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»Wir können nicht einfach Schulen schließen, um den Rest der Bevölkerung zu schützen«

Interview mit der Rechtswissenschaftlerin Prof. Andrea Kießling zum Entwurf eines Epidemiegesetzes

Andrea Kießling, Jahrgang 1981, ist seit 1. Mai 2022 Professorin an der Goethe-Universität. Sie hat in Münster Rechtswissenschaft studiert und wurde 2021 an der Universität Bochum mit einer Arbeit zum »Recht der öffentlichen Gesundheit« habilitiert. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen neben dem Gesundheitsrecht im Sozial-, Migrations- und Polizeirecht.

Es gab viel Kritik an der Vorgehensweise des Gesetzgebers während der Coronazeit. Um für künftige Epidemien besser vorbereitet zu sein, hat die Frankfurter Rechtswissenschaftlerin Prof. Andrea Kießling gemeinsam mit Dr. Anna-Lena Hollo (Hannover) und Johannes Gallon (Flensburg) einen Entwurf für ein Epidemiegesetz vorgelegt – als Diskussionsgrundlage für Rechtswissenschaft und Politik.

UniReport: Frau Prof. Kießling, Sie haben mit zwei Kollegen ein Epidemiegesetz erarbeitet. Wie kommt man denn auf die Idee?

Andrea Kießling: Wir wollten einen konstruktiven Vorschlag machen, wie man den Infektionsschutz regeln kann. Man sollte nicht immer nur die Politik kritisieren: Was Ihr da macht, ist schlecht und unausgegoren.

Kommt das öfter vor, dass aus der Rechtswissenschaft heraus ganze Gesetze erarbeitet werden?

Hin und wieder kommt das vor, etwa bei ethischen Fragestellungen wie Fortpflanzungsmedizin oder Sterbehilfe. Fragen, bei denen im Bundestag schnell der Fraktionszwang aufgehoben wird. Leider hat sich die Politik bislang nicht so sehr für diese Entwürfe interessiert.

Haben Sie sich früher mit dem Infektionsschutzgesetz befasst?

Meine Habilitationsschrift befasst sich mit dem „Recht der öffentlichen Gesundheit“, da kam das Thema Infektionsschutz am Rande vor. Bis zur Fertigstellung der Arbeit hatte sich die Situation dann sehr verändert, Corona war auf dem Höhepunkt, da habe ich diesen Aspekt nochmal verstärkt.

Und so wurden Sie zur Expertin in Sachen Infektionsschutzgesetz?

Die Rechtswissenschaft hat ja meist die großen verfassungsrechtlichen Fragen in den Blick genommen: Wie werden Freiheit und Gesundheit gegeneinander abgewogen – was ist verhältnismäßig? Mich hat aber auch dieses Klein-Klein interessiert: Was steht im Infektionsschutzgesetz? Wie könnte man das besser regeln?

Das Gesetz wurde ja mehrfach geändert und angepasst.

Ja, und im Zuge dieser Verfahren war ich als Sachverständige geladen.

Konnten Sie Ihre Expertise einbringen?

Einbringen ja, aber oft wurde konstruktive Kritik wegen politisch erforderlicher Kompromisse ignoriert.

Was ist Ihr Hauptkritikpunkt am bestehenden Gesetz?

Das Infektionsschutzgesetz gibt es ja schon lange, es enthält mehr als 70 Vorschriften. Im November 2020 wurde punktuell eine Vorschrift eingefügt für all die Maßnahmen wie Schulschließungen, Maskenpflichten, Ausgangsbeschränkungen, Kontaktbeschränkungen, Betriebsschließungen – all das in einem einzigen Paragraphen.

Was ist daran problematisch?

Man hat keine konkreten Bedingungen formuliert. Der Bundestag musste nur die epidemische Lage von nationaler Tragweite feststellen, dann konnten die Länder diese Maßnahmen ergreifen. Weitere Voraussetzungen stehen nicht in der Vorschrift, zum Beispiel, dass Schulschließungen das letzte Mittel sein sollten; es gibt kaum eine Hierarchisierung. Schulschließungen sind in der Vorschrift auf derselben Stufe wie die Maskenpflicht.

War das Infektionsschutzgesetz vor Corona schon mal besonders relevant?

