Wenn das Meereis schmilzt und sich die Wasseroberfläche vergrößert, steigen mehr jodhaltige Dämpfe aus dem Meer auf. Dass sich aus solchen Joddämpfen rasant Aerosolpartikel bilden, die als Kondensationskeime für die Wolkenbildung dienen können, haben jetzt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des internationalen Forschungsverbunds CLOUD herausgefunden. Die CLOUD-Forscher:innen, unter ihnen Atmosphärenforscher:innen der Goethe-Universität Frankfurt, befürchten eine gegenseitige Verstärkung von Meereis-Schmelze und Wolkenbildung, die die Erwärmung von Arktis und Antarktis beschleunigen könnte.
Über zwei Drittel der Erde sind von Wolken bedeckt. Je nachdem, ob sie hoch oder niedrig schweben, wie groß ihr Wasser- und Eisgehalt ist, wie dick sie sind oder über welcher Erdregion sie sich bilden, wird es unter ihnen wärmer oder kühler. Durch den Einfluss des Menschen gibt es heute höchstwahrscheinlich mehr abkühlende Effekte durch Wolken als in vorindustrieller Zeit, doch inwiefern Wolken zum Klimawandel beitragen, ist noch nicht gut verstanden. Forscher:innen gehen derzeit davon aus, dass zum Beispiel niedrige Wolken über Arktis und Antarktis zur Erwärmung dieser Regionen beitragen, indem sie die direkte Abstrahlung langwelliger Wärmestrahlung von der Erdoberfläche zurückhalten.
Alle Wolken bilden sich über Aerosole, Schwebpartikel in der Luft, an die sich Wasserdampf anlagert. Solche Schwebteilchen oder Aerosole bestehen natürlicherweise etwa aus Stäuben, Salzkristallen oder Molekülen, die von Pflanzen freigesetzt werden. Durch menschliche Aktivitäten gelangen vor allem Rußpartikel in die Atmosphäre, aber auch Schwefelsäure- und Ammoniakmoleküle, die sich zusammenlagern und in der Atmosphäre neue Aerosolpartikel bilden können. Modellrechnungen zeigen, dass mehr als die Hälfte der Wolkentröpfchen aus Aerosolpartikeln entsteht, die sich erst in der Atmosphäre neu gebildet haben. Für die Wolkenbildung ist nicht entscheidend, woraus die Aerosolpartikel bestehen, es kommt vor allem auf ihre Größe an: Erst ab einem Durchmesser von etwa 70 Nanometer werden Aerosolpartikel zu Kondensationskeimen für Wolkentröpfchen.
In der Atmosphäre über dem Meer spielen von Menschen freigesetzte Aerosole eine viel geringere Rolle für die Bildung niedriger Wolken als über dem Land. Neben Salzkristallen, die aus der Gischt stammen, stammen Aerosolpartikel über dem Meer vorwiegend aus bestimmten Schwefelverbindungen (Dimethylsufiden), die aus Phytoplankton freigesetzt werden und beispielsweise zu Schwefelsäure reagieren. So jedenfalls lauteten die bisherigen Forschungsergebnisse.
Wissenschaftler:innen des CLOUD-Konsortiums haben jetzt die Bildung von Aerosolpartikeln aus jodhalten Dämpfen untersucht. Der leicht stechende Geruch von Jod gehört zum Aroma der Meeresluft, die man bei einem Spaziergang an der Nordsee einatmet. In jedem Liter Meerwasser sind 0,05 Milligramm Jod enthalten, und wenn es in die Atmosphäre gelangt, bildet sich mit Sonnenlicht und Ozon Jodsäure oder jodige Säure. Die Wissenschaftler:innen haben in der CLOUD-Experimentierkammer beim Teilchenbeschleunigerzentrum CERN in Genf die Atmosphärenbedingungen in mittleren Breiten und arktischen Regionen simuliert, einschließlich der kosmischen Höhenstrahlung, die durch einen Teilchenstrahl nachgestellt wurde.
Ihr Ergebnis: Die Aerosolpartikelbildung durch Jodsäure läuft extrem schnell ab, viel schneller als die Partikelbildung von Schwefelsäure und Ammoniak unter vergleichbaren Bedingungen. Ionen, die durch die kosmische Höhenstrahlung entstehen, begünstigen die Partikelbildung weiter. Zur Umwandlung des molekularen Jods in die jodhaltigen Säuren sind noch nicht einmal UV-Strahlung und nur wenig Tageslicht nötig. Auf diese Weise können sehr schnell sehr große Aerosolmengen entstehen.
Der Atmosphärenforscher Prof. Joachim Curtius von der Goethe-Universität erklärt: „Jod-Aerosole können sich schneller bilden als fast alle anderen Aerosoltypen, die wir kennen. Wenn noch Ionen hinzukommen, die durch kosmische Strahlung entstehen, führt jeder Zusammenstoß zum Anwachsen der Molekülcluster.“ Dies sei besonders wichtig, da sich in den vergangenen 70 Jahren die globalen Jodemissionen auf der Erde bereits verdreifacht hätten, so Curtius weiter. „Womöglich wurde hier ein Teufelskreis in Bewegung gesetzt: Das Packeis taut, dadurch vergrößert sich Wasseroberfläche und mehr Jod gelangt in die Atmosphäre. Das führt zu mehr Aerosolpartikeln, die Wolken bilden, welche die Pole weiter erwärmen. Der von uns gefundene Mechanismus kann jetzt Teil von Klimamodellen werden, denn Jod spielt möglicherweise vor allem in den Polarregionen eine dominante Rolle in der Aerosolbildung, und dies könnte die Vorhersagen von Klimamodellen für diese Regionen verbessern.“
Das Experiment CLOUD (Cosmics Leaving OUtdoor Droplets) am CERN untersucht, wie neue Aerosolpartikel in der Atmosphäre aus Vorläufergasen gebildet werden und weiter zu Kondensationskeimen wachsen. Damit liefert CLOUD ein grundlegendes Verständnis zur Entstehung von Wolken und Feinstaub. CLOUD wird von einem internationalen Konsortium – bestehend aus 21 Instituten – durchgeführt. Die CLOUD-Messkammer wurde mit CERN-Know-how entwickelt und ist eine der reinsten Experimentierräume der Welt. Bei CLOUD-Messkampagnen wird mit einer Vielzahl an unterschiedlichen Messgeräten der physikalische und chemische Zustand der Teilchen und Gase charakterisiert, aus denen die Atmosphäre besteht. Das Team um Joachim Curtius vom Institut für Atmosphäre und Umwelt der Goethe-Universität Frankfurt entwickelt und betreibt im CLOUD-Projekt zwei Massenspektrometer, um Spurengase wie Jodsäure und jodige Säure auch in kleinsten Konzentrationen nachzuweisen.
Publikation: Xu-Cheng He, Yee Jun Tham, Lubna Dada, Mingyi Wang, Henning Finkenzeller, Dominik Stolzenburg, Siddharth Iyer, Mario Simon, Andreas Kürten, et. al. Role of iodine oxoacids in atmospheric aerosol nucleation, Science 05 Feb 2021: Vol. 371, Issue 6529, pp. 589-595, https://doi.org/10.1126/science.abe0298