Ein Sinn für deutsche Wortspiele und Grundkenntnisse in griechischer Grammatik halfen beim Verständnis der Internationalen Jahreskonferenz des Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“, die Ende November auf dem Campus Westend stattfand. Der Abendvortrag zum Ausklang des ersten Tages war zwar, wie große Teile der Gesamtveranstaltung, englischsprachig.
Trotzdem trug er den deutschen Titel „Schuldfragen in der europäischen Schuldenkrise“, weil die Pointe der rechtlichen oder moralischen Schuld in Verbindung mit wirtschaftlichen Schulden im Englischen nicht funktioniert. Und „Demoicracy“, Schlüsselbegriff eines Tagungsbeitrags, heißt so viel wie Herrschaft der Völker und nicht, wie in der Singularform „Democracy“, Herrschaft des Volkes.
Zwei Tage lang ging es im Gebäude des Forschungsverbundes um „Europe’s Justice“, „Europas Gerechtigkeit“. Im Mittelpunkt standen die Eurokrise und die Verhandlungen mit Griechenland bis weit in das Jahr 2015. Prominenter Tagungsgast dieser mittlerweile achten Jahreskonferenz war Jürgen Habermas, der im Sommer die deutsche Haltung kritisiert hatte und Griechenland innerhalb der EU auf den Status eines Protektorats degradiert sah.
Dieser Auffassung seines Doktorvaters pflichtete Claus Offe in seinem Abendvortrag bei. Offe, der lange Jahre an der Humboldt-Universität lehrte, war Ende der 60er Jahre bei Habermas in Frankfurt promoviert worden. Was nun die Verbindung von Schuld und Schulden anbelangt, sprach Offe von einem „blame game“, einem Wechselspiel gegenseitiger Vorwürfe zwischen denjenigen, die von der Einführung des Euro profitiert hätten, und den Verlierern der Währungsunion.
Offe argumentierte, dass die Europäische Union den Euro eingeführt habe, ohne gleichzeitig für einen institutionellen Rahmen zu sorgen, der den dadurch hervorgerufenen und auch vorhersehbaren Verwerfungen entgegenwirke. Die Schuldfrage der Krise lasse sich daher nicht im Vokabular individualisierender Verantwortungszuschreibung beantworten. Offe plädierte für einen „Haircut“, einen Teilerlass der Schulden. Zudem sei die „Fixierung auf die schwarze Null“ womöglich für die sprichwörtliche schwäbische Hausfrau („Swabian Housewife“) angemessen, nicht aber für Staatshaushalte.
Früherer Chefökonom der Syriza-Partei über Austerität
Beide Aspekte, der teilweise Schuldenerlass oder zumindest ein Aufschub von Rückzahlungen und das Ende der Sparpolitik, verbunden mit dem Begriff der Austerität, standen auch im Zentrum des Beitrags von John Milios. Der Professor für Politische Ökonomie an der Nationalen Technischen Universität Athen war bis März 2015 Chefökonom der griechischen Syriza-Partei. Er bezeichnete Austerität als eine Klassenpolitik, die zur Rezession führe. Bei der Überwindung der Krise und für den Erhalt des Wohlfahrtsstaates müsse auch die Rolle der Europäischen Zentralbank (EZB) geändert werden.
Von eben jener EZB waren die Währungsexperten Francesco Mongelli, der an der Goethe-Universität als Honorarprofessor lehrt, und Jean-Francois Jamet zur Jahreskonferenz des Exzellenzclusters gekommen. Sie machten in ihrem Vortrag auch institutionelle Defizite für die Krisen der vergangenen Jahre verantwortlich. Die Architektur des gemeinsamen Währungssystems könne nur dann belastungsfähig sein, wenn Europa auch in anderen Bereichen zusammenwachse. Neben einer politischen und wirtschaftlichen Union müsse die EU zunehmend zu einer Finanz- und Steuerunion werden.
»Demoicracy«
Um die politische Verfasstheit der EU ging es auch in dem Beitrag von Kalypso Nicolaïdis, Professorin für Internationale Beziehungen an der Universität Oxford. Man könne Europa in zwei Modellen denken: als eine Art einheitlichen Staat, in dem die bisherigen Länder aufgehen, oder als Verbund von weiterhin souveränen Einzelstaaten. Im ersten Fall wäre die EU eine Demokratie, im zweiten Fall bestünde sie aus Demokratien.
Es gebe aber, so Nicolaïdis, noch einen dritten Weg – die EU als „Demoicracy“ („Demoikratie“), eine transnationale Union, in der die Idee der Demokratie mit der Existenz verschiedener Völker in Einklang gebracht wird, und die zugleich Chancen für Solidarität und Gerechtigkeit böte. Die zweitägige Jahreskonferenz umfasste vier Panels mit jeweils bis zu drei Einzelvorträgen. Hinzu kamen einleitende Statements der Panelmoderatoren.
Die Leitung des Auftaktpanels mit dem programmatischen Titel „Europe as a Context of Justice“ lag in den Händen des Philosophen Rainer Forst und des Rechtswissenschaftlers Klaus Günther, den Sprechern des Exzellenzclusters, die die Konferenz auch eröffnet hatten. Beide waren übrigens wissenschaftliche Mitarbeiter einer rechtstheoretischen Arbeitsgruppe unter der Leitung von Jürgen Habermas an der Goethe-Universität, und beide wurden auch bei Habermas promoviert.
Zu den Beitragenden der Jahreskonferenz aus den Reihen des Exzellenzclusters zählten darüber hinaus die Ethnologieprofessorin Susanne Schröter und die Geschäftsführerin Rebecca Caroline Schmidt, der Ökonomieprofessor Rainer Klump, die Professoren für Jurisprudenz Christoph Burchard und Stefan Kadelbach, der Politikprofessor Harald Müller und die Postdocs Lisa Herzog (Philosophie, Ökonomie), Kolja Möller (Politikwissenschaften), Dominik Müller (Ethnologie) und Kerstin Weiand (Geschichte).
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Detaillierte Informationen, Nachberichte, Fotos und Videomitschnitte gibt es auf:
www.normativeorders.net/jahreskonferenz
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