Der Wirtschaftstheoretiker Volker Caspari erinnert an den Nationalökonomen und Soziologen.
Am 19. Juni 1948, also einen Tag vor der Währungsreform, ließ Ludwig Erhard seinen Pressesprecher Kuno Ockhardt über den Rundfunk verkünden, dass ab dem nächsten Tag die Preisbindung und die Bewirtschaftung aufgehoben seien. General Lucius D. Clay, der Militärgouverneur der amerikanischen Zone, bestellte Erhard am nächsten Tag zu einer Unterredung und schimpfte, dass Erhard nicht einfach Besatzungsvorschriften abändern könne.
Erhard erwiderte, er habe sie nicht abgeändert, sondern abgeschafft. Bekannt ist nicht, was Lucius Clay darauf geantwortet hat. Wirtschaftshistorisch belegt ist dagegen, dass am Montag, den 21. Juni 1948, die für einige Jahre trostlos leeren Schaufenster der Geschäfte in Frankfurt/ M. gut gefüllt waren. Damit begann die Erfolgsgeschichte des bundesdeutschen „Wirtschaftswunders“, die erstmals 1969 durch eine kleine Rezession unterbrochen wurde.
Ludwig Erhard und sein akademischer Lehrer
Die insgesamt ausgesprochen erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit hat mehrere Ursachen, wovon eine nicht unwesentliche in der Schaffung einer Wirtschaftsordnung bestand, die als Soziale Marktwirtschaft bekannt wurde. Die sozioökonomischen Prinzipien dieser Wirtschaftsordnung wurden aus verschiedenen wirtschaftstheoretischen Strömungen beigesteuert.
Neben dem Ordoliberalismus der Freiburger Schule, zu der neben Walter Eucken vor allem der ab 1946 an der Goethe-Universität forschende und lehrende Wettbewerbsjurist Franz Böhm zählten waren auch wirtschaftstheoretische Arbeiten des von 1919 bis 1928 an der Wirtschaftsund Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Frankfurter Universität lehrenden Nationalökonomen und Soziologen Franz Oppenheimer von Bedeutung.
Franz Oppenheimer war nämlich der akademische Lehrer und Doktorvater von Ludwig Erhard. Oppenheimers Kernthese war, dass die niedrigen Reallöhne der Arbeiterschaft nicht, wie Marx argumentierte, der Mechanisierung und den Konzentrationsprozessen des Kapitals geschuldet waren, sondern durch die massenhafte Landflucht der Landarbeiter in die Städte verursacht wurden.
Die Landarbeiter fanden weder Land noch Arbeit, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, weil das Land, so Oppenheimer, durch wenige Großgrundbesitzer monopolisiert werde. Er nannte das die „Bodensperre“. Oppenheimer sah in diesem Bodenmonopol das Grundübel, das alle weiteren Probleme der kapitalistischen Entwicklung bedinge. Oppenheimer plädierte für eine genossenschaftliche Lösung dieser Probleme.
Hätte man ausreichend Siedlungsgenossenschaften, könnten die Arbeiter einerseits auf eigenem Grund und Boden ihre Lebensmittel anpflanzen und andererseits als Handwerker ihre handwerklichen Produkte und Dienste verkaufen. Auflösung von Monopolen und die Schaffung wettbewerblicher Rahmenbedingungen – auch im Bereich von Grund und Boden – waren seine Ordnungsidee.
Dabei fällt in seinen Aufsätzen gelegentlich die Vorstellung von einem „Dritten Weg“, also einem Weg, der weder im Kapitalismus noch im Kommunismus enden sollte. Diesen „Dritten Weg“ nannte er „Liberalen Sozialismus“. Man neigt heute schnell dazu, Sozialismus mit einem Wirtschaftsund Gesellschaftssystem zu assoziieren, das nach dem Zweiten Weltkrieg 45 Jahre lang der „sogenannte real existierende Sozialismus“ genannt wurde.
Planwirtschaft und die „Diktatur des Proletariats“ führten zu erheblichen Einschränkungen oder gar Wegfall der individuellen Freiheitsrechte sowie fehlende Rechtsstaatlichkeit. All diese Erfahrungen fehlten Franz Oppenheimer zunächst vollständig, denn er schrieb ja vor der Oktoberrevolution von 1917. Erst in einem seiner letzten Beiträge zu diesem Themenkomplex aus dem Jahr 1933 reflektiert er den Kommunismus sowjetischer Prägung und den sich entwickelnden Faschismus.
