Das meiste ist unsichtbar

Auf der Spur der Dunklen Materie

Dunkle Materie in Farben: Wenn sie sichtbar wäre, würde sich Dunkle Materie so in unserem Universum verteilen, wie das Millennium Simulation Project zeigt.

Es gibt sie, die Dunkle Materie. Daran besteht kein Zweifel mehr. Aber woraus besteht sie? Darüber gibt es viele Mutmaßungen. Seitdem es möglich ist, Gravitationswellen zu messen, hat sich eine spannende neue Möglichkeit eröffnet, die Teilcheneigenschaften von Dunkler Materie zu erforschen.

Als ein schweizerischer Astronom Anfang der 1930er Jahre vorschlug, Dunkle Materie als Erklärung für seine rätselhaften Beobachtungen einzuführen, konnte er sich in der Fachwelt zunächst nicht durchsetzen. Fritz Zwicky hatte bemerkt, dass die Gravitationskraft der sichtbaren Sterne in der Milchstraße und in großen Galaxienhaufen nicht ausreicht, um die Gebilde zusammenzuhalten.

In den 1960er Jahren entdeckte die Astronomin Vera Rubin, dass die Umlaufgeschwindigkeit von Sternen in Galaxienhaufen an den Rändern viel schneller ist, als sie es aufgrund der Schwerkraft sein dürfte, die von der sichtbaren Materie ausgeübt wird. Heute ist die Existenz der Dunklen Materie durch die Beobachtung weiterer astrophysikalischer Phänomene gesichert. Und sie macht, zusammen mit der Dunklen Energie, sogar den allergrößten Teil der Energiedichte des Universums aus.

95 Prozent des Universums sind unbekannt

»Das wissen wir relativ genau aus Beobachtungen der kosmischen Mikrowellen-Hintergrundstrahlung und aus der großräumigen Struktur im Universum: 95 Prozent des Universums sind unbekannt«, erläutert Laura Sagunski vom Institut für Theoretische Physik. »Die Dunkle Materie ist etwa fünfmal häufiger als die sichtbare Materie, aus der Sterne und Galaxien bestehen.« Vieles weise darauf hin, dass Dunkle Materie Teilcheneigenschaften haben muss. Das sehe man etwa am Bullet-Cluster, einem Galaxienhaufen im Sternbild des Schiffes. Es handelt sich genau genommen um zwei Haufen, einen größeren, der von einem kleineren wie von einer Geschosskugel durchquert wird (daher der Name von englisch bullet – »Kugel«).

Interessant ist an diesem Gebilde, dass das leuchtende interstellare Gas der Masseverteilung der Galaxienhaufen hinterherhinkt, wie Aufnahmen des Hubble-Weltraumteleskops zeigen. Vermutlich steckt die Dunkle Materie hinter dieser »Verklumpung« der Galaxienhaufen im Zentrum. »Die beiden Galaxienhaufen sind fast kollisionslos durcheinander durchgelaufen. Das können wir erklären, wenn wir annehmen, dass Dunkle Materie Teilcheneigenschaften hat und dass diese Teilchen fast nicht miteinander kollidieren.« Zwischen den beiden interstellaren Gaswolken gibt es jedoch Zusammenstöße, die sie abbremsen. Deshalb hinkt das Gas den Galaxien hinterher. Sagunski interessiert: Was sind diese Teilchen aus Dunkler Materie? Es könnten zum Beispiel selbstwechselwirkende Dunkle Materie, primordiale – sehr alte und leichte – Schwarze Löcher, MACHOs oder Axionen sein.

Machos, Schwächlinge und andere Kandidaten

Die Abkürzung MACHO steht für »massereiche, astrophysikalische, kompakte Halo-Objekte« und bezieht sich auf die Beobachtung, dass diese Objekte mit ihrem ungeheuren Schwerefeld die Raumzeit so verbiegen, dass eine Gravitationslinse für das Sternenlicht entsteht. Dieses wird wie durch eine Linse fokussiert, sodass der Stern vorübergehend heller aufleuchtet, wenn er sich in der Nähe eines MACHOs befindet.

