel“. Mit Lutz-Bachmann verbinden ihn bis heute ein reger wissenschaftlicher Austausch und zahlreiche gemeinsame Publikationsprojekte.
Zwei ERC-Projekte hat Fidora in Barcelona erfolgreich abgeschlossen, beides editorische Großprojekte: Im einen ging es um die jüdische Rezeption lateinischer philosophischer Texte. „Wir konnten zeigen, wie jüdische Gelehrte des Mittelalters mit zeitgenössischen scholastischen Diskursen vernetzt waren; und auch, dass die hebräische Sprache beileibe nicht nur eine Sprache des Kults war, sondern mit der Zeit auch als Wissenschaftssprache verwendet und weiterentwickelt wurde“, sagt Fidora. Das andere Projekt hatte die Auseinandersetzung mit dem jüdischen Talmud im europäischen Christentum des 13. Jahrhunderts zum Gegenstand. Der Talmud ist die späte Niederschrift von Auslegungen der Mischna durch jüdische Gelehrte. Um 1238 hatte Nicholas Donin, ein zum Christentum konvertierter jüdischer Gelehrter, Passagen aus dem Talmud übersetzt und anklagend vor den Papst gebracht, insbesondere Passagen über Jesus Christus und Maria. In der „Pariser Disputation“ kam es daraufhin zu einem Verbot des Talmud. Es folgten Talmud-Verbrennungen und Pogrome. In seinem Editionsprojekt befasste sich Fidora mit einer in diesem Zusammenhang entstandenen Übersetzung, die zwar im Ergebnis keine Verbesserung für die europäischen Juden brachte, aber entschieden zur Kenntnis der jüdischen Traditionsliteratur seitens der Christen beitrug.
Als Humboldt-Forscher wird sich Fidora vor allem mit den Rationalisierungskonzepten christlicher Apologeten wie Thomas von Aquin, Raimundus Lullus und Nikolaus von Kues befassen. Vom 13. Jahrhundert an kam es in Europa zu einer Rationalisierung der Wissenschaften, Universitäten wurden gegründet und die Theologie wurde als Wissenschaft etabliert. Auch die christliche Apologetik und das Gespräch der Religionen wurde von diesem Rationalisierungsschub erfasst: Statt auf der Grundlage von autoritativen Texten, wie dem Alten Testament, zu argumentieren, riefen immer mehr Christen dazu auf, ein rationales, auf philosophischen Prinzipien basierendes Gespräch mit Juden und Muslimen zu suchen. Dabei stellte sich jedoch oftmals heraus, dass aristotelische Kriterien der Erkenntnisgewinnung anhand des Ursache-Wirkungs-Schemas in Glaubensfragen schnell an ihre Grenzen stießen, und so suchte man z.T. nach alternativen, dem zur Debatte stehenden Gegenstand angemesseneren Standards und Methoden des rationalen Gesprächs. „In den überlieferten, größtenteils literarischen Religionsdialogen wird einigen Autoren des 13. und 14. Jahrhunderts deutlich, dass bestimmte Beweisformen für Glaubensdinge nicht angemessen sind, weshalb sie beginnen, bekannte Rationalitätsstandards zu überdenken und zu erweitern“, erklärt Fidora. Raimundus Lullus (1232–316) sei ein Beispiel hierfür: Er habe eine eigene Systematik entworfen, wie der Wahrheitsgehalt der verschiedenen Religionen gegeneinander abgewogen werden könne. Ausgehend von ihrer gemeinsamen Grundlage rekonstruierte Lullus die drei Weltbilder von Christentum, Judentum und Islam und prüfte sie auf den Erkenntnisgewinn und auf den Gewinn an Liebe – das Ergebnis dürfte aus heutiger Sicht wenig überraschen, ebenso wenig wie die Tatsache, dass die anderen Religionen eher skeptisch darauf reagierten.
Fidoras Forschungen in diesem Bereich fließen auch ein in die große Konferenz, die er gemeinsam mit dem Institut für Philosophie und dem Forschungsverbund DynRel unter Beteiligung von Vertreterinnen und Vertretern des Seminars für Judaistik und der Studien der Kultur und Religion des Islam im Dezember veranstalten wird. „Wissensordnungen und Religionsdialoge“ lautet der Titel der Konferenz, die bereits die zweite in dieser Konstellation sein wird. Im Dezember 2022 ging es in Barcelona um die Rezeption rabbinischer Texte im Christentum.
Für Alexander Fidora ist der Aufenthalt in Frankfurt eine Rückkehr nicht nur zu seinen akademischen, sondern auch zu seinen familiären Wurzeln. Er ist in Neu-Isenburg aufgewachsen, wo heute noch seine Eltern leben. So hat der Forschungspreis nicht nur religions-, sondern auch generationenübergreifende Effekte, nämlich in der intensiven Begegnung der beiden Kinder (fünf und acht Jahre) mit den hessischen Großeltern.