Die Rechtswissenschaftlerin Samira Akbarian hat ihre Dissertation über das hochaktuelle Thema des »Zivilen Ungehorsams« geschrieben. Dafür erhält sie den Werner Pünder-Preis 2023.
UniReport: Frau Dr. Akbarian, Ihre Dissertation trägt den Titel: „Ziviler Ungehorsam als Verfassungsinterpretation“ – das klingt ja wie ein Kommentar zur aktuellen Diskussion um die Proteste der Klimaaktivisten. Wie sind Sie zum Thema gekommen?
Dr. Samira Akbarian: Ich habe nach dem 1. Staatsexamen das 2. Staatsexamen angefügt, das war also erstmal sehr praxisorientiert. Ich habe im Studium aber auch noch den Bachelor in Soziologie und Politikwissenschaften gemacht. Mein Interesse lag im Bereich der Politischen Theorie, insbesondere der Demokratietheorie. Ich wollte gerne nach dem Referendariat wieder in die Wissenschaft einsteigen und etwas über das Thema schreiben. Unter dem Begriff der Postdemokratie wird ein wissenschaftlich durchaus belegbares Gefühl diskutiert, dass sich politische Teilhabe heute nicht einfach gestaltet: Viele Prozesse sind von wirtschaftlichen Maximen bestimmt; mitunter wird der Diskurs recht expertokratisch geführt wird. Es geht also insgesamt um das Gefühl politischer Ohnmacht. Ich habe mich gefragt, welche juristischen Anknüpfungsmöglichkeiten es gibt. Bei der Recherche bin ich auf Hannah Arendts Aufsatz zu „Civil Disobedience“ gestoßen. Der Ungehorsam ist prinzipiell eine Protestform, die eine direktdemokratische Einflussnahme ermöglicht und daher auch potenziell gegen ein Ohnmachtsgefühl gerichtet ist. In der Rechtswissenschaft wurde eigentlich noch sehr wenig dazu geforscht. Das war der Stand 2017, mittlerweile hat sich das sicherlich geändert.
Sie sind also interdisziplinär unterwegs und ergänzen rechtswissenschaftliche Fragestellungen mit sozialwissenschaftlichen und politikwissenschaftlichen Aspekten.
Ja, meine Arbeit nimmt viele Aspekte aus der politischen Theorie auf, verknüpft sie mit Verfassungstheorie und wendet sie auf Rechtsfälle an; umgekehrt ist natürlich ein verfassungsrechtlicher Blick auf radikaldemokratische Theorien auch sinnvoll.
Das Thema Klimawandel bewegt viele Menschen. So erhalten die Klimaaktivisten durchaus breite Zustimmung, vielleicht hat das in letzter Zeit etwas nachgelassen. Viele sehen in den Protesten beispielsweise eine Form der Nötigung.
Die Kritiker*innen verweisen darauf, dass es ein demokratisches Verfahren in der repräsentativen Mehrheitsdemokratie gebe. In diese könne man sich einbringen, wählen gehen, Mitglied einer Partei werden, Abgeordneter werden und damit das Verfahren beeinflussen. Wer dieses demokratisch legitimierte Gesetz breche, nehme für sich eine Art von moralischer Überlegenheit in Anspruch. Es sei so gesehen undemokratisch, weil man sich mehr rausnehme als andere; es sei nicht rechtsstaatlich, weil man die Verfahren nicht einhalte. Dagegen können nun aber verschiedene Aspekte vorgebracht werden: Der erste lautet, dass ein demokratisches Verfahren auch wirklich demokratisch sein muss. An der repräsentativen Demokratie können nicht alle teilnehmen. Nehmen wir einmal als Beispiel die Asylgesetze bzw. die Migrationspolitik. An diesen Verfahren können die Betroffenen, also die Geflüchteten, nicht teilnehmen. Ganz grundsätzlich kann sich nicht jeder gleichermaßen in den politischen Prozess einbringen. Ich bin promovierte Juristin und kann meine Meinung dazu kundtun. Anderen Menschen ist es nicht so leicht möglich, jemanden von etwas zu überzeugen. Für diese strukturellen oder epistemischen Ungleichgewichte, also wem zugehört, wem geglaubt wird, wer ernst genommen wird, gibt es die Formen der direkten Einflussnahme. Diese Formen sind von der Verfassung auch vorgesehen, in Artikel 8 des Grundgesetzes, in der Versammlungsfreiheit. Damit sollen die Ungleichgewichte, die sich im repräsentativen Verfahren ergeben, ausgeglichen werden.
