Darf das Recht zu höheren Zwecken gebrochen werden? Ein Streitgespräch über die Protestform des »zivilen Ungehorsams«
Um schnelleres Handeln in Sachen Klimaschutz zu erzwingen, kleben sich Aktivisten der »Letzten Generation« auf der Straße fest, werfen Suppe auf Kunstwerke und versuchen, ihre Ziele durch einen Hungerstreik zu erzwingen. Wie weit darf »ziviler Ungehorsam« gehen, ohne die Rechtsordnung zu gefährden? Darüber sprach Dirk Frank mit Samira Akbarian und Uwe Volkmann, die beide zum Öffentlichen Recht forschen.
Dirk Frank: Frau Akbarian, Sie beklagen sich darüber, dass sich die Rechtswissenschaft mit der Legitimität dieser Protestform bisher zu wenig beschäftigt habe.
Samira Akbarian: Bis vor wenigen Jahren gab es noch wenig dazu. Ich habe in meiner Dissertation versucht, die rechtsstaatlich-demokratische Bedeutung zivilen Ungehorsams zugleich auch als Frage des Rechts und der Gerechtigkeit zu betrachten. In den Politikwissenschaften wurde das schon aufgegriffen, aber noch nicht so in den Rechtswissenschaften.
Uwe Volkmann: Ich müsste an der Stelle meinen Vorgänger Günter Frankenberg nennen, der sich schon früh mit dem Phänomen des zivilen Ungehorsams beschäftigt hat. Neben vereinzelten, auch sporadischen Beschäftigungen ist eine systematische Behandlung des Gesamtgegenstandes auch in Verbindung mit politischer Theorie aber bislang selten geblieben.
»Die öffentliche Meinung verkennt die demokratische Bedeutung von Protesten«
Frank: Wenn wir vielleicht mal auf die aktuelle Relevanz des Themas zu sprechen kommen: Da kann man auch eine gewisse Polarisierung beobachten. Die einen sehen im Ankleben der Klimaaktivisten einen notwendigen Protest, um für die dramatische Klimaveränderung zu sensibilisieren. Eine andere Gruppe sagt, das Anliegen möge berechtigt sein, aber die Maßnahmen zielten ins Uferlose.
Akbarian: Wir gehen davon aus, dass die Demokratie, insbesondere die repräsentative Mehrheitsdemokratie, ein faires Verfahren bereitstellt. Das ist jedoch eine Fehlvorstellung, weil nicht alle gleichermaßen an demokratischen Mehrheitsverfahren teilhaben können. Insofern ist gerade die repräsentative Mehrheitsdemokratie auf Versammlungen und Proteste angewiesen. Diese dürfen und sollen auch »stören«, also in die öffentliche Ordnung eingreifen. Davon zu unterscheiden ist die Frage, inwieweit Störungen des öffentlichen Raums noch von der Versammlungsfreiheit geschützt sind. Hier verkennen die öffentliche Meinung und auch die Rechtsprechung meiner Ansicht nach die demokratische Bedeutung von Protesten und fassen den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit zu eng.
Volkmann: Ich würde dem insoweit zustimmen, als ich sagen würde, dass die derzeitige Debatte um die strafrechtliche Verfolgung der Klimaschützer an vielen Stellen überdreht. Auf der anderen Seite würde ich Frau Akbarian an einem Punkt widersprechen: dass der zivile Ungehorsam auf ein Repräsentationsdefizit reagiert. Der politikwissenschaftlichen Forschung zufolge sind zwar bestimmte Gruppen mit ihren Anschauungen im politischen Betrieb tatsächlich nicht angemessen repräsentiert. Das wird auch als eine der Ursachen für die Entstehung populistischer oder autoritärer Bewegungen angesehen. Dies sind aber typischerweise die sozial schlechter gestellten Schichten, die dann auch gar nicht mehr zur Wahl gehen, weil sie sich davon sowieso nichts versprechen. Der Klimaschutz ist aber ein Thema, von dem man sich eine stärkere Repräsentanz im politischen System kaum noch vorstellen kann.
Frank: Ein bekannter Vorwurf gegenüber dem »zivilen Ungehorsam« lautet, dass eine intellektuelle Elite für sich beanspruche zu wissen, was zu tun sei. Demgegenüber würde die Mehrheit der Bevölkerung als unwissend betrachtet.
