Ein Gespräch mit der Islamwissenschaftlerin Armina Omerika und dem Judaisten und evangelischen Theologen Christian Wiese über den Widerhall des Gaza-Konflikts an der Goethe-Universität.
UniReport: Wie erleben Sie die Situation auf dem Campus nach den Terrorangriffen des 7. Oktober und im Zuge des laufenden israelischen Einsatzes in Gaza? Welche Reaktionen bekommen Sie von den Studierenden Ihrer Fächer mit?
Armina Omerika (A.O.): Ich registriere erstmal eine Fülle von Emotionen, in erster Linie Betroffenheit, Schmerz und Angst. Und das nicht nur von muslimischen Studierenden, sondern allgemein. Ich begegne Menschen, die Angehörige in Gaza, im Westjordanland, auch im Herzland Israels haben. Einige haben Bekannte und Verwandte verloren. Bei vielen Studierenden mit einer Migrationsbiografie stehen familiär oder persönlich Kriegs- oder Fluchterfahrungen im Hintergrund. Diese Sachen kommen nun hoch, die tagtäglichen Bilder des Krieges lösen Traumata aus. Das sind alles Geschichten, die verarbeitet werden müssen, und ich bin mir nicht sicher, ob das im Moment adäquat und mit der nötigen Unterstützung geschieht. Für muslimische Studierende kommt speziell die Sorge hinzu, dass ein gesellschaftlich tief verwurzelter Antisemitismus nun als hauptsächlich migrantisches Problem umdefiniert und auf sie „ausgeladen“ wird, und dass sie dadurch noch weiter marginalisiert werden.
Ich beobachte nicht nur unter Studierenden und Kolleg*innen eine große Angst vor dem allgemeinen Rechtsruck der Gesellschaft und die Sorge, dass sich im Schatten dieses Konfliktes eine immer restriktivere Migrations- und Integrationspolitik in Deutschland entwickelt. Gleichzeitig ist die Sorge groß, dass radikale islamistische Bewegungen die aktuelle Situation für sich nutzen und Zulauf bekommen könnten. Die Lage ist auf vielen Ebenen sehr belastend, und eine meiner Sorgen gilt daher auch der psychischen Gesundheit, insbesondere von jungen Menschen, die schon in der Pandemie gelitten hat und nun wieder stark betroffen ist.
Zugleich erfahre ich im privaten Umfeld von jüdischen Freund*innen, dass sie grundsätzlich die gleichen starken Gefühle von Betroffenheit, Schmerz und Angst haben, Angst vor antisemitischen Anfeindungen und allgemein vor dem Erstarken des Antisemitismus. Was diese Erfahrungen alle verbindet, ist das Gefühl, von der Gesellschaft alleingelassen zu werden. Aber auch wenn es hier eine Parallele zwischen den unterschiedlichen Gruppen gibt, habe ich im Moment den Eindruck, dass wenig Austausch stattfindet.
Christian Wiese (C.W.): Unter meinen – jüdischen wie nichtjüdischen – Studierenden, Promovierenden und Mitarbeitenden, von denen viele unmittelbare Beziehungen zu Israel haben, herrschte in den ersten Tagen nach den Terrorangriffen ein starkes Gefühl von Trauer, Schmerz und Ohnmacht. Gespräche mit jüdischen Studierenden zeugen von großer Irritation, auch darüber, wie unterschiedlich die Universitäten auf die zunehmenden antisemitischen Stimmen und Vorfälle in unserer Gesellschaft reagieren. Als Vertrauensdozent des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks höre ich das auch von Studierenden aus anderen Städten. Trotz positiver Erfahrungen, die es auch gibt, überwiegt das Gefühl, dass viele Menschen und auch Institutionen sprachlos sind und es an Solidarität mangeln lassen.
Dennoch wird auch stark differenziert. Statt gängiger Zuschreibungen, denen zufolge Antisemitismus vor allem vom Islam ausgeht, begegnet mir in Gesprächen mit jüdischen Studierenden ein klares Bewusstsein dafür, dass es sehr unterschiedliche Formen von Antisemitismus – vor allem in rechten Milieus, aber auch in der Mitte der Gesellschaft – gibt und dass die Diskussion über den Antisemitismus in Debatten über Migration nicht instrumentalisiert werden darf. Zugleich kommt das Bedürfnis nach einem verstärkten Dialog mit muslimischen Studierenden zur Sprache.
Was geschieht in den Fächern und Fachbereichen, um das Thema, aber auch die aktuelle Situation der Studierenden hier vor Ort aufzugreifen? Was für Bedarfe nehmen Sie wahr?
A.O.: Bei uns im Fachbereich haben wir Gespräche im geschützten Raum angeboten; große Events zum Thema haben wir noch nicht organisiert. Es ist tatsächlich auch so, dass ich in Lehrveranstaltungen nicht darauf angesprochen werde. Ich kann noch nicht beurteilen, was der Grund ist. Ich vermute aber, dass es eine allgemeine Sprachlosigkeit ist, die in der Angst mündet, etwas „Falsches“ zu sagen, wofür man in jedem Fall angegriffen wird.
C.W.: Auch in meinen Lehrveranstaltungen wurde das Thema bisher nicht aktiv von den Studierenden angesprochen. Es ist aber nicht erst jetzt spürbar, dass viele sich wünschen, Wissenslücken über die historischen und politischen Hintergründe des Konfliktes zu füllen.
A.O.: Das kann ich bestätigen: Fundiertes Wissen über die historischen Hintergründe fehlt. Oft ist das Wissen selektiv und auf das beschränkt, was die eigene gegenwärtige Sichtweise stützt. Hier gibt es großen Handlungsbedarf, der allerdings nicht erst an den Universitäten anfängt.
