Goethe, Deine Forscher: Tobias Wille, Politikwissenschaftler

Einerseits hat Tobias Wille so etwas noch nicht erlebt – dass sein Forscherdasein so massiv wie derzeit von aktuellen Ereignissen geprägt ist: „Seit Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hat, existiert die europäische Sicherheitsordnung der letzten dreißig Jahre nicht mehr, und keiner weiß, was jetzt kommt“, sagt Wille, der am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften die Professur für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt „Internationale Sicherheit“ innehat. „Anders als früher mahnen deshalb inzwischen viele Expertinnen und Experten an, dass wir auch in Deutschland dringend mehr Forschung zu den ‚harten‘ Sicherheitsthemen brauchen, also etwa zu Krieg, Rüstungskontrolle oder nuklearer Abschreckung.“ Auch die Studierenden interessierten sich stark für sicherheitspolitische Themen, dementsprechender Andrang herrsche in seinen Seminaren. Und auch in der breiteren Bevölkerung beobachtet Wille ein starkes Interesse – immer wieder wollten die Menschen von ihm wissen, wie die Nachrichten aus Kiew, Bachmut oder Mariupol einzuordnen seien, oder ob eine Lieferung von Kampfpanzern möglicherweise die Situation eskalieren lasse.

Andererseits betreibt er selbst politikwissenschaftliche Grundlagenforschung, in der er sich mit größeren theoretischen Fragestellungen beschäftigt, die von den aktuellen Ereignissen weitgehend unabhängig sind. „Dazu gehört zum Beispiel die Frage, wie wir mit der Möglichkeit von Gewalt in der Politik umgehen“, sagt Wille, „wie gehen wir damit um, dass andere uns mit der Drohung oder der tatsächlichen Anwendung von Gewalt ihren Willen aufdrängen und damit unsere Freiheit einschränken können?“ Auf zwischenmenschlicher Ebene werde dieses Problem mehr oder weniger erfolgreich durch das Gewaltmonopol des Staates gelöst, der die Bürgerinnen und Bürger gewissermaßen entwaffne, sagt Wille. In der internationalen Politik funktioniere das allerdings immer nur notdürftig – Staaten könnten schließlich nach wie vor gegeneinander Krieg führen; Wille fragt sich in seiner Forschung, wie dieses Problem in der alltäglichen Arbeitsteilung zwischen Militär und Diplomatie angegangen wird.

Weltpolitik und Alltag

Darin knüpft er an seine Postdoc-Zeit an, in der er am „Saltzman Institute of War and Peace Studies“ der US-amerikanischen Columbia University zum Verhältnis von Diplomatie und Kriegsführung forschte. Wie schon am Saltzman Institute interessiert sich Wille auch an der Goethe-Universität dafür, wie die großen Ereignisse der Weltpolitik sich aus kleinen, alltäglichen Handlungen zusammensetzen. So hat er für seine jüngste Veröffentlichung als Fallstudie untersucht, wie der 2008 unabhängig gewordene Staat Kosovo für sein künftiges Außenministerium einen Beamten- beziehungsweise Verwaltungsapparat aufbaute, gleichermaßen funktionell und repräsentativ, mit professionell auftretenden Diplomatinnen und Diplomaten, die in der Lage sind, kompetent Forderungen zu artikulieren und an Verhandlungen teilzunehmen.

„Das berührt einen Aspekt, der mich schon immer an Politikwissenschaft fasziniert hat“, sagt Wille, der sich in seinem eigenen Studium intensiv mit Philosophie und politischer Theorie beschäftigt hat, „irgendwann habe ich dann verstanden: Die Fragen, die man sich dort stellt, zum Beispiel nach legitimer Herrschaft oder politischer Repräsentation – diese Fragen kann man auch auf das alltägliche Leben herunterbrechen.“ Und genau das ist inzwischen zu einem festen Bestandteil seiner Forschung geworden. Die Politikwissenschaft gehe nämlich einer ganz zentralen Frage nach, sagt Wille: „Wie können wir unser Zusammenleben in einer Welt organisieren, in der die Menschen ganz unterschiedliche Identitäten, Perspektiven und Interessen haben?“

Inspirierende Interdisziplinarität

An einer so vielfältigen und weithin beachteten Einrichtung wie dem politikwissenschaftlichen Institut der Goethe-Universität zu forschen, betrachtet Wille als Glücksfall – nicht erst, seit er zum Wintersemester 2022/2023 die Professur mit dem Schwerpunkt „Internationale Sicherheit“ antrat. „Wie inspirierend dieses Arbeitsumfeld ist, war mir schon während meiner Promotion in den 2010er Jahren bewusst geworden, am damaligen Exzellenz-Cluster ‚Die Herausbildung normativer Ordnungen‘“, sagt er. Dort und auch durch die Zusammenarbeit mit dem Leibniz-Institut „Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung“ sei er gewissermaßen in ein interdisziplinär arbeitendes Umfeld sozialisiert worden. „Und interdisziplinäre Forschung ist ja eine komplizierte Angelegenheit“, kommentiert Wille, „je nach Disziplin sprechen sie eine andere Sprache. Das führt zwangsläufig auch zu Missverständnissen, manchmal sogar zu Streit.“

Auf der anderen Seite bringt Interdisziplinarität aber große Vorteile mit sich, sie inspiriert und führt zu Einsichten, die man aus einer Disziplin heraus nicht erlangen könnte“, fügt er hinzu, und das könne in der jetzt anstehenden Runde der Exzellenz-Initiative des Bundes und der Länder ein wichtiger, vielleicht sogar entscheidender Pluspunkt sein: Die Forschungsinitiative „ConTrust – Vertrauen im Konflikt“, die aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven das Wechselspiel von Konfliktsituationen und Vertrauensverhältnissen beleuchtet, geht für die Goethe-Universität in das prestigeträchtige Rennen um Fördermittel; daran beteiligt sind Film- und Wirtschaftswissenschaftler, Soziologinnen, Politologen, Anthropologinnen sowie Literatur- und Rechtswissenschaftler. Und Tobias Wille ist nicht nur als Principal Investigator beteiligt, sondern koordiniert auch das wissenschaftliche Programm des Projektes.

Stefanie Hense

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