Imitation und Indoktrination

Als am 13. Juni 1936 das Segelschulschiff „Horst Wessel“ an der Hamburger Werft Blohm & Voss zu Wasser gelassen wird, ist Adolf Hitler anwesend. Der Arbeiter August Landmesser verweigert den Hitlergruß; Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo (Ausschnitt)
Als am 13. Juni 1936 das Segelschulschiff „Horst Wessel“ an der Hamburger Werft Blohm & Voss zu Wasser gelassen wird, ist Adolf Hitler anwesend. Der Arbeiter August Landmesser verweigert den Hitlergruß; Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo (Ausschnitt)

War die deutsche Arbeiterbewegung zwischen 1933 und 1945 der NS-Ideologie erlegen? Eine Frage, die nach dem Kriege und bis in die Gegenwart hinein viele erhitzte und leider nicht immer fruchtbare Diskussionen nach sich gezogen hat. Prof. Benjamin Ortmeyer und seine Mitarbeiterin Katharina Rhein von der Forschungsstelle NS-Pädagogik machen in ihrem neuen Buch gleich zu Anfang deutlich, dass bei der Diskussion zwei wichtige Aspekte bedacht werden müssen:

Unter dem Nationalsozialismus war die Arbeiterbewegung nicht nur der Propaganda, sondern einer ganz realen Verfolgung und Unterdrückung ausgesetzt. Hundertausende wurden inhaftiert, mehrere Zehntausend gar ermordet. Zum anderen gab es in den letzten Kriegsjahren bzw. -monaten keinen Aufstand der Arbeiterbewegung gegen das Hitler- Regime, wie es in Ländern wie Italien oder im besetzten Frankreich zu beobachten war. Terror und Indoktrination, so ihre einleitende These, gingen Hand in Hand. „Wer nur eine Seite des nationalsozialistischen Kampfes gegen die Arbeiterbewegung betrachtet, kommt notwendigerweise zu einer falschen Einschätzung“, so die Autoren.

Zusammenspiel von Lob und Hetze

Wer sich heute mit Texten der NS-Propaganda beschäftigt, dürfe allerdings keine geschlossene Theorie oder ein in sich schlüssiges Gedankensystem erwarten. So warnt Benjamin Ortmeyer vor zu kleinteiligen Interpretationen. Denn die NS-Ideologen benutzten gerne ebenso emotionalisierende wie irrationale Denkbilder. „Weil man gar nicht in der Lage gewesen wäre, zu erklären, wieso die Juden eine ‚Rasse‘ sein sollen, bei denen es ja auch blonde Haare und blaue Augen gibt, sprach man kurzerhand von der ‚jüdischen Seele‘“, erklärt Ortmeyer.

Die NS-Propaganda setzte bei der Indoktrination nicht nur auf eine antikommunistische, antijüdische und rassistische Hetze; gleichzeitig wurde daran gearbeitet, ein positives deutsches Selbstbild herzustellen. So wurde der Arbeiter als bodenständig gelobt, die Arbeiterbewegung jedoch diffamiert: „Das Lob war aber – pädagogisch betrachtet – viel wichtiger als die Hetze“, so Ortmeyer. Der deutsche Arbeiter habe in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg unter einem Minderwertigkeitsbewusstsein gelitten. Dies hätten die Nazis sich zunutze gemacht. Vor allem junge Leute habe man ansprechen wollen, wie beispielsweise mit der Schülerzeitschrift „Hilf mit“, die mit einer Auflage von 5 Millionen Exemplaren erschien.

