Der Westen ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt

Der Kultur- und Literaturwissenschaftler Ladislaus Ludescher hat in einer Langzeitstudie untersucht, wie der Globale Süden in den Nachrichten behandelt wird. Sein Fazit ist niederschmetternd: In der Tagesschau, aber auch in ausgewählten Printmedien spielten Themen der südlichen Erdhalbkugel kaum oder gar keine Rolle. Die Corona-Pandemie habe diese mediale Einseitigkeit sogar noch verstärkt.

Anzahl der Berichte, in denen die jeweiligen Staaten in der »Tagesschau«-Hauptsendung 2007 bis 2016 erwähnt wurden. Grafik: Ladislaus Ludescher

Wird die globale Wirklichkeit adäquat in den Medien abgebildet? Dr. Ladislaus Ludescher hatte immer schon den Eindruck, dass Länder der sogenannten „Dritten Welt“ bzw. „Entwicklungs- und Schwellenländer“ in der Berichterstattung westlicher Medien unterrepräsentiert sind. Das Thema ließ ihm keine Ruhe, er wollte der Sache einmal auf den Grund gehen. Ludescher fokussierte sich bei seiner Analyse auf die wichtigste deutschsprachige Nachrichtensendung, die Tagesschau, und zog weitere Sendungen („Hart aber fair“, „Maischberger“ etc.) sowie nationale wie internationale Printmedien hinzu. Nach ersten Analysen hat der Untersuchungszeitraum mit knapp 5500 Sendungen der Tagesschau in den Jahren 1996 sowie 2007 bis 2020 mittlerweile 15 Jahre erreicht. „Die Ergebnisse in meiner Studie ‚Vergessene Welten und blinde Flecken‘ zeigen deutlich, dass sich die Beiträge überproportional intensiv auf den Westen und die Länder der ,Middle East North Africa‘-Region konzentrieren. Dies geht zulasten der Staaten des Globalen Südens“, sagt Ludescher. Nehme man die Bevölkerungszahlen der Länder als Grundlage, so zeige sich, dass der größte Teil des Globalen Südens stark unterrepräsentiert sei. Dies zeichne sich besonders deutlich ab, wenn man sich die Hungersnot in Ostafrika von 2017 anschaue: „Ende des Jahres 2017 waren fast 37 Millionen Menschen von einer Gefahr, die UN-Nothilfekoordinator Stephen O’Brien als ‚größte drohende humanitäre Katastrophe seit Gründung der Vereinten Nationen‘ bezeichnet hatte, betroffen. Dennoch entfielen auf dieses Thema in der Hauptausgabe der Tagesschau von den rund 3160 Berichten (ohne Sport), die im Jahr ausgestrahlt wurden, gerade einmal elf Beiträge.“ Die geografische Nähe entscheide über die Auswahl der Themen, aber auch den Umfang der Beiträge.

Auch globale Themen werden »eingemeindet«

Es sei sicherlich menschlich, sich für das Naheliegende mehr zu interessieren als für Themen von fernen Kontinenten, sagt Ludescher. Aber man dürfe nicht die Augen davor verschließen, dass selbst die „Flüchtlingskrise 2015“, die zu einer großen Anteilnahme seitens der europäischen und besonders der deutschen Bevölkerung geführt habe, vor allem auch auf die Geflüchteten bezogen gewesen sei, die sich auf den Weg nach Europa gemacht haben. „Es gibt auf der Welt über 80 Millionen Flüchtlinge, viele davon sind Binnenflüchtlinge, die im Globalen Süden bleiben; deren Schicksale werden kaum in unseren Medien behandelt.“ Ludescher kritisiert, dass selbst die Dreifachkatastrophe von Fukushima 2011 in den deutschen Medien vor allem zu einer Diskussion über deutsche Atomkraftwerke geführt habe, obwohl natürlich ein Land wie Japan vor allem von der ökologischen, humanitären und wirtschaftlichen Katstrophe betroffen gewesen sei. Auch die Berichterstattung über COVID-19 zeige deutlich die Selbstbezogenheit der heimischen Presse, was angesichts einer globalen Pandemie besonders fatal sei; eine Auswertung der Berichterstattung in der Tagesschau um 20:00 Uhr zeige, dass im Jahr 2020 fast die Hälfte der Sendezeit (ohne Sport und Wetter) auf das Virus und seine Auswirkungen entfallen sei, im Zuge der ersten Corona- Welle seien es im April des Jahres sogar ca. 80 Prozent gewesen.

