Eine Kristallkugel besitzt auch Raimond Maurer nicht. Obwohl die zurzeit ganz praktisch sein könnte: Gerade in Zeiten von Null-, in Extremfällen auch Strafzinsen und inflationsbereinigt deutlich negativen Zinsen erscheint Maurer vielen Menschen prädestiniert, ihnen Anlagetipps zu geben – trägt sein Lehrstuhl am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften doch den Namen „Professur für BWL, insb. Investment, Portfolio-Management und Alterssicherung“. Ihn und seine Arbeitsgruppe an der Goethe-Universität erreichen nahezu täglich entsprechende Fragen, doch Maurer stellt klar: „Wir geben keine Tipps für das nächste Jahr.“
Stattdessen stünden im Zentrum seiner Forschung Spar- und Anlageentscheidungen im Laufe des Lebens mit seinen Chancen und Risiken – gleich, ob es um Gesundheit geht, um die Familienverhältnisse, den Arbeits- oder Finanzmarkt. „Wir betrachten einen sehr langen Zeitraum – ein Mensch wird geboren, wächst heran, macht eine Ausbildung, beginnt damit, Geld anzusparen, gibt das Geld teilweise wieder aus, möchte vielleicht was vererben… es geht also darum, Finanzentscheidungen so zu treffen, dass ein privater Haushalt sein Wohlbefinden über sein ganzes Leben optimiert“, erläutert Maurer. „Wir erforschen das anhand von ‚dynamischen Lebenszyklusmodellen‘.“
Auskömmliches Versorgungsniveau im Alter – nur wie?
Wenn diese Modelle ein realistisches Bild menschlicher Lebensläufe liefern sollen, müssen sie äußerst komplex sein: „Sie haben ja nicht nur Einkünfte durch Lohn, Gehalt und Honorare, von denen Sie Ihren Lebensunterhalt bestreiten. Sondern Sie zahlen Steuern und Sozialabgaben“, zählt Maurer auf, „also müssen unsere Modelle die zahlreichen Regeln des Steuer- und Sozialversicherungsrechts angemessen berücksichtigen. Außerdem werden Sie kurzfristig verfügbare Reserven bilden: Vielleicht müssen Sie mal eine Zeit der Arbeitslosigkeit überbrücken, und es kann auch sein, dass in einem halben Jahr der Kühlschrank kaputtgeht.“
Wenn im Alter die Erwerbseinkünfte wegfallen, erhalten die meisten Menschen Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung, allerdings deutlich unterhalb ihres einstigen Einkommens, sagt Maurer. Dazu komme die betriebliche Alterssicherung, also die Leistungen eines Arbeitgebers für seine ehemaligen Angestellten. „Und außerdem haben Sie die private Altersvorsorge, bei der Sie in der Berufsphase Teile Ihres Einkommens zurückbehalten, um sie auf dem Kapitalmarkt anzulegen und mit den Erträgen später Ihre Rente aufzubessern“, fährt Maurer fort.
„Die Frage ist nur, wie bauen Sie sich aus den verschiedenen Instrumenten des Kapitalmarktes einen Mix auf, der Ihnen im Alter ein auskömmliches Versorgungsniveau bringt?“ Maurer zählt Sektoren des Kapitalmarktes auf, um dessen Vielfalt zu illustrieren: „Da gibt es die Anleihen europäischer Staaten, die auf den Zinsmärkten gehandelt werden. Zurzeit ist das Zinsniveau allerdings so niedrig, dass Staatsanleihen für die Altersvorsorge nicht besonders attraktiv sind.“
Daneben nennt Maurer Aktienmärkte, Immobilienmärkte und Versicherungsmärkte, wobei er klarstellt: „Langfristig betrachtet lohnt es sich sehr wohl, wenn man einen deutlichen Teil seiner Altersvorsorge auf den internationalen Aktienmärkten aufbaut – kurzfristige Schwankungen gleichen sich aus, ebenso temporäre Krisen. Wer Anfang des Jahres 2000 in den deutschen Aktienindex investiert hat, musste in den folgenden zwanzig Jahren zwei Finanzkrisen mitmachen, enorme Kursschwankungen ertragen und konnte trotzdem sein Geld fast verdoppeln.“
Simulationen auf Großrechnern
Die „dynamischen Lebenszyklusmodelle“ erfassen sowohl in Krisen als auch in Hochkonjunktur-Phasen das Verhalten der Marktteilnehmer; sie erklären, wie sich etwa rentenpolitische Entscheidungen auf Versicherungsunternehmen auswirken; mithilfe der Modelle beschreiben Maurer, seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wie Privatpersonen über ihr ganzes Leben hinweg optimale Finanzentscheidungen treffen können – zum Beispiel, wenn sie beim Berufseinstieg vor der Frage stehen, ob sie einen Vertrag für eine Riester-Rente brauchen.
Wenn sie eine Familie gründen und überlegen, ob eine Risikolebensversicherung für sie sinnvoll ist. Oder wenn sie sich am Ende ihres Berufslebens entscheiden, wann sie in Rente gehen. „Diese Modelle sind umso aussagekräftiger, je längere Zeiträume und je mehr mögliche Szenarien sie berücksichtigen“, stellt Maurer klar, „so etwas können Sie nicht mit Papier und Bleistift berechnen, am Ende erhalten Sie nicht ein, zwei Formeln, und der PC an Ihrem Arbeitsplatz wäre jahrelang mit einer einzigen Rechnung beschäftigt.“
Stattdessen führten er und seine Arbeitsgruppe Simulationen auf Großrechnern aus und nutzten dabei insbesondere die Expertise des „Hessischen Kompetenzzentrums für Hochleistungsrechnen“ (HKHLR), zu dem sich die Universitäten Frankfurt, Darmstadt, Kassel, Gießen und Marburg zusammengeschlossen haben. Einerseits setzt Maurer drauf, dass die Rechenkapazität des HKHLR steigt. Denn das ist die Voraussetzung dafür, dass die „dynamischen Lebenszyklusmodelle“, die seinen Simulationen zugrunde liegen, auch Immobilienanlagen korrekt berücksichtigen – bislang ist das nicht angemessen möglich.
Andererseits hofft er, dass die Simulationsverfahren in den nächsten Jahren soweit verbessert werden, dass er die Ergebnisse seiner Forschung in Form einer App für Otto Normalverbraucher und Ottilie Normalverbraucherin zugänglich machen kann. Die sollen dann ihre finanzielle Zukunft und insbesondere ihre Alterssicherung planen können, indem sie einfach Maurers App auf ihrem Smartphone starten. Wer braucht da noch eine Kristallkugel?
Stefanie Hense
Dieser Artikel ist in der Ausgabe 1.20 des UniReport erschienen.
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