Das »gemeinsame Haus« als Baustelle der Unordnung

Architektonische Metaphorik im Sprachgebrauch von Demokratien hat oft wenig gemein mit der Realität

von Carsten Ruhl

Warum in der Politik so viel von »Architektur« gesprochen wird und warum Architektur an sich nicht demokratisch sein kann, darüber hat sich der Architekturhistoriker Carsten Ruhl Gedanken gemacht

Einen Turm aus einzelnen Bauklötzen zu bauen, ist gar nicht so einfach. Kinder und ihre Eltern kennen diese Erfahrung von zahlreichen Geschicklichkeitsspielen: Stein auf Stein zu legen, ohne dass das entstandene Gebilde zusammenstürzt, erfordert viel Sorgfalt, Konzentration und Geschick. Und niemand möchte schuld am Einsturz sein und als Verlierer krachend scheitern. Es wäre zugleich eine persönliche Niederlage, die Zerstörung eines kollektiven Werks sowie ein Beweis mangelnder Geschicklichkeit. Die anderen am Spiel Beteiligten können sich indes als geschickte Konstrukteure eines zwar fragilen, aber dafür umso bewundernswerteren Bauwerks fühlen.

Zur Gruppe der geschickten Konstrukteure scheinen sich bisweilen auch die Ämter und ­Institutionen unseres Landes zu zählen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wähnt sich offenbar auf der Seite talentierter Baumeister, diesen Eindruck gewinnt man zumindest auf der Webseite des Amtes. Unter der Überschrift »Das BAMF als Teil der deutschen Sicherheitsarchitektur« findet sich ein aufschlussreiches Werbebild: Mit spürbarer Entschlossenheit platziert die Hand eines Mannes – der Schlips weist ihn als Mitarbeiter des Amtes aus – einen hölzernen Baustein auf dem ordentlich gestapelten Spielturm im Bildvordergrund. Damit kein Zweifel darüber aufkommt, wie sicher dieser Turm steht, bemüht das Amt in der Bilderläuterung gleich noch eine weitere Architekturmetapher. Darin heißt es, das BAMF sei eine wichtige »Säule« der deutschen Sicherheitsarchitektur. Wie lässt sich diese Geste im Zusammenhang mit der Überschrift lesen? Das Amt präsentiert sich als Baustein einer nationalen »Sicherheitsarchitektur«, der es dem eigenen Selbstverständnis nach selbst dort noch gelingt, alles in geregelte Bahnen zu lenken, wo von geordneten Verhältnissen schon lange keine Rede mehr sein kann. Die Migration nach Deutschland und Europa ist bekanntlich keine statische Größe, wie insbesondere das Bild der Säule suggerieren soll, sondern dynamisch und unberechenbar. Ganz zu schweigen von der beängstigenden Wirkung, die von dieser Geste der bürokratischen Verwaltung von menschlichen Schicksalen ausgehen kann.

Der Architekturbegriff im politischen Jargon

Die kurze Betrachtung darüber, wie sich Bürokratien und Institutionen selbst darstellen, führt zu der Frage, welche Funktion der Architekturbegriff im politischen Diskurs einnimmt und was dies wiederum für die bauliche Repräsentation demokratischer Staaten bedeutet. Bleiben wir hierzu beim Begriff der Sicherheitsarchitektur. Die Häufigkeit, mit der er seit Jahrzehnten in der Sprache der deutschen Politik verwendet wird, steht nur bedingt für eine besondere Wertschätzung der Baukultur. Vielmehr werden Begrifflichkeiten aus der Architektur in politischen Reden zur Sicherheit Deutschlands oder Europas metaphorisch verwendet. Doch wie wird der Begriff der Architektur als politische Metapher benutzt? Welche Rolle spielt diese Metapher in der politischen Praxis? Und was bedeutet dies wiederum für die Architektur einer demokratisch verfassten Gesellschaft?

Bereits Ende des 20. Jahrhunderts machte sich in der Politik ein gewisses Unbehagen an­gesichts der weitverbreiteten Verwendung des Architekturbegriffs breit. Der Politikwissenschaftler Heinrich Schneider eröffnete seinen Beitrag zu einer Konferenz der OSZE mit der Feststellung, dass der undifferenzierte Gebrauch dieses Begriffs in keinem Verhältnis zu dessen Komplexität stehe (Schneider, 1995). Ideen­geschichtlich weit ausholend, erinnerte Schneider unter anderem daran, dass Aristoteles Politik als architektonische Kunst verstand und Kant Architektonik als einen vernunftmäßigen Systembau definierte. Wer den Status quo der europäischen Sicherheitspolitik als Sicherheitsarchitektur bezeichne, ignoriere diese Bedeutungsdimension vollständig. Angesichts der vielen ungelösten Probleme in Europa ließe sich allenfalls von einer »Unsicherheitsarchitektur« sprechen. Mit anderen Worten: Das durch den Begriff signalisierte Ordnungsversprechen stand für Schneider in keinem Verhältnis zur tatsächlich herrschenden Unordnung. Das »gemeinsame Haus Europa«, eine weitere Metapher, die Schneider ins Spiel brachte, war aus dieser Perspektive nicht mehr als eine Baustelle.