Es könnte aber auch sein, dass sich innerhalb von Neutronensternen Dunkle Materie befindet, oder es gibt kompakte Sterne, die vollständig aus Dunkler Materie bestehen. Dieser Frage geht Sagunski mit ihrer Gruppe im Forschungscluster ELEMENTS und innerhalb des Sonderforschungsbereichs »Strong-interaction matter under extreme conditions« nach. In diesem Cluster, an dem außer der Goethe-Universität auch die Universitäten in Gießen und Darmstadt sowie das GSI Helmholtzzentrum in Darmstadt beteiligt sind, bringen Forscherinnen und Forscher Wissen aus der Kern-, der Teilchen- und der Astrophysik zusammen. Dabei geht es unter anderem um die Frage, wie Neutronensterne aufgebaut sind.

»Bisher wissen wir nicht viel über die Teilcheneigenschaften von Dunkler Materie, speziell über ihre Masse. Die leichtesten wären die Axionen, das sind hypothetische Teilchen, die man eingeführt hat, um das Standardmodell der Elementarteilchenphysik zu erweitern. Dann kämen die WIMPs und dann die primordialen Schwarzen Löcher«, so die Physikerin. WIMP steht für »Weakly interacting massive particles«, also schwach wechselwirkende, massive Teilchen. »Wimp« bedeutet aber auch Weichei – ein Wortspiel, das den Kontrast zu den massereichen »Machos« unterstreicht.

Wenn die Masse an Dunkler Materie groß genug ist und wenn sich ihre Bewegung ändert, sollten die Raumzeit-Änderungen selbst hier auf der Erde zu messen sein, als Gravitationswellen. Denn Gravitationswellen entstehen immer, wenn Massen beschleunigt werden, ähnlich der elektromagnetischen Wellen, die von beschleunigten Ladungen in einer Antenne abgestrahlt werden. Allerdings sind Gravitationswellen sehr viel schwächer, weshalb man sie wohl nur bei sehr massereichen astrophysikalischen Objekten überhaupt messen kann: bei verschmelzenden Schwarzen Löchern etwa oder Neutronensternen, die einander umkreisen.

Signale von Löchern und Neutronensternen

2015 gelang es erstmals mithilfe der LIGODetektoren in den USA, die von Einstein bereits 1916 vorhergesagten Gravitationswellen direkt zu messen. Sie stammten von zwei verschmelzenden Schwarzen Löchern. Zwei Jahre später wurde eine weitere spektakuläre direkte Messung von Gravitationswellen mithilfe der LIGODetektoren und des Virgo-Detektors bekannt gegeben, die aus der Kollision zweier Neutronensterne resultierte. Laura Sagunski kann sich noch genau an diesen Tag erinnern: »Ich hielt einen Vortrag zu exakt diesem Thema am Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching.« Für Sagunski und ihre Kolleginnen und Kollegen hat sich damit ein Tor zu revolutionärer neuer Forschung aufgetan. Denn erstmals können sie experimentelle Daten von Gravitationswellen dazu nutzen, nach neuen physikalischen Phänomenen zu suchen, die von bisher unbekannten Dunkle-Materie-Teilchen herrühren. Zwar weiß man bisher noch nicht, woraus Dunkle Materie wirklich besteht, aber die Frankfurter Theoretikerin hat klare Favoriten. Laura Sagunski spricht von den diversen Kandidaten für Dunkle Materie wie von guten Bekannten. Einer ihrer Favoriten sind die Axionen. Sagunski hat erstmalig im Rahmen des Forschungsclusters ELEMENTS Teilcheneigenschaften von Axionen, wie etwa die Masse und die Zerfallskonstante, mit den LIGO-Daten erforscht.