Die Frage stellt sich natürlich: Was genau umfasst das? Wie weit darf ich gehen, was ist noch eine Versammlung, welche Protestformen sind noch davon gedeckt?
Das ist eine Frage der Verfassungsinterpretation, nämlich wie wir die Versammlungsfreiheit ausdeuten! Meine Arbeit setzt jetzt genau da an: Die Letztentscheidung liegt sicherlich beim Bundesverfassungsgericht, aber die Möglichkeit, die Verfassung auszulegen, ist prinzipiell gegeben. Wir leben in einem demokratischen Rechtsstaat – die, die unter der Verfassung leben, haben auch Anteil daran, diese mit zu interpretieren.
Ziviler Ungehorsam kann sich natürlich in unterschiedlichen Erscheinungsformen manifestieren. Wenn man beispielsweise einen Autofahrer aus dem Auto zerren würde, wäre eine Grenze überschritten. Wie sieht es aus mit Spielregeln?
Gängige Konzeptionen zum zivilen Ungehorsam formulieren auch solche Spielregeln. Es werden dabei Maßstäbe der Verhältnismäßigkeit festgelegt: Es muss gewaltfrei sein, es soll nur symbolisch ausgerichtet sein et cetera. In meiner Arbeit hinterfrage ich einige dieser Kriterien, denn was gewaltfrei ist, was nur symbolisch und verhältnismäßig ist, ist wiederum auch eine Frage, die der Interpretation bedarf. Viele bezeichnen die Klimaaktivistinnen als sehr radikal. Das grenze an Gewalt, sei Nötigung, aber ist das wirklich so? Ist das Gewalt, sich an der Straße anzukleben? Nach der derzeitigen Rechtsprechung der höchstinstanzlichen Gerichte ist das Sitzen auf der Straße, bereits Gewalt. Das könnte man aber durchaus hinterfragen. Nach dieser sogenannten Zweite-Reihe-Rechtsprechung nutzen die Aktivistinnen die erste Reihe von Fahrzeugen, die sie am Weiterfahren hindern, als ein physisches Hindernis, um ab der zweiten Reihe einen Stau zu verursachen. Das ist eine sehr komplizierte Konstruktion, die schon Juristinnen in anderen Ländern nicht verstehen, und Laien schon mal gar nicht. Zu Ihrem Beispiel: Dass Klimaaktivistinnen Autofahrerinnen aus dem Auto zerren, passiert ja gar nicht. Was aber passiert ist, dass umgekehrt Autofahrerinnen die Protestierenden von der Straße zerren, und das ist in der Tat Gewalt! Wenn man physisch-körperliche Gewalt anwendet, Menschen damit verletzt, ist es keine legitime politische Kommunikation mehr.
Viele Bürger*innen bringen in der öffentlichen Debatte zum Ausdruck, dass sie sich eine klare Kante seitens des Rechtsstaates wünschen und oft nicht verstehen, warum Proteste nicht einfach aufgelöst werden, wenn dadurch der Verkehr behindert wird. Mangelt es manchmal an einer gewissen juristischen Grundbildung, um zu verstehen, dass die Verfassung nicht in Stein gemeißelt ist, sondern immer auch interpretiert werden muss?
