Wissenschaftliche Expertise in den Fächern Physik und Geowissenschaften

Die Wilhelm-Heraeus-Stiftungsgastprofessur an der Goethe-Universität

Die Goethe-Universität vergibt seit 2015 den Titel Wilhelm-Heraeus-Stiftungsgastprofessur an eine*n Wissenschaftler*in mit internationalem Renommee auf dem Gebiet der Physik und interdisziplinären Grenzgebieten. Gefördert wird die Professur aus Mitteln der 1963 gegründeten Wilhelm und Else Heraeus-Stiftung, die Forschung und Ausbildung in den Naturwissenschaften fördert. Der Preis wird für das bisherige Gesamtwerk von Wissenschaftlern vergeben, deren grundlegende Entdeckungen, Erkenntnisse oder neue Theorien ihre eigene wissenschaftliche Disziplin nachhaltig geprägt haben und von denen zu erwarten ist, dass sie ihre herausragenden Leistungen in der Zukunft fortsetzen werden.

Das Physik-Gebäude am Campus Riedberg.

Vorgeschlagen werden können Wissenschaftler*innen aus dem In- und Ausland. Die Preisträgerin oder der Preisträger wird eingeladen, in Kooperation mit dem Frankfurter Fachbereich für mindestens sechs Wochen zu einem Thema ihrer Wahl zu forschen und zu lehren. Zwei aktuelle Wilhelm-Heraeus-Stiftungsgastprofessoren sollen exemplarisch im Folgenden vorgestellt werden: der Physiker Gunther M. Roland und der Geologe Philippe Yamato.

Die großen Experimente der Teilchenphysik

Spektakuläre wissenschaftliche Entdeckungen der jüngsten Vergangenheit nachzuvollziehen, indem man die originalen Messdaten analysiert, ist im Allgemeinen nicht das Thema einer Übung, die eine regelmäßig angebotene Vorlesung begleitet – dank Gunther M. Roland, Heraeus-Gastprofessor des Jahres 2023, können Physik-Studierende der Goethe-Universität jetzt diese Erfahrung machen: Harald Appelshäuser, in dessen Gruppe Roland im Sommersemester zu Gast sein wird, liest „Kern- und Teilchenphysik 4f: Das Higgs-Boson“. Darin macht er die Hörerinnen und Hörer mit der Physik des „Gottesteilchens“ vertraut, und Roland – der seinerzeit an dessen Entdeckung beteiligt war – wird die Studierenden dabei betreuen, wenn sie die inzwischen vom europäischen Kernforschungszentrum Cern veröffentlichten Messdaten analysieren und den Prozess seiner Entdeckung im Detail nachzeichnen.

Als Physik-Professor am Massachusetts Institute of Technology (Boston, USA) gehört Roland der Gruppe an, die sich mit Schwerionen bei extrem hohen, also relativistischen Energien beschäftigt; er erforscht die Eigenschaften, die dann typisch für stark miteinander wechselwirkende Atomkerne und Elementarteilchen sind. Weil „relativistisch“ bedeutet, dass sich die beteiligten Teilchen nahezu mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, müssen die entsprechenden Experimente an äußerst leistungsfähigen Teilchenbeschleunigern stattfinden, so etwa am Relativistic Heavy Ion Collider (RHIC) des Brookhaven National Laboratory (Long Island, USA), am Large Hadron Collider (LHC) des Cern (Genf, Schweiz) oder am GSI Helmholzzentrum in Darmstadt.

Zustand wie nach dem Urknall

Wenn Schwerionen (typischerweise: Kupfer-, Gold- oder Blei-Ionen) fast auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden und dann aufeinanderprallen, wirkt so unvorstellbar viel Energie auf sie ein, dass nicht einfach die „klassischen“ Elementarteilchen, Protonen und Neutronen, übrig bleiben, sondern dass diese ihrerseits in die Bestandteile Quarks und Gluonen zertrümmert werden. Für Sekundenbruchteile liegen sie dann in einem neuen Materie-Zustand vor – sie bilden ein „Quark-Gluon-Plasma“, so wie es Sekundenbruchteile nach dem Urknall existiert hat. Roland interessiert sich einerseits für die Eigenschaften des Quark-Gluon-Plasmas, für sein Verhalten in ganz bestimmten Situationen, ist aber andererseits auch damit befasst, große Experimente der Teilchenphysik zu konzipieren, aufzubauen und durchzuführen: so etwa das CMS-Experiment am Cern und das sPHENIX-Experiment am Brookhaven National Lab, dessen erste Messperiode im Mai 2023 beginnt.

