Kunstwerke im Dialog mit Poelzigs Architektur – „Guerilla-Kunst“: Urbane Möbel aus Drainageröhren
Das Konzept des Künstlerduos Pitsch & Schau ist aufgegangen: Ihre Stadtmöbel aus Drainagerohren sollen den öffentlichen Raum nicht nur formen, sondern ihn sich aneignen und „besetzen“. Und die Studierenden der Goethe-Universität haben die „Guerilla-Kunst“ der beiden Hamburger voll angenommen, die auf der großen Rasenfläche zwischen IG-Farben-Haus und Casino zum Verweilen einlädt. Noch zwei weitere Künstler präsentieren sich im Rahmen der Skulpturenbiennale „Blickachsen 11“ auf dem Campus Westend: Ewerdt Hilgemann mit seinen unverwechselbaren Edelstahlkuben und Raul Walch mit „Interaction of colors“. Beide setzen sich auf ihre Art mit Poelzigs IG-Farben-Haus-Architektur auseinander.
Über den ganzen Sommer bis zum 1. Oktober läuft die Ausstellung „Blickachsen 11“ an allen acht Schauplätzen. Vom Zentrum in Bad Homburg führen symbolische Blickachsen zu den sieben anderen Ausstellungsorten der Region. Dieses Mal werden insgesamt 80 Großskulpturen von 37 internationalen Künstlern gezeigt. Zum vierten Mal ist auch der Campus Westend der Goethe-Universität dabei. Mit seiner wunderbaren Parklandschaft ist der Campus für den Bad Homburger Initiator und Kurator der Skulpturenbiennale Christian K. Scheffel ein idealer Ort, sich den Herausforderungen von Wissenschaft, Architektur und zeitgenössischer Kunst gleichermaßen zu stellen, aber auch das studentische Leben zu bereichern – und sei es mit kreativ-urbanen Möbeln.
Der „Luftschmied“ Ewerdt Hilgemann präsentiert auf dem Campus Westend die Dreiergruppe „Threesome“ und die aus drei identischen Elementen entstandenen „Giants“ (Riesen). Seine Technik umschreibt er so: „Ich entziehe die Luft und hauche damit Leben ein“. Seit 1984 entwickelt der in den Niederlanden lebende Künstler in immer neuen Variationen seine unverwechselbaren lebendig wirkenden Edelstahlkuben. Ihre individuelle Deformation schafft der Künstler dadurch, dass er den ursprünglich gleichförmigen Quadern mit einer Vakuumpumpe die Luft entzieht, so entstehen geknickte Formen. Und diese in sich zusammengefallenen Gebilde rahmen jetzt den klaren geometrischen Aufbau des IG-Farben-Gebäudes, das Hans Poelzig in den 1920er Jahren entworfen hat. Dazu in der Ausstellungsbroschüre: „Während dort die vertikalen Linien die Architektur optisch strecken und strukturieren, wirken die Arbeiten von Ewerdt Hilgemann beinahe durch äußere Einwirkung geschwächt.“
Hilgemanns stählerne „Implosionen“ sind nicht nur weltweit in Ausstellungen und Sammlungen vertreten, sondern auch im öffentlichen Raum präsent. 2014 säumten sieben der monumentalen Skulpturengruppen die New Yorker Park Avenue in einer viel beachteten Ausstellung. Nach seinem Studium bei Oskar Holweck, einem der frühen Mitglieder der Gruppe ZERO, arbeitet Hilgemann lange mit Holz, Stahl und Marmor. Ein zentraler Aspekt seines Schaffens ist von Beginn an „das Fangen des Lichts auf den abstrakt-geometrischen Werken“, so heißt es in der Broschüre.
Der 1980 in Frankfurt geborene Raul Walch hat vier Stoffe an den Fahnenmasten auf dem Campus gehisst; sie sollen mit ihrer Beweglichkeit einen Kontrast zu den klaren Linien und Geometrien des IG-Farben-Gebäudes bilden. Walch greift dabei Ornamente des architektonischen Gebäuderasters auf und überführt sie in eine malerische Fläche, dabei verwendet er ausschließlich Pigmente natürlichen Ursprungs. In der Ausstellungspublikation ist das Zusammenspiel von Poelzig und Walch so beschrieben: „Eine solche Transformation der Fassade in textiles Material versinnbildlicht Hans Poelzigs Fassadenauffassung, die sich mit der ‚Bekleidungslehre‘ des Architekturtheoretikers Gottfried Semper auseinandersetzt: Poelzig entwarf für die Gebäudefassade ebenfalls ein ‚Kleid‘, allerdings ein schützendes und schmückendes, ohne die Konstruktion zu verhüllen. Während das Mauerwerk des heutigen Campusbaus seit Jahrzehnten statisch an einem Ort verbleibt, verändert sich Walchs Arbeit nicht nur sekündlich durch die Luftbewegung, sondern auch langfristig aufgrund der sich zersetzenden Stofflichkeit und der verblassenden Farben.“
Gleich an vier Standorten ist Walch dieses Jahr bei den „Blickachsen“ vertreten: Außer auf dem Campus noch in Bad Homburg, auf der Burg Eppstein und in Kronberg. Walch, der in Berlin und Addis Abeba lebt, studierte zunächst Geisteswissenschaften und wandte sich 2005 der Bildenden Kunst zu: Er studierte erst an der Kunsthochschule in Berlin-Weissensee Bildhauerei und war danach von 2009 bis 2012 in der Klasse des international renommierten Künstlers Olafur Elisasson an der Universität der Künste zu Berlin. Auf nationalen und internationalen Ausstellungen präsentiert Walch sein mehrfach preisgekürtes künstlerisches Schaffen, das sich immer wieder genreübergreifend mit Textilien und ihren materiellen Qualitäten auseinandersetzt. Seine charakteristischen, oftmals bunt zusammengesetzten Stoffbahnen dienen als Drachen, als Spinnaker für Segelboote oder auch als Fahnen.