Volkmann: Das ist in der Tat in zweierlei Hinsicht problematisch: einmal insofern, als wir als Mitglieder einer politischen Gemeinschaft verpflichtet sind, uns an deren rechtliche Regeln zu halten. Zweitens sprechen wir im Sinne der demokratischen Gleichheit allen das gleiche Vermögen zu, politische Fragen zu entscheiden, das wir uns selbst zusprechen. Das ist aber natürlich auch eine ungeheure Kränkung: Warum soll meine eigene Auffassung eigentlich genauso viel oder nur genauso wenig zählen wie die von jemandem, der von der Sache viel weniger versteht als ich? Mit dem zivilen Ungehorsam tritt man gewissermaßen aus der demokratischen Gleichheit heraus, weil man für sich die Lösung eines Problems als unabdingbar richtig erkannt hat.
Akbarian: Ich stimme Ihnen zu, dass beim zivilen Ungehorsam der Vorwurf der Besserwisserei nicht völlig von der Hand zu weisen ist. Dass ein Thema repräsentiert ist, bedeutet aber noch lange nicht, dass auch die effektiven Maßnahmen zur Lösung des Problems ergriffen werden. Außerdem wird beim Klimaschutz der zivile Ungehorsam nicht unbedingt von denjenigen praktiziert, die am besten repräsentiert sind. Es fing an mit Schüler*innen, die noch gar nicht wählen durften. Und sie vertreten auch Interessen von Personen, die sich gar nicht selbst vertreten können, beispielsweise Menschen aus dem globalen Süden oder auch kommenden Generationen, die noch nicht geboren sind. Ziviler Ungehorsam erfordert immer auch einen enormen Mut. Bei den Aktionen werden Menschen öfter verprügelt oder sogar angefahren. Das nehmen meist nur jene auf sich, die selbst nicht in prekären Lebenssituationen stecken. Deswegen ist es auch kein Zufall, dass es gesellschaftliche Eliten sind, die diesen Mut aufbringen können.
Frank: Gibt es auch Grenzen des »zivilen Ungehorsams«? Wird über solche Grenzen diskutiert?
Volkmann: Wenn man sich die Positionen von John Rawls oder Jürgen Habermas anschaut, dann wird der zivile Ungehorsam einerseits gerechtfertigt, aber es werden auch relativ klare Schranken postuliert, wie das Ganze vonstattengehen soll. So sollen die Aktionen vorab angekündigt werden und nur symbolischer Art sein. Die Klimaschützer hingegen sagen, wir hören erst dann auf, wenn unsere Forderungen auch tatsächlich durchgesetzt sind. Rawls sagt, der zivile Ungehorsam müsse auch die Effizienz des Protests im politischen System einkalkulieren. Dass die Klimaschutzziele eigentlich von allen bejaht, aber die Aktionen einhellig abgelehnt werden, sollte dann innerhalb der Gruppe des zivilen Ungehorsams auch mal diskutiert werden.
Akbarian: Die Klimaschützer kündigen ihre Aktionen meistens an. Sie geben Pressekonferenzen und treten in die Kommunikation mit der Öffentlichkeit ein.
Volkmann: Aber nicht, wenn sie Flughäfen blockieren.
Akbarian: Stimmt. Interessanterweise ist es so, dass Habermas und Rawls fordern, dass der Protest nur symbolisch sein dürfte; umgekehrt haben aber die Gerichte, die Aktionen zivilen Ungehorsams als gerechtfertigt anerkannt haben, betont, dass es geradezu eine Voraussetzung sei, dass es nicht nur symbolisch ist. Das zeigt, dass die Kriterien von Rawls und Habermas umstritten und in mancherlei Hinsicht zu eng gefasst sind.
Frank: Man spürt momentan bei vielen Bürgerinnen und Bürgern auch eine gewisse Sorge, dass der Rechtsstaat herausgefordert wird. Dass mit dem Verweis auf den dramatischer werdenden Klimawandel auch die Protestformen grenzenlos werden könnten.
Volkmann: An sich ist es kein Problem, dass Recht gebrochen wird, das passiert täglich zigtausendfach. Aber der normale Rechtsbrecher brüstet sich damit nicht und wenn, dann höchstens im kleinen Kreis, aber nicht öffentlich. Die Klimaaktivisten hingegen sagen: Wir setzen uns bewusst über das Recht hinweg für das höhere Ziel. Das stellt die Rechtsgeltung grundsätzlich infrage.
Akbarian: Damit verdeutlichen sie aber auch eine Kernkomponente demokratischer Ordnung, nämlich, dass das Recht auch anders ausgelegt werden kann. Gesetze sind nicht in Stein gemeißelt. Darauf zielt der Protest auch ab: Er macht darauf aufmerksam, dass demokratische Ordnungen sich verändern können und dass die Bürger*innen die Macht haben, diese Veränderungen herbeizuführen.