Fortsetzungsromane stellten Geschichten von „aufrechten“ deutschen Arbeiterkindern vor Augen. Ortmeyer und Rhein widmen einen Teil ihres Buches einer ausführlichen Darstellung und Interpretation des Romans „Mietskasernen irgendwo“, in dem sich der Arbeiterjunge Hans allmählich von der kommunistischen Jugend abwendet und schließlich begeistertes Mitglied der Hitler-Jugend wird: „Daran lässt sich die Wirkungsweise der NS-Propaganda besonders gut analysieren.“

Inhaltliche Kompetenz vonnöten

Alle Pädagogen, fordern die beiden Autoren, und nicht nur Geschichtslehrer, sollten heute unbedingt über ein fundiertes Wissen über die Nazizeit verfügen. „Wenn Schüler und Studierende mit konkreten Daten und Fakten konfrontiert werden und nicht nur mit einer moralisch begründeten Ablehnung des Dritten Reiches, ist das weitaus nachhaltiger.“ Pädagogen könnten ansonsten leicht in Fallen tappen, die ihnen von Sympathisanten rechten Gedankengutes gestellt werden:

„Wenn eine Lehrkraft die (zutreffende) Behauptung, die Nationalsozialisten hätten den 1. Mai zum gesetzlichen Feiertag gemacht, als Lüge bezeichnet, muss sie sich sehr schnell eines Besseren belehren lassen“, betont Katharina Rhein. „Der Lehrer verliert so seine Glaubwürdigkeit, und Schülerinnen und Schüler bekommen mit: Der Nazi hat recht, der Lehrer hat keine Ahnung. Das ist fatal.“ Wer die NS-Propaganda verstehen möchte, komme auch nicht daran vorbei, Originaltexte der NS-Propaganda zu lesen, betonen Ortmeyer und Rhein.

Die Forschungsstelle NS-Pädagogik stellt auf ihren Internetseiten selbst, allerdings passwortgeschützt, umfangreiches Material Studierenden und Forschern zur Verfügung. Einer demnächst erscheinenden, frei verfügbaren Ausgabe von Hitlers „Mein Kampf“ sehen die beiden eher gelassen entgegen. „Wer unbedingt ‚Mein Kampf‘ und andere nationalsozialistische Texte, die auf dem Index stehen, lesen möchte, findet jetzt schon (fast) alles im Internet“, betont Ortmeyer.

Ihm ist aber für eigene Publikationen und Materialien wichtig, dass Originaltexte, deren Lektüre in Forschung und Lehre unumgänglich erscheint, mit pädagogischen und historischen Begleittexten versehen werden. Wachsamkeit gegenüber der neuen Rechten Ortmeyer und Rhein möchten mit dem Buch, das zwischen Erziehungswissenschaft und Geschichtswissenschaft angesiedelt ist, die Reflexion von NS-Propaganda im Bildungsbereich und insbesondere auch in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit anstoßen.

70 Jahre nach Kriegsende seien längst noch nicht alle Aspekte, die Arbeiterbewegung, Gewerkschaften, aber auch die Rolle der Pädagogik in der NS-Zeit betreffen, aufgearbeitet worden. Zudem treibt die beiden Forscher die Sorge um, dass heute wieder rechte und rechtsradikale Gruppierungen sich genau der Mechanismen bedienen, die der NS-Apparat benutzt hat, um die Arbeiterbewegung auf seine Seite zu ziehen. „Ein wichtiger Aspekt ist die Imitation auch äußerer Attribute:

So kann man heute hinsichtlich Kleidung kaum noch rechte Gruppierungen von Linken und Autonomen unterscheiden“, erläutert Katharina Rhein. Auch mit ihren anti-kapitalistischen Sprüchen orientierten sich Parteien vom rechten Rand an der Sprache linker Kapitalismus- Gegner. „Allerdings werden diese bei den Rechten mit menschenverachtenden Parolen versehen, was man so bei Linken und Autonomen nicht findet.“

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Benjamin Ortmeyer/Katharina Rhein: NS-Propaganda gegen die Arbeiterbewegung 1933–1945. Imitation und Indoktrination. Beltz Juventa 2015.
Zusätzlich sind zum Thema „NS-Propaganda gegen die Arbeiterbewegung“ Materialien für Lehre, Unterricht und gewerkschaftliche Bildungsarbeit im Verlag Protagoras Academicus, Frankfurt am Main, erschienen.
www.Protagorasacademicus.wordpress.com
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