Der Bullet Cluster zeigt zwei Gruppen von Galaxien, sogenannte Galaxiehaufen (jeweils blaue und rote Hintergrundfärbung). Der kleinere Galaxiehaufen (rechts) hat den größeren von rechts nach links durchquert. Die größte Masse der Galaxiehaufen macht das Gas aus (rot), das die Galaxienhaufen umgibt. Es wurde durch die Kollision abgebremst, während die Galaxien wegen ihrer großen Entfernung zueinander unbeschadet geblieben sind. Die Masse der Galaxiehaufen kann auch anhand der Ablenkung des Lichts dahinterliegender Lichtquellen bestimmt werden, dem sogenannten Gravitationslinseneffekt. Dabei zeigt sich, dass die Masse der Haufen hauptsächlich um die Galaxien herum verteilt ist (blau) und nicht im sichtbaren Gas liegt: ein Effekt der unsicht­baren Dunklen Materie.

Fasziniert von dunklen Photonen

Bisher weiß man, dass die Teilchen der Dunklen Materie untereinander über die Schwerkraft wechselwirken. Aber möglicherweise tun sie das auch noch über neue, bisher unbekannte Kräfte. »Man bräuchte dazu ein weiteres Austauschteilchen, das analog zu den Photonen bei der elektromagnetischen Wechselwirkung als dunkles Photon bezeichnet wird«, sagt Sagunski. Auch das sei zurzeit nur eine Hypothese, aber man spürt, welche Faszination für Sagunski von diesen »wirklich spannenden « Objekten ausgeht. Denn die Annahme dunkler Photonen erlaubt Vorhersagen über die Wechselwirkungen von Dunkler Materie. Es kann zum Beispiel sein, dass Dunkle Materie nicht wie üblicherweise angenommen kollisionslos ist, sondern Dunkle-Materie-Teilchen miteinander selbstwechselwirken können. Diese Selbstwechselwirkung kann über ein dunkles Photon als Austauschteilchen vermittelt werden.

»Ich persönlich bin ein Riesenfan der selbstwechselwirkenden Dunklen Materie, weil wir damit zum Beispiel die Rotationskurven von Zwerg-Galaxien viel besser erklären können«, sagt Sagunski. Die erwähnten Rotationskurven stellen die Umlaufgeschwindigkeit der Sterne in Abhängigkeit von ihrer Entfernung vom Zentrum der Galaxie dar. Oft gibt es Diskrepanzen zwischen den beobachteten und berechneten Kurven, wie schon Vera Rubin in den 1960er Jahren aufgefallen war. Bei Zwerggalaxien kann selbstwechselwirkende Dunkle Materie diese Diskrepanzen besser erklären als kollisionslose Dunkle Materie.

Zur Untersuchung von selbstwechselwirkender Dunkler Materie mit Gravitationswellen zieht Sagunski supermassive Schwarze Löcher heran, die zwischen tausend und einer Million Mal schwerer sind als die Sonne. Deren Gravitationskraft ist so stark, dass sich riesige Halos aus Dunkler Materie um sie herum bilden müssten. Anders als die Halos aus Licht, die Himmelskörper wie ein Heiligenschein umgeben, wären sie aber unsichtbar.

Kompakte kleinere Objekte wie Schwarze Löcher oder Neutronensterne, die das Schwarze Loch umkreisen, verlieren dabei Energie, und zwar umso mehr, je dichter der Halo aus Dunkler Materie ist. »Wir haben uns jetzt gerade angeschaut, ob wir anhand der Gravitationswellen, die so ein System aussendet, auf das Dichteprofil und die Teilcheneigenschaften der Dunklen Materie zurückschließen können. Und das ist tatsächlich möglich«, erklärt Sagunski.

