Bildungsauf- und Bildungsabsteiger

Das Projekt RISS untersucht, wie sich der soziale Wandel auf gewachsene Strukturen auswirkt

von Katja Irle

Globalisierung, Migration, neue Geschlechterverhältnisse, Bildungsexpansion: Dies alles verändert unsere sozialen Strukturen. Wie wirkt sich dieser Wandel auf Gesellschaft und Individuum aus? Diesen Fragen geht die DFG-Forschungsgruppe RISS (»Reconfiguration and Internalization of Social Structure«) nach.

Die Dinge könnten so einfach sein, wenn nämlich alles bliebe, wie es schon immer war: Vor 70 Jahren waren Ärzte in Deutschland ganz überwiegend weiße Männer, die in die Fußstapfen ihrer Väter traten. Das System reproduzierte sich selbst und damit den Erfolg von Repräsentanten einer bestimmten sozialen Schicht. Die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse, aber auch zu einer Berufsgruppe oder einer Religion, ging meist einher mit bestimmten politischen Überzeugungen und damit dem Wahlverhalten. Christen (vor allem Katholikinnen und Katholiken) sowie Landwirte wählten CDU oder CSU. Gewerkschaftlich organisierte Arbeiter gaben der SPD ihre Stimme. Selbstständige machten ihr Kreuz bei der FDP.

Zwar war dieses Schubladendenken schon damals stark vereinfachend und in sich nicht immer stimmig. Für die soziale und politische Ordnung brachte die damit verbundene Vorhersagbarkeit aber eine gewisse Stabilität. Diese gesellschaftlichen Muster und Gewissheiten sind in den vergangenen Jahrzehnten durch Prozesse sozialen Wandels und den Abbau sozialer Ungleichheiten allerdings immer brüchiger geworden. Was einerseits politisch und normativ begrüßenswert erscheint, bringt andererseits auch Verunsicherung und neue gesellschaftliche Konflikte mit sich, weil sich gesellschaftliche Status- und Machtverhältnisse verschieben. In der Folge erscheint vieles unsicherer, komplizierter und konfliktbeladener als früher.

Zurück zum weißen Arzt deutscher Herkunft: Heute sind rund zwei Drittel der Medizinstudenten Frauen. Der Anteil der Ärztinnen und Ärzte mit Migrationshintergrund steigt Jahr für Jahr. Ohne Einwanderung stünde das Gesundheitssystem vor dem Kollaps, erklärte jüngst der Sachverständigenrat für Integration und Migration. Ähnlich wie in der Medizin wird auch das Bild in den meisten anderen Professionen heterogener. Im Bildungssystem gab und gibt es eine enorme Expansion. Nach dem prototypischen Aufstieg des von Ralf Dahrendorf beschriebenen katholischen Arbeitermädchens vom Land in den 1960er Jahren besuchen heute immer mehr Kinder und Jugendliche aus unteren sozialen Schichten und unterschiedlichster ethnischer Herkunft höhere Schulformen. Mehr als ein Drittel verlässt die Schule mit dem Abitur. Auch die Studierendenschaft an den Hochschulen wird Jahr für Jahr hetero­gener. Und so stellt die neue »Unordnung« die alte, oft beharrliche »Ordnung« von Institutionen wie Schule und Universität, aber auch die des Arbeitsmarkts infrage.

AUF DEN PUNKT GEBRACHT
  • Soziostruktureller Wandel verändert die gesellschaftliche und politische Orientierung der Menschen. Einerseits gibt es mehr soziale Durchlässigkeit und Teilhabe, andererseits sind bestimmte Gruppen nach wie vor benachteiligt, und es gibt neue Konflikte.
  • Das RISS-Projekt untersucht die Auswirkungen dieser Veränderungen: Führt die immer heterogener werdende Gesellschaft zu mehr Integration und Einigkeit? Oder nimmt die Identifikation mit der bestehenden Ordnung ab? Wie steht es um die politische Stabilität, wenn alte Muster und Gruppenzugehörigkeiten sich auflösen? Was tritt an ihre Stelle?
  • Ziel von RISS ist es, die komplexen Dimensionen sozialen Wandels, sozialer Ungleichheit, politischer Partizipation und Repräsentation empirisch zu erfassen und zu analysieren – und somit besser zu verstehen.

