Der ukrainische Essayist Jurko Prochasko war im Februar mit drei renommierten Schriftstellerkollegen zu Gast an der Goethe-Universität im Rahmen einer Podiumsdiskussion. Damals ging es um die Situation auf dem Maidan und um die Durchsetzung neuer Reformen. Seitdem hat sich die Lage in der Ukraine stark verändert. „Wenn etwas die Bezeichnung Revolution verdient hat, dann das was in den letzten fünf Monaten in der Ukraine passiert ist,“ sagt Jurko Prochasko. Seit Februar haben sich die Ereignisse überschlagen, denn durch den Eingriff Putins ins Geschehen hat die Situation eine dramatische Wende angenommen. Durch die Annexion der Krim und kriegsähnliche Zustände, durch Invasion und durch die „präventive Konterrevolution“ Putins (Neue Zürcher Zeitung) „kann man sich denken, wie unvorhersehbar die Zukunft aussieht“, so Prochasko.
Das Eine ist dem Anderen der Tod
Dass weitere Gebiete der Krim annektiert werden könnten, kann er sich gut vorstellen: „ Die Situation bleibt für mich prinzipiell offen.“ Prochasko vermutet, auch wenn er betont, dass es reine Spekulation sei, dass Putin weiterhin so offensiv vorgehen würde, wenn er könnte, da er im heutigen Russland der einzige Entscheidungsträger sei. „Nun ist er jedoch auf einen gewissen Widerstand gestoßen“; Widerstand sowohl von Seiten der ukrainischen Armee als auch der NATO, USA und EU in Form diplomatischer Tätigkeiten, Verhandlungen, internationaler Reformen wie Sanktionen. Die Möglichkeit weiterer Annektierungen schließt Prochasko jedoch nicht aus. „Ich glaube, der Verbleib der russischen Truppen dient im Moment dazu, die Revolution in der Ukraine aufzuhalten. Denn eine souveräne Ukraine ist inkompatibel mit der Idee des Putinschen Imperiums.“ So sei das Schicksal der Revolution auch das Schicksal des Putin-Regimes. „Das Eine ist dem Anderen der Tod.“
Putin als „Freund der Menschheit“
Zur Zeit dienten Putins Truppen dazu, das Land einzuschüchtern und zu destabilisieren, die Weltgemeinschaft gar zu erpressen. Und wenn Putin die Einnahme weiterer Teile der Ukraine nicht gelänge, sei es gar möglich, dass dies als ein Verzicht auf weitere Eskalationen gewertet werden könne. „Und dass man am Ende sogar glücklich dasteht und strahlt und rühmt, wie erfolgreich doch diese Diplomatie und diese Sanktionen waren, dass sich Putin sozusagen nur mit der Krim begnügt hat. Und am Ende steht Putin noch als Freund der Menschheit dar, der sozusagen freiwillig auf die weitere Invasion verzichtet hat.“
Was wünscht sich Prochasko in dieser Situation vom Westen beziehungsweise der Weltgemeinschaft am meisten? „Vor allem das wirkliche Verstehen.“ Er würde sich wünschen, dass man die Ukrainer versteht.
„Im Westen wird die Bezeichnung „Revolution“ vermieden – ich frage mich warum?“
Denn genau darin sieht er einen Grundkonflikt. Egal, ob hier die proukrainische Version oder die pro- oder antirevolutionäre Position vertreten wird, gebe es einen wiederkehrenden Konflikt in seinen Augen. Der Westen, selbst mit wohlgemeinter Einstellung und Sympathie der Ukraine gegenüber, vertrete eine „krypto-koloniale“ Position im Diskurs. „Denn wenn wir von einer Annäherung an die EU sprechen, meinen wir nicht, dass wir unsere Identität ablegen müssen. Es bedeutet auch nicht für uns, dass die zwei großen Mächte Russland und der Westen über uns entscheiden“. Ferner gebe es viele Menschen, die sich vielleicht etwas mit den ukrainischen Angelegenheiten auskennen würden, aber selten komplett. Und da der Teufel bekanntlich im Detail steckt, führe das oft zu bedauerlichen Missverständnissen.
Alternative: Russland?
Auch die partielle Kritik an westlichen finanziellen Hilfen teilt Prochasko nicht und bewertet die damit verbundenen Bedingungen anders. „Diese finanziellen Hilfen sind existenziell wichtig im Moment.“ Sonst würde die Ukraine kollabieren und das hätte fatale Folgen für Europa, vielleicht sogar die Weltwirtschaft. Eine andere Alternative sieht er nicht. Bei finanzieller Hilfe von Seiten Russlands weiß er genau, an welche Bedingungen diese geknüpft wären. Es habe bereits viele Tote gegeben, um sich weiter aus diesen Bedingungen zu lösen. „Es ist auch nicht so, dass alle Forderungen des Internationalen Währungsfonds absurd sind. Unabhängig vom IWF oder anderen Finanzorganisationen und –instituten muss sich da etwas ändern. Diese Reformen sind schon längst fällig gewesen und natürlich auch in unserem Interesse“. Die westlichen Politiker auf dem Maidan hingegen seien sehr ambivalent. Er kann nur aus seinem persönlichen Erfahrungsschatz schöpfen, dass „uns jede Solidaritätsgeste wichtig“ war. „Jemand ergriff sozusagen Partei für uns“. Aber natürlich spielten diese Tatsachen Putin in die Hände, der notgedrungen Argumente daraus machte.
Zwei Fliege mit einer Klappe
Janukowitschs Forderung an Putin, die Krim der Ukraine zurückzugeben, findet Prochasko sehr komisch. Er glaubt, dass die Abhängigkeit Janukowitschs von Putin während seiner letzten Auftritte dermaßen offensichtlich geworden sei; nun sei vollkommen klar, dass er nur eine Puppe Putins sei. „So war es einfach notwendig, ein Element von Protest oder Bedauern in die Figur miteinfließen zu lassen, um sie glaubwürdiger zu machen. Man hat doch noch nicht ganz den Plan aufgegeben, einen Teil der Ukraine abzuspalten, und Janukowitsch wäre eine mögliche Option eines legitimen Präsidenten.“ So habe man praktischerweise gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. [Autorin: Tamara Marszalkowski]