Sozialismus: freier Wettbewerb durch Abschaffung der Monopole
Doch bevor ich darauf eingehen werde, will ich Oppenheimers Konzeption des Sozialismus kurz skizzieren. Für Oppenheimer ist ein wesentliches Merkmal des Sozialismus die Abwesenheit von Ungleichheit, die durch soziale oder politische Macht hervorgerufen wird. Für die Wirtschaftsordnung bedeutet dies die Abwesenheit von durch Macht erzeugte Beschränkungen des Wettbewerbs. Positiv gewendet:
Er fordert die Herstellung des freien Wettbewerbs durch Bekämpfung, am besten Beseitigung, der Monopole einerseits und Abschaffung aller Wettbewerbsbeschränkungen andererseits. Oppenheimers Begriff des Sozialismus wurzelt in einer alten Tradition der sogenannten Naturrechtslehre eines Hugo Grotius oder Samuel von Pufendorfs. Die beiden Letztgenannten wurden im 18. Jahrhundert von katholischen Theologen schon als „Sozialisten“ bezeichnet (oder beschimpft).
Liberalismus und Sozialismus haben – so gesehen – gemeinsame Wurzeln in der Naturrechtslehre des 17. Jahrhunderts. Einfach ausgedrückt ist die Kernidee der Naturrechtslehre, dass es natürliche, unveräußerliche Rechte des Individuums gibt. Das grundlegendste ist das des Eigentums an der eigenen Person, aus dem dann die Freiheitsrechte gegen die Willkür des Staates und auch das Recht auf Privateigentum abgeleitet werden.
Beides sind konstitutive Merkmale des Liberalismus. Auch der Sozialismus nichtmarxistischer Provenienz will das Individuum vor Willkür geschützt wissen, wobei aber Willkür nicht allein beim Staat angesiedelt ist, sondern auch von anderen sozialen Gruppen ausgehen kann. Hinzu tritt der Solidargedanke, der im Liberalismus eine untergeordnete Rolle spielt.
Wo also können wir Oppenheimer verorten? Oppenheimer kritisierte alle sozialistischen Positionen, die im Wettbewerb ein Übel sahen. So schrieb er im Jahr 1918: „Er (der falsche Sozialismus) postuliert als Axiom eine marktlose Wirtschaft und versucht, sie zu konstruieren.“
Er verweist auf die Arbeit Walther Rathenaus, dessen Entwurf einer gelenkten Wirtschaft Oppenheimer als „durchdachtes System“ bezeichnet, es aber für „bare(n) und blanke(n) Utopismus“, hält, „den kein ernsthafter Staatsmann mitmachen kann“. Das ganze System sei … „ein Mechanismus von solcher gigantischen Größe“ und schwerfällig. „Er würde sehr wahrscheinlich mehr Kraft durch innere Reibung verbrauchen als er auf der anderen Seite ersparen könnte.“
Aushöhlung des Wettbewerbsrechts
Ludwig Erhard hat Oppenheimers Eintreten für den freien Wettbewerb vollkommen geteilt und übernommen. Er sagte, auf Oppenheimers „liberalen Sozialismus“ angesprochen, er habe nur Adjektiv und Substantiv vertauscht und da sei dann „sozialer Liberalismus“ oder Soziale Marktwirtschaft herausgekommen. Das von Erhard forcierte Wettbewerbsrecht, d. h. das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) ist auch aus diesem Oppenheimerschen Geist entstanden und war innerhalb der damaligen Regierung mehr als umstritten.
So lehnte Müller-Armack, Erhards Staatssekretär und einer, dessen Namen auch mit der Sozialen Marktwirtschaft in Verbindung gebracht wird, ein Kartellverbot ab und befürwortete eine Missbrauchsaufsicht, während Ludwig Erhard (sowie Eucken und Franz Böhm) ein Kartellverbot durchsetzen wollten. Der erste Entwurf des GWB war 1953 fertig, doch zogen nach der Bundestagswahl mit Franz Josef Strauß weitere Politiker in den Bundestag ein, die kartellartige Kooperationen und allerlei weitere Ausnahmen vom Kartellverbot zulassen wollten.
Das führte zu zahlreichen geänderten Entwürfen, bis dann erst 1958 das GWB vom Bundestag verabschiedet wurde. Die Fusionskontrolle war nicht mehr vorhanden, es wurden zahlreiche Ausnahmen und Ausnahmebereiche geschaffen, in denen das Wettbewerbsrecht nicht galt. Erhards Vorstellungen waren ziemlich durchlöchert worden.
Erst 1972 wurde dann die Fusionskontrolle ins GWB aufgenommen, um sie aber zugleich mit der Ministererlaubnis wieder zu entschärfen. Die Ministererlaubnis wurde bislang 22-mal angewendet, aber nur 9-mal erteilt. Zuletzt wurde sie im Tengelmann- Edeka-Fall erteilt, dann aber vom OLG Düsseldorf wieder kassiert. Ob sich die Grundideen der Sozialen Marktwirtschaft Deutschlands im Rahmen der europäischen Integration bewahren lassen, bleibt eine spannende Frage und abzuwarten.
Volker Caspari
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Volker Caspari ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der TU Darmstadt. Er hat an der Goethe-Universität Volkswirtschaftslehre studiert und war Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Prof. Bertram Schefold.
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Dieser Artikel ist in der Ausgabe 4.18 des UniReport erschienen. PDF-Download »