Fundamentale Veränderungen

»Die Veränderungen, die wir erleben, sind alles andere als marginal. Sie sind so fundamental, dass sie die Sozialstruktur insgesamt verändern«, sagt Daniela Grunow, Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Quantitative Analysen gesellschaftlichen Wandels an der Goethe-Universität. Sie ist Sprecherin der DFG-Forschungsgruppe RISS (FOR5173), die aktuell in sechs Einzelprojekten dieser mehrdimensionalen Verschiebung und ihren Auswirkungen auf der Spur ist. »Die Krux ist ja, dass Menschen nicht nur ein Geschlecht, einen Migrations­status oder eine bestimmte soziale Schicht haben. Sie gehören vielen sozialstrukturellen Gruppen gleichzeitig an, und die soziale Mobilität der letzten Jahrzehnte macht es schwieriger, die damit verbundenen Identitäten und Orientierungen miteinander zu vereinbaren.«

»Die Zuordnungen sind nicht mehr so klar wie früher. Historisch benachteiligte Gruppen erreichen höhere Bildungspositionen, und umgekehrt unterlaufen auch Jugendliche aus Akademikerfamilien klassische Erwartungshaltungen, wenn sie zum Beispiel kein Abitur machen«: Professorin Birgit Becker lehrt an der Goethe-Universität Soziologie mit dem Schwerpunkt empirische Bildungsforschung.

Das RISS-Team will mit einer neuen analytischen Strategie die wachsende Heterogenität besser abbilden und verstehen. Dafür nutzen die Forscherinnen und Forscher zum einen bereits vorhandene Daten wie etwa die jährliche Haushaltsbefragung Mikrozensus oder die allgemeine sozialwissenschaftliche Bevölkerungsbefragung Allbus. Zum anderen entwerfen die Teams neue Befragungs-Designs und sind aktuell dabei, eigene Daten zu erheben, um Subgruppen besser erfassen zu können. Sie kombinieren etwa repräsentative, große Stichproben der deutschen Bevölkerung mit strategischen Oversamples, bei denen eine oder mehrere Gruppen absichtlich überrepräsentiert sind – etwa Jugendliche mit Migrationshintergrund oder Einwanderer aus bestimmten Ländern.

Dahinter steht eine wichtige Erkenntnis: »Das Denken in pauschalen Großgruppen und eindimensionalen Trends führt uns auf die falsche Fährte«, sagt Daniela Grunow, die RISS zusammen mit Professor Richard Traunmüller von der Universität Mannheim verantwortet. »Oft wird beispielsweise angenommen, Immigrantinnen und Immigranten seien traditioneller als Deutsche und deshalb eingewanderte Frauen seltener berufstätig. Das ist aber eine sehr pauschale Diagnose, die so nicht stimmt.« Differenzierte Analysen zeigen, dass auch Deutschstämmige heterogene Orientierungen haben und dass sich die meisten Immigrantengruppen beim Thema Erwerbstätigkeit von Frauen gar nicht so sehr von den Deutschen unterscheiden.

Auswirkung auf die Identität

Die umfassende Datenerhebung in den RISS-Projekten liefert die Basis, um eine Kernfrage der Forschung zu beantworten – nämlich, wie sich soziostrukturelle Verschiebungen auf die Identität der Menschen und auf das Zusammenleben insgesamt auswirken: Wie verändert sich die menschliche Neigung zur Gruppenbildung? Etablieren sich neue Formen des Zusammenseins? Was passiert, wenn der Bildungsauf- oder -abstieg nicht mehr ins klassische Muster passt? Fühlt sich das Kind aus der Arbeiterklasse mit Universitätsabschluss weiter einer niedrigen sozialen Klasse zugehörig oder eher dem Bildungsbürgertum? Verändert sich für Bildungsaufsteiger mit Migrationsgeschichte das Verhältnis zur Herkunftsfamilie? Und wie wirken sich diese Umbrüche und Widersprüche auf die Selbstwirksamkeit einzelner Menschen aus, also auf ihre Überzeugung, auch schwierige Situationen aus eigener Kraft meistern zu können?

»Die Veränderungen, die wir erleben, sind alles andere als marginal«: Daniela Grunow hat an der Goethe-Universität die Professur für Soziologie mit dem Schwerpunkt Quantitative Analysen gesellschaftlichen Wandels inne.

Auf diese Fragen sucht die Soziologin Birgit Becker Antworten. Sie ist Professorin mit dem Schwerpunkt empirische Bildungsforschung und leitet, gemeinsam mit ihrer Kollegin Sigrid Roßteutscher, unter anderem das RISS-Projekt 3, das sich mit der Partizipation von Jugendlichen in Bildung und Politik befasst. Die Forscherinnen und Forscher untersuchen, welche Rolle das Erleben von Selbstwirksamkeit für junge Menschen im System Schule spielt und ob sich ihre dort gebildeten Überzeugungen auf den politischen Bereich übertragen lassen. Vereinfacht gesagt: Misstraut ein Jugendlicher, der Lehrkräfte oder die Schule insgesamt als un­gerecht erlebt, dann auch dem politischen System? Lässt sich hier eine Ursache für Politikverdrossenheit empirisch festmachen?