Das glaube ich eigentlich nicht. Alle Menschen, die sich zu diesem Thema Gedanken machen, haben doch schon ein Gefühl für Gerechtigkeit. Das mag zwar auch sehr subjektiv sein, aber mein Ansatz wäre eben, das nicht allein den Expert*innen zu überlassen. Wenn ich als juristischer Laie denke, dass das Wort Gewalt nicht Sitzen umfasst, dann kann ich das vielleicht auch argumentativ begründen. Jeder kann eine Meinung begründen und einbringen. Fälle von zivilem Ungehorsam können mit dazu beitragen, die Verfassung besser zu verstehen. Das Recht lebt ja davon, konkretisiert zu werden über Fälle. Gerade bei der Letzten Generation haben wir gesehen, dass deren Maßnahmen sich auf die Verfassung beziehen, nämlich auf den Artikel 20a im Grundgesetz; das ist der Artikel, der die natürlichen Lebensgrundlagen schützt.
Viele Bürger*innen schauen mit Sorge auf heutige Protestformen, weil sie sich – berechtigt oder unberechtigt – auch an dramatische Bilder aus den USA erinnert fühlen, als beim Sturm auf das Kapitol auch die Verfassung erschüttert werden sollte.
Ich kann die Besorgnis durchaus verstehen. Es gibt so etwas wie eine autoritäre Verfassungsauslegung: Man nutzt die Verfassung für nicht-verfassungsgemäße Anliegen aus. Auf den Querdenker-Corona-Demos wurde zum Beispiel dazu aufgerufen, nach Berlin zu kommen und mit dazu beizutragen, eine neue Verfassung zu verabschieden. Nur, weil es solche autoritären Formen gibt, heißt es nicht, dass es nicht noch andere, liberale Formen gibt. Das Schöne an der Rechtswissenschaft ist, dass wir entgegen landläufiger Meinung nicht abstrakt, sondern am Einzelfall orientiert denken. Wenn wir das tun, dann sehen wir beispielsweise Unterschiede zwischen Reichsbürger*innen, die mit Waffen agieren, und Klimakleber*innen, die im Prinzip nur ihren eigenen Körper und dessen Verletzlichkeit einsetzen.
Alle Formen zivilen Ungehorsams möchten Sie sicherlich nicht rechtfertigen.
Ich kann ja gar nicht beurteilen, ob die Protestierenden immer politisch klug handeln. Als Bürgerin frage ich mich auch öfter: Was soll das? Aber worauf ich schon aufmerksam machen möchte: Es gibt eine zunehmende Kriminalisierung, das ist nicht nur meine persönliche Meinung. Auch der UN-Berichterstatter für Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit hat 2021 einen Bericht vorgelegt und festgestellt, dass es weltweit eine zunehmende Kriminalisierung von Klimaaktivismus gibt. Diese Formen des Protestes werden als Gewalt, als Riots, gedeutet. Die Gesetzesänderungen kommen häufig nicht wegen Corona-Demos oder eines Sturms aufs Capitol, sondern wegen Black Lives Matter oder Klimaaktivismus. Jurist*innen neigen häufig dazu zu sagen, man müsse alles ganz neutral betrachten, also unabhängig vom Fall. Aber so ist es nicht. Es geht natürlich nicht darum, die Anliegen politisch zu bewerten. Es gibt aber eine Verbindung zwischen Zweck und Mittel, die in den einen Protestformen autoritär veranlagt ist und in den anderen nicht.
WERNER PÜNDER-PREIS
Mit dem Preis wird das Andenken an Herrn Rechtsanwalt Dr. Werner Pünder geehrt, der zu den entschiedenen Gegnern des Nationalsozialismus in Deutschland gehört hat. Er wird für die beste an der Goethe-Universität Frankfurt am Main in den jeweils drei vorausgegangenen Semestern formell abgeschlossene Qualifikationsarbeit als Dissertation, Habilitation, Magisterarbeit oder Ähnliches aus dem Themenkreis „Freiheit und Herrschaft in Geschichte und Gegenwart“ vergeben. Der Preis kann insbesondere für ein Thema aus den Grundlagen des Rechts verliehen werden. Der Werner Pünder-Preis ist mit einem Betrag von 10 000 Euro dotiert. Er wird jährlich vergeben. Weitere Informationen hier.