Die Meldepflichten sind permanent wichtig. Das läuft bei der Bevölkerung eher unter dem Radar und beschäftigt selten die Gerichte. Es gab Masernausbrüche zum Beispiel an Schulen, da hat man Schulbetretungsverbote für Ungeimpfte erlassen. Dazu gab es um 2010 herum tatsächlich drei Gerichtsurteile. Und in den 1980er Jahren hat man diskutiert, ob das Vorgängergesetz des Infektionsschutzgesetzes, das Bundesseuchengesetz, Rechtsgrundlagen für die Eindämmung von AIDS enthält. Zurecht wurde diskutiert, ob es richtig ist, bei einem sexuell übertragbaren Erreger auf Verbote zu setzen. Letztlich hat man entschieden, dass Aufklärung der bessere Weg ist.

Masern, Tuberkulose, Cholera, Diphterie oder eben Corona, jede Epidemie ist anders hinsichtlich der Ansteckungswege, der Ausbreitungsgeschwindigkeit und so weiter. Wird Ihr Entwurf dem gerecht?

Wir meinen: ja. Um auf zukünftige Epidemien vorbereitet zu sein, brauchen wir ein Gesetz, das für alle Erreger gilt. Es gibt andere Übertragungswege als bei Corona, zum Beispiel Schmierinfektionen. Ein Begriff wie „Maskenpflicht“ war uns deswegen zu speziell, wir haben das „Schutzkleidungspflicht“ genannt. Das können auch Handschuhe sein. Je mehr man von einem Erreger abstrahiert, desto allgemeiner wird es auch bei den Maßnahmen. Da sollte man den Behörden vertrauen, dass sie in einer konkreten Epidemie zum Beispiel die Schutzkleidung wählen, die zum Erreger passt. Ansonsten wären es ja keine „geeigneten Maßnahmen“.

Wie eng mussten Sie mit Medizinern arbeiten?

Wir haben vor allem Fachliteratur hinzugezogen. Die Feinsteuerung, bei der man die Mediziner einbeziehen muss, erfolgt erst, wenn wirklich eine Epidemie stattfindet und man konkrete Maßnahmen auswählt.

Während der Coronapandemie herrschte ja ein großer Druck auf das Gesetzgebungsverfahren. Würden Sie sagen, das Infektionsschutzgesetz ist mit besonders heißer Nadel gestrickt?

Im März 2020 gab es nur die Generalklausel. Die Rechtswissenschaft hat ab März 2020 gesagt, die Landesregierungen können nicht einfach all die Maßnahmen auf die Generalklausel stützen – jedenfalls nicht dauerhaft. Im November 2020 wurde dann kurzfristig dieser eine neue Paragraph geschaffen, später kam ein zweiter hinzu. Wirklich Zeit hat man sich nicht genommen, das differenziert zu regeln – auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt. Das haben wir in unserem Entwurf anders zu machen versucht, ausdifferenzierter. Wir haben Begriffsbestimmungen vorgenommen. Und wir haben die zulässigen Maßnahmen nach Lebensbereichen gestaffelt. Schulen sind anders als Kitas, Pflegeheime, Krankenhäuser, Geschäfte, das sind alles unterschiedliche Bereiche, bei denen unterschiedliche Interessen berührt werden.

Wenn man an den Beginn der Pandemie denkt, fallen einem immer auch die Flatterbänder um Spielplätze und Parkbänke ein. War das rechtens und vom Gesetz abgedeckt?

Da musste man schon nach der Geeignetheit fragen – wer wurde dadurch geschützt? Davon werden wir noch unseren Enkeln erzählen: Damals durfte man sich nicht einmal auf die Bank setzen.

Das gilt auch für die abendlichen Ausgangssperren?

Ich habe nie verstanden, was am Virus abends gefährlicher ist als tagsüber. Ausgangsbeschränkungen kommen in unserem Entwurf deswegen nicht vor. Sollte ein Erreger kommen, der so schlimm ist, dass diese Maßnahme notwendig wird, dann müsste der Gesetzgeber das Gesetz noch mal ändern. Dasselbe gilt für Impfpflichten. Diese Dinge sollten nicht vorab im Gesetz stehen, weil es sich um weitreichende Einschnitte handelt, deren Notwendigkeit nicht zuletzt vom Erreger abhängt.