»Schule ist eine zentrale Institution: Jugendliche verbringen hier nicht nur viel Zeit, sondern machen auch erste Erfahrungen, wie sie und ihre Gruppe in dem System behandelt werden«, beschreibt Birgit Becker den Forschungsansatz. Dabei interessiert die Wissenschaftlerin die Vorstellung der Jugendlichen davon, was sie als Individuen, als Mitglieder einer bestimmten sozialen Gruppe sowie innerhalb des gesellschaftlichen Systems erreichen können – oder eben nicht. Das RISS-Team blickt vor allem auf die sogenannte Statusinkonsistenz: »Die Zuordnungen sind nicht mehr so klar wie früher. ­Historisch benachteiligte Gruppen erreichen höhere Bildungspositionen, und umgekehrt unterlaufen auch Jugendliche aus Akademikerfamilien klassische Erwartungshaltungen, wenn sie zum Beispiel kein Abitur machen. Wir wollen herausfinden, was in den Köpfen der jungen Leute passiert, wenn historische Zusammenhänge nicht mehr stabil sind, sich ändern oder gar auflösen.«

Dafür vergleicht Birgit Becker mit ihrem Team Jugendliche aus verschiedenen Schulformen. Auch sie arbeitet dabei mit Oversamples, um genug Jugendliche mit Migrationshintergrund in der Studie zu haben. Mittels Online-Befragungen will die Forschungsgruppe unter Einbeziehung von fiktiven Personen mehr darüber herausfinden, welche Identitätsmerkmale für die Jugendlichen eine besondere Rolle spielen (etwa Ethnie, soziale Klasse oder Religion). Das RISS-Team interessiert, wie ähnlich sich die Jugendlichen einer konstruierten Person fühlen und ob sie zum Beispiel glauben, dass die Person Erfolg in der Schule oder in der Politik hat. Mithilfe dieser Methode können die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dann statistisch berechnen, welche Identitätsmerkmale für die Befragten wichtig sind und welche Bedeutung sie für ihr eigenes Selbstbild haben.

Erfolg und Misserfolg in Bildungsbiografien

Eine spannende Frage ist dabei, wie Jugendliche mit Erfolg oder Misserfolg in ihrer Bildungs­biografie umgehen. Neigen historisch benachteiligte Gruppen dazu, schlechte Noten oder Schulabschlüsse mit Diskriminierung wegen ihrer ethnischen oder sozialen Herkunft zu verknüpfen – oder empfinden sie es eher als persönliches Leistungsversagen, weil sie zum Beispiel zu wenig gelernt haben? Verändert sich hier etwas, weil die Bildungsexpansion klassische Erklärungsmuster verschiebt? Wie begründet der traditionell begünstigte Sohn aus einer deutschen Akademikerfamilie, dass er den fürs Medizinstudium notwendigen Notenschnitt beim Abi nicht schafft? Und: Entwickeln Jugendliche ein generelles Systemmisstrauen beziehungsweise eine Zuversicht in den Staat und seine Institutionen, je nachdem, welche Erfahrungen sie in ihrer Bildungsbiografie gemacht haben?

Ein weiterer Schritt wäre, zu untersuchen, wie die Institutionen selbst auf den Wandel reagieren. Schaffen sie es, den sich verändernden Verhältnissen gerecht zu werden? Einen Teilaspekt dieser Frage hat Birgit Becker in einem anderen Projekt bereits erforscht, das die Goethe-Universität und das Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und -information (DIPF) gemeinsam beantragt hatten. Hier ging es um den Wandel der Schulen durch Flucht und ­Migration seit dem Jahr 2015. Wie zu erwarten, zeigen die Ergebnisse kein einheitliches Bild, sondern ein breites Spektrum an Reaktionen: »Gerade Schulen in ländlichen Gebieten oder noch existierende Hauptschulen sahen die Zuwanderung als Chance, weiter zu bestehen. Sie waren motiviert, veränderten sich und stellten sich auf die neue Schülerschaft ein«, sagt Birgit Becker. Ein anderes Bild habe sich etwa bei Schulen in großen Städten ergeben: »Sie empfanden die Aufnahme der Geflüchteten oft als Zusatzbelastung.«

Es ist zu erwarten, dass das gemeinsame Projekt von Birgit Becker und Sigrid Roßteutscher, wie auch die anderen Projekte der RISS-Forschungsgruppe, keine Schwarz-Weiß-Ergebnisse liefern werden. Dafür ist der Wandel moderner Gesellschaften viel zu komplex. Klar ist aber schon jetzt: Die Schubladen von einst passen nicht mehr zur Vielschichtigkeit der Gesellschaft von heute und morgen.

Die Autorin

Katja Irle, Jahrgang 1971, ist Bildungs- und Wissenschaftsjournalistin, Autorin und Moderatorin.

irle@schreibenundsprechen.eu

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