Architektur statt Infrastruktur

Schneider reflektierte damit eine Entwicklung, die er mit der bemerkenswerten Karriere des Architektur­begriffs in der Politik ins Verhältnis setzte. Denn der zeitgeschichtliche Hintergrund seiner Überlegungen war das allmähliche Ende der Systemkonkurrenz zwischen West und Ost – und damit auch das Ende von definierbaren Grenzen zwischen politischen Einflusszonen, die als handfeste Bedrohung für die eigene Sicherheit hätten genannt werden können. Sicherheit war nicht länger eine Notwendigkeit, die an eine konkrete militärische Bedrohung geknüpft war. Sie beruhte vielmehr auf eher abstrakten Bedrohungsszenarien, die nicht mehr nur militärisch beantwortet werden mussten. Sicherheit – aus heutiger Sicht müsste man wohl vielmehr von der Illusion von Sicherheit sprechen – konnte beispielsweise durch die Schaffung gegenseitiger ökonomischer Abhängigkeiten (»Wandel durch Handel«) hergestellt werden. Die Metapher der Architektur kompensierte gewissermaßen die Absenz einer physisch-materiellen Sicherheitsinfrastruktur.

Das hier wirksame Bild der Architektur als Inbegriff von Rationalität, Dauerhaftigkeit, Logik, Statik, Vernunft und Professionalität scheint noch heute dem Selbstverständnis politischer Eliten zu entsprechen. Für die demokratische Kultur ist sein Nutzen eher zweifelhaft – zumindest dann, wenn man unter demokratischer Ordnung kein starres Gebilde versteht, sondern eine Praxis, die innerhalb bestimmter Grenzen anpassungsfähig und flexibel sein muss. Nehmen wir die kürzlich von Politikwissenschaftlern formulierte Definition von Demokratie als »institutionalisierte Unsicherheit« ernst, so bedeutet Ordnung hier nicht ein statisches Gebilde, sondern einen permanenten Aushandlungsprozess. Das Bild der Architektur hingegen dient vor allem dazu, diese Unsicherheiten zu überspielen, Dauerhaftigkeit und Statik dort vorzu­täuschen, wo eigentlich Anpassungsfähigkeit, Dynamik, Aushandlung und Prozesshaftigkeit vorherrschen müssten. Dies wäre nicht weiter tragisch, würde die politische Elite damit nicht – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – die demokratische Ordnung, die sie vorgibt zu schützen, delegitimieren. Denn »echte« Architektur entsteht selten auf der Basis demokratischer Entscheidungsprozesse. Und zwar selbst dann nicht, wenn sie wie in Brasília als Inbegriff einer demokratischen Architektur gilt  (Pohl/Ruhl, 2023). Architektur eignet sich also nur bedingt als Metapher für eine »echte« Demokratie und ihre Institutionen. Von einem »Bauwerk der Demokratie« zu reden, führt in die Irre – aber ebenso die Annahme, es gebe eine spezifisch demokratische Architektur.

Auch intransparente Systeme mögen transparente Bauten

Selbst wenn in politischen Reden gern ein Zusammenhang zwischen politischer und architektonischer Transparenz postuliert wird, sollte man besser von Architekturen in Demokratien als von Architekturen der Demokratie sprechen. Hierfür gibt es nicht zuletzt gute historische Gründe. Hinsichtlich der Analogie von trans­parenten Gebäuden und einem transparenten politischen System ist zu sagen: Schon die italienischen Faschisten befanden transparente Glasfassaden als ein geeignetes Mittel der architektonischen Repräsentation. Glas ermöglicht eben nicht nur Einblicke, sondern auch Ausblicke und damit eine im Foucaultschen Sinne pan­optische Observation des öffentlichen Raums. Zum anderen hatten die meisten Demokratien entweder mit den baulichen Überresten früherer Regime umzugehen oder griffen gar aktiv auf architektonische Mittel zurück, die aus vordemokratischen Zeiten stammten (Minkenberg, 2020). Prominente Beispiele sind Washington DC mit seiner zwischen Potomac und Anacostia River gespannten Monumentalachse, aber auch das Reichstagsgebäude in Berlin, das seine architekturhistorischen Referenzen im monarchischen Residenzbau hat. Sitz der französischen Nationalversammlung ist ein im frühen 18. Jahrhundert für die Herzogin von Bourbon errichtetes Palais an der Place de la Concorde.