„Technologisch gibt es eine relativ große Überlappung zwischen sPHENIX und dem ALICE-Experiment am Cern, an dem ja mein Gastgeber an der Goethe-Universität, Harald Appelshäuser, beteiligt ist“, erläutert Roland, „viele Verfahren, die bei ALICE entwickelt wurden, kommen jetzt auch bei sPHENIX zum Einsatz. Davon werden wir profitieren.“ Umgekehrt werde auch das ALICE-Experiment von den Erfahrungen bei sPHENIX profitieren, wenn nach der Auswechslung zentraler Komponenten seine nächste Messphase im September 2023 beginnt. „Der verstärkte Austausch mit der Gruppe Appelshäuser, den mir die Heraeus-Gastprofessur ermöglicht, ist also nicht nur für meine Forschung ausgesprochen nützlich“, kommentiert Roland, „sondern er kommt beiden Seiten zugute.“ Wichtige Impulse für seine Forschung erwartet er auch von der Zusammenarbeit mit Frankfurter Theoretikern, insbesondere mit der Arbeitsgruppe der Schwerionenund Elementarteilchen-Physikerin Hannah Elfner am FIAS: Elfner arbeitet an einem wichtigen Modell, das beschreibt, in welche Teilchen sich ein Quark-Gluon-Plasma nach der Kollision der Schwerionen entwickelt; Roland und sie nutzen ausgefeilte statistische Methoden, um Modelle und Theorien zum Quark-Gluon-Plasma mit den experimentellen Befunden zu vergleichen.

Nicht nur Roland, nicht nur 2023

Der verstärkte Austausch im Rahmen der Heraeus-Gastprofessur wird allerdings nicht auf Roland selbst beschränkt bleiben. Seine Studierenden sowie seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen die Möglichkeit erhalten, nach Deutschland zu kommen, um sich nicht nur mit der Gruppe Appelshäuser, sondern auch mit der ALICE-Gruppe des GSI Helmholtzzentrums in Darmstadt auszutauschen. Und der Kontakt soll auch nicht mit dem Ablauf des Jahres 2023 enden, sondern ist auf mehrere Jahre angelegt: Nachdem es zunächst darum geht, mit den verschiedenen Experimenten Messdaten zu erzeugen und aufzuzeichnen, soll anschließend die Diskussion über die nachgewiesenen und untersuchten physikalischen Phänomene folgen.

Für Gunther Roland schließt sich damit ein Kreis: Nicht nur, weil er in der Vergangenheit schon jedes Jahr mehrmals zu Stippvisiten in Frankfurt war, um mit seinen Kolleginnen und Kollegen um Harald Appelshäuser gemeinsame Projekte zu erörtern, sondern weil er auch an der Goethe-Universität studiert und 1993 schließlich promoviert hat. Deshalb kommentiert er: „Ein bisschen fühle ich mich jetzt, als ob ich nach Hause käme.“

Erforschen, wie die Gesteine entstehen

Der französische Geologe Philippe Yamato befasst sich in seiner Forschung damit, wie die Erde ihre heutige Gestalt bekommen hat – zu Hause, an der Universität der westfranzösischen Stadt Rennes, seit Ende 2022 und bis Ende 2023. Aber auch als Heraeus-Gastprofessor an der Goethe-Universität. Yamato geht es um die Lithosphäre, die Gesteinshülle der Erde, und um die Entstehung von Gesteinen, die vor zig Millionen Jahren im Inneren der Erde gebildet worden sind, bei einer Temperatur von 600 Grad Celsius und einem Druck von rund 2,5 Gigapascal = 2,5 · 109 Pascal (nur zum Vergleich: Am tiefsten Punkt des Weltmeeres, am Boden des Marianengrabens in 11 000 Metern Wassertiefe, herrscht ein Druck von rund 1100 bar, das entspricht gerade einmal 0,11 Gigapascal). Und Yamato interessiert sich nicht nur für die Entstehung der Gesteine, sondern auch dafür, wie sich ihre Struktur verändert, wenn sie dann tief ins Erdinnere abtauchen und was passiert, wenn sie schließlich wieder zurück an die Erdoberfläche gelangen.

„Dabei kann sich das Aussehen eines Gesteinsbrockens drastisch verändern“, erläutert Yamato, „das können Sie sich so vorstellen, wie wenn Sie eine mit Kuchenteig gefüllte Backform in den Ofen stellen.“ Dadurch änderten sich für den Teig die Umgebungsbedingungen und folglich auch seine Konsistenz und sein Aussehen, sagt er, genauso wie für einen Gesteinsbrocken, der – zum Beispiel in einer „Subduktionszone“, an der Grenze einer tektonischen Platte – tiefer ins Innere der Erde gedrückt werde und dementsprechend von einem höheren Druck und höherer Temperatur umgeben sei. „Dabei interessiert es mich nicht nur, einen Gesteinsbrocken nach der Transformation mit seiner ursprünglichen Gestalt zu vergleichen“, sagt Yamato, „sondern ich möchte erfahren, wie diese Transformation genau vor sich geht.“ Gewissermaßen wolle er also nicht nur wissen, wie der fertige Kuchen aussieht, fügt er hinzu, „sondern ich möchte gewissermaßen durch die Backofentür schauen und beobachten, wie der Kuchen aufgeht und wie sich seine Oberfläche allmählich in eine knusprige, goldbraune Kruste verwandelt.“