Sie haben jetzt auch öfter mit Querdenkern zu tun?

Die Veröffentlichung unseres Entwurfs haben wir über Twitter kommuniziert. Open Access ist für die wissenschaftliche Debatte ein Segen, heißt aber auch, dass jeder in den Entwurf reinklicken kann, egal ob er die Dinge einordnen kann oder nicht. Manche lesen nur von „drohender Epidemie“ und denken, schon beim Verdacht einer neuen Epidemie kommt der totale Lockdown. Obwohl nichts davon in unserem Entwurf steht, bekam ich E-Mails, in denen ich beschimpft wurde.

Würden Sie sagen, Ihr Entwurf ist geeignet, dass er die Grund- und Freiheitsrechte möglichst erhält?

Freiheit geht ja immer in zwei Richtungen: Einerseits haben Bürger ein Recht darauf, dass man sie mit unverhältnismäßigen Freiheitsbeschränkungen in Ruhe lässt. Andererseits können Maßnahmen, die vielleicht manche Leute einschränken, für andere einen Gewinn an Freiheit bedeuten. Die Maskenpflicht bedeutete für Leute, die zu einer Risikogruppe gehören, die einzige Möglichkeit, sich unter Menschen zu begeben. Unser Entwurf versucht nun, die notwendigen Abwägungen, die die Landesregierungen in einer Epidemie vornehmen müssen, vorzustrukturieren. Wir sehen Schulschließungen etwa in einer mittelschweren Epidemie nur dann vor, wenn man die Kinder selbst schützen muss, zum Beispiel bei einem Erreger, der vor allem sie befällt. Man dürfte nicht die Schulen schließen, um den Rest der Bevölkerung zu schützen. Vorher müsste man zum Beispiel Betriebe schließen, alle im Büro müssten die Maske aufsetzen. Auch für Pflegeund Flüchtlingsheime und Gefängnisse, wo Menschen nicht oder nicht ganz freiwillig leben, müssen besondere Regeln gelten.

Haben Sie auch die Interessen von Sterbenden und Angehörigen speziell berücksichtigt?

Ja. In solchen Grenzsituationen muss es Ausnahmen geben, auch für Schwangere und Gebärende. Vielleicht muss die Begleitperson Maßnahmen dulden, aber die Betroffenen nicht.

Wie optimistisch sind Sie, dass Ihr Entwurf Einfluss auf die Gesetzgebung haben wird?

Das wäre natürlich schön. Aber ob man das Thema in dieser Legislaturperiode noch angehen wird? Am 7. April sind alle Regelungen ausgelaufen, es gilt wieder nur die Generalklausel. So eine Klausel ist dafür da, bei nur milden Eingriffen oder unvorhergesehenen Entwicklungen zur Anwendung zu kommen. Wenn in drei Jahren SARS-CoV-3 auftritt oder irgendein anderer Erreger, kann der Gesetzgeber nicht sagen „wir wussten nicht, dass es solche Erreger geben kann und dass wir nun Maskenpflichten und Kontaktbeschränkungen brauchen“. Der Gesetzgeber ist jetzt „bösgläubig“: Er weiß, was passieren kann, deshalb wird man auf die Generalklausel nicht mehr zurückgreifen dürfen.

Was würde passieren, wenn eine Corona-ähnliche Pandemie ausbrechen würde?

Dann müsste ganz schnell das Gesetz geändert werden. Dann ist es wieder ein Schnellschuss. Es sei denn, man nimmt unseren Entwurf (lacht). Wir erwarten nicht, dass er 1:1 umgesetzt wird. Er ist als Anregung gedacht. Wir hoffen, dass die Rechtswissenschaft ihn diskutieren wird, und dass auch die Politik ihn sich ansieht. Selbst wenn sie ihn in dieser Form nicht umsetzt, nimmt sie vielleicht wenigstens ein paar Ideen daraus.

Fragen: Anke Sauter

Johannes Gallon / Anna-Lena Hollo / Andrea Kießling
Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung der Rechtsgrundlagen der Epidemiebekämpfung
Baden-Baden: Nomos Verlag 2023
doi.org/10.5771/9783748913467 (Open Access)

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