»Wir«, das ist ihre Gruppe, bestehend aus einem Postdoktoranden, je vier Doktoranden, Master- und Bachelorstudierenden. Die Arbeit im Team ist ihr wichtig: »Ich ziehe einen großen Teil meiner Energie aus der Zusammenarbeit mit den tollen Menschen um mich herum«, sagt sie. Und sie schätzt eine Umgebung, in der Frauen und Männer mit vielfältiger Herkunft und unterschiedlichem Fachwissen zusammenarbeiten. »Das ist eine der ganz großen Stärken von ELEMENTS und das macht auch die Projekte für mich besonders.«

So funktioniert die Gravitationslinse: Ein massereicher Galaxiehaufen verformt die Raumzeit (Kästchenraster) und beugt so das Licht einer entfernten Galaxie.

Ein Blick in die Zukunft

Die experimentellen Daten, mit denen Sagunski die neusten Berechnungen ihrer Gruppe prüfen möchte, werden noch etwas auf sich warten lassen. Sie sollen Mitte der 2030er Jahre von dem geplanten Weltraum-Laser-Interferometer LISA kommen. Das gemeinsam von den europäischen und amerikanischen Weltraumbehörden ESA und NASA geplante Experiment besteht aus drei Satelliten, die in Form eines Dreiecks mit einer Kantenlänge von 2,5 Millionen (!) Kilometern angeordnet sind. Ebenso wie LIGO/ Virgo wird das Experiment Gravitationswellen messen. Während die LIGO/Virgo-Detektoren Signale von verschmelzenden Neutronensternen oder Schwarzen Löchern bei relativ großen Frequenzen messen, wird der LISA-Dektor aufgrund seiner Größe jedoch Signale bei kleineren Frequenzen messen können, beispielsweise die von supermassiven Schwarzen Löchern, die von kompakten Objekten umkreist werden. Damit birgt LISA jede Menge Potenzial für spannende neue Entdeckungen.

Der Virgo-Detektor nahe Pisa zeichnete zusammen mit den US-amerikanischen LIGO-Detektoren 2015 erstmals Gravitationswellen zweier kollidierender Neutronensterne auf. (Bild links)

Einstweilen haben Laura Sagunski und ihr Team aber genügend andere Mysterien der Dunklen Materie, die sie im Grenzgebiet zwischen Teilchenphysik, Kosmologie und Gravitationswellenphysik untersuchen können. Eine davon ist die Möglichkeit, die Effekte, für die jetzt die Dunkle Materie herangezogen wird, noch ganz anders zu erklären. Nämlich dadurch, dass Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie noch erweitert oder verändert werden muss. Auch für diese Möglichkeit können Sagunski und ihr Team den Realitätscheck durch den Abgleich mit Daten von Gravitationswellen machen. »Die infrage kommenden Theorien sind inzwischen stark eingeschränkt, aber definitiv ausschließen können wir die Möglichkeit nicht«, erläutert sie.

Zur Person
Prof. Dr. Laura Sagunski promovierte an der Universität Hamburg und am Forschungszentrums DESY in Hamburg. Von 2016 bis 2019 war sie Postdoktorandin an der York University in Toronto and am Perimeter Institute for Theoretical Physics in Waterloo, Kanada. Nach einem Jahr an der RWTH Aachen nahm sie 2020 den Ruf auf eine Professur für Theoretische Gravitationswellenphysik an der Goethe-Universität an. Sie ist Principle Investigator im Forschungscluster ELEMENTS und dem SFB »Stark wechselwirkende Materie unter extremen Bedingungen«. 2022 organisierte sie die Online-Konferenz »Women in the World of Physics«, an der mehr als 950 Physikerinnen aus aller Welt teilnahmen.


sagunski@itp.uni-frankfurt.de


Die Autorin: Dr. Anne Hardy, Jahrgang 1965, ist Diplom-Physikerin und promovierte Medizin- und Technikhistorikerin. Sie arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin in Frankfurt.
anne.hardy@t-online.de


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