„An 224 von 366 Tagen war in der Tagesschau die Pandemie das Topthema des Tages. In etwa nur 5 Prozent ihrer Sendezeit, in der sich die Tagesschau mit der Pandemie beschäftigte, wurde über den Globalen Süden berichtet und hier vor allem über China. Etwa zwei Drittel der Pandemie-Sendezeit widmete sie den Entwicklungen in Deutschland, ca. 29 Prozent denen im Globalen Norden, betont Ludescher, und stellt fest: „Die massive Vernachlässigung des Globalen Südens in der Berichterstattung der Tagesschau im Pandemie-Jahr 2020 stellt den bisherigen Höhepunkt ihrer permanenten medialen Marginalisierung dar.“

Medienkritik, keine Medienschelte

Ladislaus Ludescher geht mit seiner Studie aktiv auf Medien zu, spricht Redaktionen an und bekommt ab und zu auch positive Rückmeldungen. „Manche Redakteure sind von meiner Analyse sehr überrascht und sehen durchaus die Defizite ihrer Arbeit.“ Richtet sich seine Medienkritik also hauptsächlich an Journalistinnen? Ludescher legt Wert auf die Feststellung, dass er keine Medienschelte betreibe. Anzunehmen, dass sich Journalistinnen über die Reduktion oder gar Ausblendung bestimmter Themen absprechen würden, sei ganz und gar abwegig, betont er. Er hofft, dass seine Studie nicht missbraucht werde, um die vollkommen unzutreffende These von der „Lügenpresse“ zu untermauern. Wie kann es aber seiner Ansicht nach zu einer derartigen thematischen Unterrepräsentierung kommen? „Es gibt nun mal Themen, welche die Berichterstattung unserer Leitmedien wie die Tagesschau dominieren; das sind vor allem Themen, die qua ihrer geografischen oder auch inhaltlichen Nähe Eingang finden. Das funktioniert nach gewissen redaktionellen Routinen. Andere Medien reagieren darauf und somit wird gewissermaßen aus einem Thema ein Selbstläufer“, erklärt Ludescher. Journalist* innen, die diesen Zirkel durchbrechen und mit einem neuen oder entlegenen Thema punkten wollen, täten sich eher schwer damit. Aber auch die Rezipient*innen seien heute gefragt, ihren Beitrag für eine ausgewogene Berichterstattung zu leisten: Über Social Media könnten sie, so Ludescher, z. B. ihren Unmut über die Abwesenheit oder mangelnde Berücksichtigung von Themen zum Ausdruck bringen. Er hofft jedenfalls, dass seine Studie auch über die damit verbundene Ausstellung noch auf viele Interessierte trifft – „vor allem junge Menschen können mit der Thematik auf ideale Weise im Unterricht vertraut gemacht werden.“

Website zur Studie und Ausstellung »Vergessene Welten und blinde Flecken« www.ivr-heidelberg.de

Zusammenfassung der Ergebnisse auf YouTube

Dr. Ladislaus Ludescher ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deutsche Literatur und ihre Didaktik der Goethe-Universität sowie Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität Mannheim. Zu seinen Schwerpunkten gehören die deutsch-amerikanischen Literatur- und Kulturbeziehungen.

Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 4/2021 (PDF) des UniReport erschienen.

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