Mit ihren kreativen grellgelben Stadtmöbeln folgen Pitsch & Schau dem Motto: „Sitzen – Besetzen – Besitzen“. Denn ihre Sitze legitimieren oft erst das aktive Einnehmen eines Ortes, auch wenn die von den beiden Künstlern ausgewählten Plätze nicht immer offiziell dafür vorgesehen sind. Das ist auf dem Campus Westend anders, wo die Rasenflächen zum belebten Campus gehören. Bei den dortigen urbanen Sitzmöbeln wurden die Rohre auf stählerne Unterkonstruktionen montiert und bespielen nun prominent die großen Rasenflächen. In früheren Ausführungen wurden diese Möbel an bestehende urbane Strukturen angebunden: Sie wurden mit Kabelbindern an Brüstungen, Brückenpfeiler oder Fahrradständer fixiert. Die beiden Hamburger Künstler Mario Pitsch und Oliver Schau arbeiten seit 2017 zusammen.
Die beiden Künstler absolvierten u.a. an der Hochschule der Bildenden Künste in Hamburg ihren Abschluss mit dem Schwerpunkt Design. Als „Studio Pitsch & Schau“ haben sie die Gestaltung des öffentlichen Raums in den Fokus genommen. Ihre Sitzmöbel bestehen aus unkonventionellen Materialien, wie den leuchtend gelben und flexiblen Drainagerohren sowie handelsüblichen Kabelbindern. Im Katalog heißt es dazu: „Form und Farbigkeit erzeugen besondere Effekte in der Betrachtung und laden einerseits dazu ein, einen veränderten Blick einzunehmen und Bekanntes zu überdenken. Andererseits regen sie an, sich interaktiv mit dem Möbel sowie mit den anderen Nutzern oder Besuchern auseinanderzusetzen, denn die Designstücke geben auch Aufschluss darüber, wie sehr eine abwechslungsreiche Gestaltung ein kommunikatives Potenzial aufrufen kann – einen Ort des Austausches sowie des gemeinsamen Niederlassens und Betrachtens.“
Die Skulpturenausstellung findet in diesem Jahr gemeinsam mit dem Museum Liaunig, einem privaten Museum für zeitgenössische Kunst, Neuhaus (Österreich), statt. Im Auftrag des Museums hat Dr. Maria Schneider die Ausstellung gemeinsam mit Christian K. Scheffel, dem Gründer und Kurator der Biennale, kuratiert. Neben großen internationalen Namen der Bildhauerei wie Markus Lüpertz, Jaume Plensa, Joana Vasconcelos oder Ben Vautier geben die „Blickachsen 11“ auch einen Einblick in die Vielfalt der österreichischen Bildhauerei im 20. und 21. Jahrhundert. Darüber hinaus gibt die Ausstellung auch jüngeren Künstlern wieder die Chance, ihre Skulpturen einem breiten Publikum zu zeigen. Bei der Biennale werden unterschiedlichste Positionen der dreidimensionalen Gegenwartskunst in Beziehung zueinander und zu ihrem Ausstellungsort gesetzt. Auch eigens für die Ausstellung geschaffene Arbeiten sind wieder dabei, wie die Objekte auf dem Campus Westend zeigen.
Seit 2013 gibt es die Stiftung Blickachsen gGmbH, die seit „Blickachsen 9“ die Ausstellungen verantwortet und gemeinsam mit dem Magistrat der Stadt Bad Homburg, der Kur- und Kongreß-GmbH und der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten Hessen veranstaltet; Vorsitzender des Kuratoriums ist Stefan Quandt.
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Führungen an allen Standorten der Ausstellung „Blickachsen 11“ für private Gruppen, Schulklassen, Firmen oder Vereine können über die Stiftung Blickachsen gebucht werden (E-Mail: fuehrungen@blickachsen.de, Tel.: (06172) 681 19 46.
Informationen: Sunita Scheffel, „Blickachsen“-Kommunikation, mobil 0178-47 32 591, presse@blickachsen.de, www.blickachsen.de
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