C.W.: Wir wollen deshalb noch systematischer als bisher Kurse zur Geschichte des Judentums, des Zionismus und des Staates Israel anbieten. Auch unsere Veranstaltungen im Bereich antisemitismuskritischer Bildungsarbeit gilt es, zu intensivieren.
Wie wirkt sich die Lage auf Ihre Situation als Forschende aus?
C.W.: Vordinglich war für mich die Frage, wie die gemeinsame Forschung mit israelischen Kooperationspartnern überhaupt praktisch weitergehen kann. Die Universitäten in Israel sind nicht nur damit befasst, die Geschehnisse zu verarbeiten. Sie müssen auch damit umgehen, dass viele ihrer Studierenden eingezogen wurden. Die Gespräche mit den israelischen Partnern sind aber nicht abgebrochen, im Gegenteil. Das im vergangenen Dezember gemeinsam mit der Tel Aviv University gegründete deutsch-israelische Forschungszentrum im Bereich der Religionsforschung wird seine Aktivitäten noch intensivieren, auch wenn Veranstaltungen zunächst vor allem in Deutschland stattfinden müssen. Auch andere Kooperationen gewinnen gerade jetzt an Bedeutung – zum Beispiel mit einem interreligiösen Projekt an der University of Haifa. Hier bekomme ich sehr ermutigende Signale, dass die Kontakte zwischen den Religionsgemeinschaften in der multireligiösen Stadt nicht abreißen. Im Übrigen können schon die kleinen Dinge jenseits offizieller Verlautbarungen wertvoll sein, so das schlichte Zeichen, dass der Kontakt zu Kolleginnen und Kollegen in Israel gehalten wird.
Hier in Frankfurt fanden schon länger geplante Veranstaltungen statt, bei denen die aktuellen Entwicklungen unweigerlich thematisch präsent waren. Beunruhigend ist, dass wir jüngst eine Konferenz durch Sicherheitspersonal schützen lassen mussten, um die Sicherheit jüdischer und israelischer Referent*innen oder von Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde zu gewährleisten.
A.O.: Es ist für mich bedrückend, so etwas zu hören. Relativ rasch nach dem 7. Oktober gab es unter Kolleg*innen der Islamischen Studien einen Austausch; einer Erklärung der Professor*innen aus Frankfurt und Gießen haben sich mittlerweile sehr viele Fachvertreter*innen der Islamischen Theologie in Deutschland angeschlossen. Dabei wurde unter anderem die Notwendigkeit der Fortführung von religionsübergreifenden, auch jüdisch-muslimischen Kooperationen betont. Hier gibt es ja schon einiges, zum Beispiel in Tübingen, in Berlin, aber auch in Frankfurt, wo vor Kurzem die neue Professur für jüdisch-islamische Beziehung besetzt wurde – das ist ziemlich einzigartig in Deutschland.
C.W.: Mir ist sehr wichtig, dass solche Initiativen an der Goethe-Universität durch Forschungsverbünde wie die „Dynamiken des Religiösen“ oder das „Frankfurt-Tel Aviv Center“, das die vielfältigen Facetten interreligiöser Dynamiken zwischen Judentum, Christentum und Islam in Geschichte und Gegenwart erforscht, gestärkt werden.
Wie sehen Sie selbst die Chancen und Aufgaben der Universität, insbesondere der geisteswissenschaftlichen Fächer, was interreligiöse Vermittlungsarbeit angeht? Was für Erwartungen werden Ihnen von städtischen Partnern gespiegelt?
C.W.: Ich bin gerade jetzt dankbar dafür, dass es in Frankfurt eine lange Tradition der Zusammenarbeit zwischen den Religionswissenschaften, der Judaistik, den christlichen Theologien und den Islamischen Studien gibt – und zwar in Forschung und Lehre. Das wird auf keinen Fall abbrechen und gibt ein klares Signal an unsere Gesellschaft.
A.O.: Unbedingt! Abgesehen von konkreten Projekten, kennen wir uns auch über den institutionellen Alltag und die Zusammenarbeit, etwa in der Lehre, und das geht weiter. Bei einigen Themen bin ich nicht unbedingt zuversichtlich, dass zum jetzigen Zeitpunkt gemeinsame Seminare besonders produktiv laufen würden. Doch mittelfristig sehe ich es als notwendig, gemeinsame Angebote zu machen, sodass tatsächlich auch eine Multiperspektivität zur Sprache kommt.
C.W.: Wenn ein Ort für eine solche Multiperspektivität geeignet ist, dann müsste es die Universität sein. Sie ist gefordert, den Raum zu bieten, an dem unterschiedliche Perspektiven und Narrative in wechselseitiger Achtung diskutiert werden können.
Auch unsere städtischen Partner, etwa die jüdischen, evangelischen und katholischen Akademien, erhoffen sich von der Universität, dass sie differenziert mit der gegenwärtigen Situation umgeht, auf die Leiden beider Seiten schaut und zum Verständnis der Konfliktursachen beiträgt. Noch einmal auf einer anderen Ebene bewegen sich die Erwartungen der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, die ein wichtiger Partner nicht allein unseres Projekts „Synagogengedenkbuch Hessen“, sondern der Universität insgesamt ist. Im Grußwort des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde anlässlich unserer Konferenz kam klar das Gefühl zum Ausdruck, alleinegelassen zu werden. Die Erwartung, die hier an die Universität herangetragen wird, ist deutlich: Sie muss ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden – durch Forschung und Lehre, aber auch durch öffentliche Positionierungen.
Das Gespräch führte Louise Zbiranski.