Feldforschung und Simulationen

Seinem Ziel nähert sich Yamato auf verschiedenen Wegen: Er begibt sich „ins Feld“ – auf Exkursionen, zu den norwegischen Kaledoniden ebenso wie in die französischen Alpen. Dort untersucht er das Aussehen und die innere Struktur der Gesteine, sammelt Gesteinsproben, die er nach seiner Heimkehr analysiert, sei es mit dem normalen Lichtmikroskop, sei es mit dem Rasterelektronenmikroskop, sei es mithilfe des Elektronenstrahlmikrosonden-Verfahrens.

Zugleich will Yamato anhand mathematischer Gleichungen beschreiben, wie sich geänderte Umgebungsbedingungen – insbesondere: andere Druck- und Temperaturverhältnisse – auf Struktur und Zusammensetzung der Gesteine auswirken. Auf der Basis der Gleichungen schreibt Yamato dann Simulationsprogramme, welche die Eigenschaften und das Verhalten der Gesteinsproben möglichst exakt wiedergeben sollen, „denn das zeigt uns, dass wir korrekt erfassen, was in den Gesteinen vor sich geht“, fügt Yamato noch hinzu.

Er genießt es, dass er als Gastprofessor der Wilhelm und Else Heraeus-Stiftung mehrmals ausgedehnte Arbeitsbesuche in der Gruppe seines Gastgebers, des Geologen Thibault Duretz, verbringen kann: „Hier kann ich mich ganz auf die gemeinsamen Forschungsprojekte mit Thibault Duretz konzentrieren, ohne dass ich Lehrveranstaltungen halten und administrative Aufgaben erledigen muss“, sagt Yamato, „außerdem habe ich als Gastprofessor die Mittel, Mitglieder meiner Gruppe hierher an die Goethe-Universität mitzubringen – für meine Studierenden und Promovierenden ist das eine wunderbare Gelegenheit, wissenschaftliche Kontakte zu knüpfen.“

Kontaktpflege und Kursprogramm

Auch er selbst will wissenschaftliche Kontakte ausbauen und pflegen: Sowohl in Frankfurt, beispielsweise mit den Gruppen für Geochemie und für Seismologie, als auch mit einer Mineralogin aus Heidelberg. Zudem plant er, im Sommer eine Exkursion nach Norwegen mit den Mitgliedern der Arbeitsgruppe von Thibault Duretz zu unternehmen, nicht nur um Gelände zu kartieren und Gesteinsproben zu sammeln, sondern auch, um direkt vor Ort über wissenschaftliche Fragestellungen zu diskutieren. Und auch wenn er es genießt, sich während der Wochen, die er im Geozentrum auf dem Riedberg-Campus verbringt, vor allem der Forschung zu widmen: Ganz ohne universitäre Lehre ist die Zeit als Heraeus-Gastprofessor für Philippe Yamato bislang nicht vergangen: Zusammen mit Thibault Duretz hat er soeben in den Semesterferien einen viertägigen Block-Kurs gegeben, in dem Bachelor- und Masterstudierende sowie Promovierende etwas darüber erfahren haben, wie sie die Transformation von Gesteinen durch Gleichungen erfassen und in Computermodellen simulieren können. Backen für Fortgeschrittene sozusagen.

Texte: Stefanie Hense

Wilhelm und Else Heraeus-Stiftungsgastprofessuren

2015
Prof. Anatoli Kheifets, Australian National University, Physik

2016
Prof’in Renata M. M. Wentzcovich, Columbia University, Geowissenschaften

2017
Prof. Dr. Michael Wiescher, University of Notre Dame, Physik

2018
Prof. Triantaphyllos Akylas, Massachusetts Institute of Technology, Geowissenschaften

2019
Dr. Igor I. Mazin, Center für Computational Materials Science Washington D.C., Physik

2020
Prof. Glenn A. Gaetani, Woods Hole Oceanographic Institution, Woods Hole, Geowissenschaften

2021
Dr. Christoph Geibel, MPI für Chemische Physik fester Stoffe Dresden, Physik

2022
Prof. Philippe Yamato, Université de Rennes, Rennes Cedex, Frankreich, Geowissenschaften

2023
Prof. Gunther Roland, MIT Cambridge, MA, USA, Physik

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