Der Eye-Tracker und die linguistische Forschung

Kurz vor dem Lockdown: Der erste Workshop mit dem neuen Eye-Tracker. (Foto: Sol Lago)

Die junge Professorin der Romanistik wirkt einsam in ihrem großen, fast leeren Büro im fünften Stock des IG-Farben-Gebäudes. Nichts geht in Corona-Zeiten für die Linguistin voran – in Forschung und Lehre ist Sol Lago angewiesen auf die unmittelbare Zusammenarbeit mit Probanden und Studierenden. »Ich wäre so froh, wenn wir endlich mit dem neuen Eye-Tracker loslegen könnten«, so die gebürtige Argentinierin, die vor Ideen sprudelt. Drei Sprachwissenschaftler vom Institut für romanische Sprachen, Prof. Dr. Esther Rinke, Prof. Dr. Jacopo Torregrossa und Prof. Dr. Sol Lago, haben jeweils 10 000 Euro in das transportable Gerät investiert. Die noch fehlende Summe von knapp 5 000 Euro hat die Freundesvereinigung beigesteuert.

Die Eye-Tracking-Methode hat inzwischen Einzug in die linguistische Forschung gehalten; bekannt ist sie seit Langem aus der Marktforschung. Mit dem Eye-Tracker können die Sprachforscher die Augenbewegungen der Probanden aufzeichnen und daraus Rückschlüsse auf die unbewussten kognitiven Prozesse der Sprachverarbeitung ziehen.

Die Juniorprofessorin, die an der staatlichen Universidad de Buenos Aires studierte, dann an der University of Maryland (USA) promovierte, kam im April 2020 vom Potsdam Research Institute for Multilingualism (PRIM) an die Goethe-Universität. Ihr geht es besonders darum zu untersuchen, wie bilinguale Erwachsene eine weitere Fremdsprache verarbeiten. Auf der Mikroebene lässt sich das durch die Blickbewegung messen, wenn die Probanden einen bestimmten Satz lesen oder hören. Ergänzt wird dies oft durch Bilder, die den Teilnehmern präsentiert werden, während sie einen Satz hören. Die vom Eye-Tracker erfassten Blickmuster geben Hinweise, wie die gesprochene Sprache in Echtzeit analysiert werden kann.

Linguistin und Multi-Sprachtalent: Prof. Dr. Sol Lago.
(Foto: Privat)

Die 36-jährige Argentinierin ist ein Multi-Sprachtalent: Zweisprachig in Buenos Aires aufgewachsen, ihre Mutter ist französischsprachige Belgierin, spricht Lago neben ihren Muttersprachen Spanisch und Französisch perfekt Englisch und fließend Deutsch – und von ihrem indischen Lebensgefährten, auch ein Linguist, lernt sie gerade noch Marathi. „Ich hatte immer Spaß daran, verschiedene Sprachen zu sprechen, aber in meiner linguistischen Forschung war Mehrsprachigkeit eigentlich kein Thema.“ Bis sie im Sommer 2014 in dem Potsdamer Institut der Spanierin Anna Stutter Garcia begegnete und sie gemeinsam die Idee entwickelten, mehrsprachige Menschen in ganz Deutschland zu testen. Mit Unterstützung der DFG konnte Lago ein entsprechendes Projekt und ihre eigene Stelle finanzieren. Darin geht es unter anderem darum, wie Native Speaker des Spanischen und Englischen eine zweite und dritte Sprache kognitiv verarbeiten.

Lago und Stutter Garcia – inzwischen „Senior Learner Experience Designer“ bei der Online-Sprachplattform Babbel – nutzten für ihre Forschung einen neuen Ansatz: „Wir haben uns nicht auf Lernende konzentriert, sondern auf Leute wie uns, die Spanisch oder Englisch als Muttersprache sprechen und schon länger in Deutschland leben“, erläutert Lago, „wir wollen genauer erforschen, ob diese Menschen – obwohl ihnen Deutsch vertraut ist – immer noch von ihren zuvor erlernten Sprachen beeinflusst werden.“ Bei den Experimenten mit mehrsprachigen Sprechern lässt sich erkennen, dass das Leseverständnis hauptsächlich von der muttersprachlichen Grammatik beeinflusst wird. Und Lago ergänzt: „Doch die grammatikalischen Kenntnisse einer zuvor erlernten zweiten Sprache erhöhen die Sensibilität bei den Sprechern, wenn es um morphosyntaktische Fehler in der dritten Sprache geht.“ Getestet wurde ein solcher „morphosyntaktischer Fehler“ beispielsweise mit dem Genus des Possessivpronomens – hier zwei Beispielsätze: „Frau Schmidt küsst ihre Mutter.“ – „Herr Schmidt küsst ihre Mutter.“ Der letzte Satz ist zwar grammatisch möglich, erscheint aber deutschen Muttersprachlern ohne einen Kontext nicht verständlich. Englisch ist dem Deutschen ähnlich, da sich das Possessivpronomen nach dem Subjekt (her/his) richtet, im Spanischen (su/su) ist das nicht so. Hier nur Ergebnisse in Kürze: Die englischsprachigen Native Speaker erkannten den Fehler genauer als die spanischen Muttersprachler. Je besser allerdings die spanischen Muttersprachler Englisch beherrschen, umso genauer haben sie den Fehler bemerkt. Interessant sind solche Erkenntnisse zum Beispiel, wenn es um didaktische Methoden des Spracherlernens geht.

Lago nutzt die Corona-Zeit nun intensiv, um wissenschaftliche Aufsätze zu den Ergebnissen ihrer diversen Experimente zu schreiben und sich mit ihren Kollegen in der Romanistik und darüber hinaus zu vernetzen. Sie brennt schon darauf, Studierenden auch die eher naturwissenschaftlichen Methoden der Sprachforschung näherzubringen. „Der erste Workshop im Januar mit Master-Studierenden und Doktoranden lief schon gut.“ Ihr Traum: ein Labor für die Erforschung der Sprachverarbeitung aufzubauen – auch in Kooperation mit Psychologen und Neurowissenschaftlern. Das Potenzial an der Goethe-Universität ist auf jeden Fall vorhanden!

Ulrike Jaspers

Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 6.20 (PDF) des UniReport erschienen.

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