»Gesetze sind nicht in Stein gemeißelt«
Volkmann: Aber wir müssen schon innerhalb der demokratischen Ordnung bleiben, die sich ja gegenüber anderen Ordnungen dadurch auszeichnet, dass sie sich selbst verändern kann.
Akbarian: Nur manchmal eben nicht. Demokratische Inklusion ist immer nur durch Exklusion möglich; das bedeutet also, dass hier viele Menschen dem Recht unterworfen sind und überhaupt nicht mitbestimmen können. Was die Mehrheit beschließt beziehungsweise die Person, die die Mehrheit wählt, gilt für die gesamte Bevölkerung für einen Zeitraum von vier Jahren. Und es sind nun mal gesellschaftliche Eliten, denen es leichter fällt, sich in den Bundestag wählen zu lassen.
Volkmann: Das Mehrheitsprinzip ist aber auch wieder so ein wunder Punkt, denn die Akzeptanz des Mehrheitsprinzips setzt natürlich die Bereitschaft voraus, die getroffenen Entscheidungen zu akzeptieren.
Frank: Es gibt ja gewissermaßen linken und rechten »zivilen Ungehorsam«. Und der von links, so die Vermutung, ist eher friedlich.
Akbarian: Meines Erachtens fördert der zivile Ungehorsam die demokratische Gesellschaft. Wie macht er das? Indem er Freiheit und Gleichheit aller in der demokratischen Gemeinschaft akzeptiert. Und das funktioniert in der Protestform dadurch, dass sich wahrhaft zivil Ungehorsame auf gewaltlose Möglichkeiten des Protests beschränken.
Volkmann: Es gibt nun aber auch andere Gruppen, die sich den zivilen Ungehorsam zu eigen machen, zum Beispiel die sogenannten Identitären. Wenn ein Schauspiel aufgeführt wird, das denen nicht gefällt, dann setzen sie sich auf die Bühne und versuchen, das zu verhindern. Damit kapern die Identitären diese Protestform. Wie können wir jetzt den guten und den bösen Ungehorsam voneinander abgrenzen? Das geht nicht über die verwendeten Mittel, der Rechtsbruch ist auf beiden Seiten derselbe. Kann man bestimmte Ziele als richtig auszeichnen und andere nicht? Wenn es ganz klar gegen bestimmte Verfassungsinhalte geht, vielleicht schon. Aber es gibt viele Ziele, die bewegen sich im Großen und Ganzen noch im Rahmen dessen, was demokratisch verhandelt werden kann.
Frank: Was wünschen Sie sich denn eigentlich als Rechtswissenschaftler*innen? Dass die Gesellschaft vielleicht auch lernt, solche Aktionen zu ertragen und nicht immer gleich nach dem Rechtsstaat schreit?
Akbarian: Ich denke, dass demokratische Ordnung auch Unordnung oder Störung dieser Ordnung mit beinhaltet, sonst wären wir in einer absolutistischen Ordnung. Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich immer verändern kann – und wie werden diese Veränderungen angestoßen? Indem die Ordnung unterbrochen wird. Und diese Unterbrechung führt punktuell zu Unordnung, die dann wieder zu einer neuen demokratischen Ordnung wird.
Volkmann: Die Wirkung des zivilen Ungehorsams besteht aber ja auch darin, dass man mit einem relativ geringen Einsatz von Mitteln und Personal eine hohe Aufmerksamkeit erzielen kann, und zwar gerade wegen des darin liegenden Rechtsbruchs. Die einzige andere vergleichbare Möglichkeit wäre Masse: Wenn 100000 oder 200000 gegen etwas oder für etwas demonstrieren, ist die Aufmerksamkeit dadurch da. Aber wenn nun alle sagten: Klima-Kleber sind normal, das nehmen wir so hin, dann ist das Protestpotenzial auch schnell verpufft.
Akbarian: Wenn es so viele Anliegen gäbe, dass sich ständig irgendwo jemand festklebt und damit die Ordnung durcheinanderbringt, dann wären wir in einem quasi revolutionären Zustand – das wäre dann wirklich eine große Gefahr für die Demokratie. Aber bis dahin, würde ich sagen, sind es demokratische Mechanismen, die, je nachdem, welche Gerechtigkeits- oder Demokratieprobleme sich in der Gesellschaft ergeben, punktuell mal aufkommen und dann von der demokratischen Gesellschaft auch gelöst werden können.
Fragen: Dirk Frank