Inbegriff einer demokratischen Architektur? Das Gebäude für den Nationalkongress in der brasilianischen Hauptstadt Brasília.

Dies alles soll kein Plädoyer für eine neue Beliebigkeit im architektonischen Ausdruck von Demokratien sein, sondern den Blick auf vernachlässigte Komplexitäten von Architektur sowohl als Metapher wie auch als Gebautes ­lenken. Denn entgegen der allgemeinen Wahr­nehmung ist das realisierte Architekturprojekt allein nicht die Hauptsache, sondern lediglich die Schnittstelle zwischen zwei für die Akzeptanz von Demokratien eminent wichtigen ­Sphären architektonischer Ordnungsstiftung. Wenn Winston Churchill recht hatte mit seiner Aussage, dass wir in der Architektur Bauten formen, die wiederum uns formen, dann lässt sich nicht übersehen, dass den Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Architekturen eine entscheidende Bedeutung für deren Wahr­nehmung als »Symptom« demokratischer Verhältnisse zukommt. Der Versuch, Demokratie mithilfe von Architekturmetaphern zu obje­k­tivieren, ignoriert diese Tatsache, weil darin jede Dynamik, die Demokratie eigentlich auszeichnen sollte, auch metaphorisch zu Stein erstarrt.

Damit sind wichtige, immer wieder aufs Neue zu beantwortende Fragen angesprochen, die mitten hinein in das Selbstverständnis von Demokratien und ihrer Architekturen führen. Wer bestimmt die Architektur? Wie ist sie organisiert? Wie organisiert sie wiederum unser Zusammenleben? Wie lassen sich Planungs­prozesse demokratisch gestalten, damit deren Ergebnisse auch für einen möglichst großen Teil der Gesellschaft überhaupt als demokratische Architektur wahrgenommen werden können? Der Stein, der den Turm ins Wanken bringt, wäre dann nicht mehr nur ein Zeichen der Schwäche, sondern auch der Souveränität. Vielleicht sogar der Volkssouveränität. Zumindest aber könnte er immer wieder der Auslöser sein für ein neues Spiel, in dem sich alle Mitspielerinnen und Mitspieler mal als gute Verlierer zu beweisen haben. Was könnte demokratischer sein?

Literatur

Minkenberg, Michael: Demokratische Architektur in Demokratischen Hauptstädten: Aspekte der baulichen Symbolisierung und ­Verkörperung von Volkssouveränität, in: Schwanholz, Julia/Theiner, Patrick (Hrsg.): Die politische Architektur deutscher Parlamente, Wiesbaden 2020, S. 13-39.

Müller, Jan-Werner: What (if Anything) Is »Democratic Architecture«?, in: Bell, Duncan/Zacka, Bernardo (eds.): Political Theory and Architecture, London/New York 2020, p. 21-37.

Pohl, Dennis/Ruhl, Carsten: Brasília oder London? Regierungsarchitekturen zwischen Ordnung und Konflikt, in: Heß, Regine (Hrsg.): Architektur und Konflikt, Kritische Berichte, Heft 2, 2023, S. 78-92, https://doi.org/10.11588 kb.2023.2.94662

Schneider, Heinrich: Sicherheitsarchitektur Europas, in: Sicherheit und Frieden (S+F)/Security and Peace, Vol. 13, No. 4, 20 Jahre nach Helsinki: Die OSZE und die europäische Sicherheitspolitik im Umbruch (1995), pp. 226-230.

Zur Person

Prof. Dr. Carsten Ruhl lehrt am Kunstgeschicht­lichen Institut der Goethe-Universität Architekturgeschichte. Nach dem Abitur studierte er zunächst Architektur in Dortmund, wechselte dann aber zu Kunstgeschichte, Philosophie und Geschichte an der Ruhr-Uni Bochum. Die Architektur blieb seine Leidenschaft: Nach dem Magister in Kunstgeschichte war er Stipendiat des DAAD in London sowie der Gerda Henkel Stiftung und wurde mit einer Arbeit über den englischen Architekturdiskurs des frühen 18. Jahrhunderts promoviert. In seiner Habilitationsschrift befasste er sich mit einem italienischen Architekten der Moderne. Er war Professor der Ruhr-Universität Bochum sowie der Bauhaus-Universität Weimar. Ruhl ist Sprecher des LOEWE-Schwerpunkts »Architekturen des Ordnens«.

ruhl@kunst.uni-frankfurt.de

Der Autor

Andreas Lorenz-Meyer, Jahrgang 1974, wohnt in der Pfalz und arbeitet seit 13 Jahren als freischaffender Journalist mit Schwerpunkt Nachhaltigkeit, Klimakrise, erneuerbare Energien, Digitalisierung. Er veröffentlicht in Tageszeitungen, Fachzeitungen, Universitäts- und Jugendmagazinen.

andreas.lorenz-meyer@nachhaltige-zukunft.de

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