Fledermäuse leben in einer Hörwelt. Sie nutzen ihre Stimme sowohl zur Kommunikation mit ihren Artgenossen, als auch zur Orientierung in der Umwelt. Dazu stoßen sie Ortungslaute im Ultraschallbereich aus, aus deren Echos sie ein Abbild ihrer Umgebung formen. Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler der Goethe-Universität haben nun herausgefunden, wie es der südamerikanischen Brillenblattnase gelingt, aus einer Geräuschkulisse die wichtigen Signale herauszufiltern und dabei insbesondere zwischen Echoortungs- und Kommunikationsrufen zu unterscheiden.
Die Brillenblattnasen-Fledermaus (Carollia perspicillata) lebt in den subtropischen und tropischen Wäldern Mittel- und Südamerikas und ernährt sich dort hauptsächlich von Pfefferfrüchten. Die Tage verbringen die Tiere in Gruppen von 10 bis 100 Individuen in Baumhöhlen und Felsgrotten, nachts gehen sie gemeinsam auf Futtersuche. Dabei verständigen sie sich mit Kommunikationslauten, die in der Kolonie eine ausgeprägte Geräuschkulisse bilden – wie das Stimmengewirr auf einer lebhaften Party. Gleichzeitig nutzen die Fledermäuse ihre Stimme aber auch für die Orientierung in der Umwelt: Für die Echoortung senden sie Ultraschalllaute aus, die von festen Oberflächen zurückgeworfen werden. Aus diesen Echos gewinnen die Tiere ein Abbild ihrer Umgebung.
Wie aber gelingt es der Brillenblattnase, aus einer permanenten Geräuschkulisse die wichtigen Laute herauszufiltern? Ein gängiges Erklärungsmodell besagt, dass das Gehirn laufend Vorhersagen für das nächste Signal macht und auf ein unerwartetes Signal stärker reagiert als auf ein erwartetes. Die Mechanismen dieser Abweichungserkennung (Deviance Detection) untersuchen Neurowissenschaftler*innen um Johannes Wetekam und Prof. Manfred Kössl aus der Abteilung Neurobiologie und Biosensorik am Institut für Zellbiologie und Neurowissenschaften der Goethe-Universität. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen konnten sie bereits 2021 zeigen, dass die Verarbeitung der Signale nicht erst in höheren Hirnregionen beginnt, sondern bereits im Hirnstamm, der für die Steuerung wesentlicher Lebensfunktionen wie Atmung und Herzfrequenz zuständig ist. Diese Studien hatten allerdings lediglich künstliche Stimuli verwendet, die für die Tiere keine Bedeutung haben.
In einer jetzt veröffentlichten Studie hat das Team um Wetekam und Kössl die Experimente mit natürlichen Kommunikations- und Echoortungslauten wiederholt. „Mit unserer Studie wollten wir herausfinden, wie sich die Abweichungserkennung verhält, wenn anstelle von bedeutungslosen Stimuli solche präsentiert werden, die in der Hörwelt der Brillenblattnasen auch wirklich vorkommen“, fasst Wetekam zusammen.
Dafür wurden den Fledermäusen zwei haarfeine Elektroden unter die Kopfhaut geschoben, um dort die Hirnströme aufzuzeichnen. Obwohl dies für die Tiere schmerzlos ist, werden die Messungen unter Narkose durchgeführt, da Bewegungen die Ergebnisse verfälschen könnten.
Auf Geräusche reagiert das Fledermausgehirn auch im Narkoseschlaf. Den Tieren wurden dann entweder Echoortungs- oder Kommunikationsrufe vorgespielt, in die mit einer Wahrscheinlichkeit von zehn Prozent der jeweils andere Laut eingestreut war.
An den gemessenen Hirnströmen ließ sich dann ablesen, dass der Hirnstamm Echoortungs- und Kommunikationsrufe unterschiedlich verarbeitet. Während seltene Echoortungslaute tatsächlich stärkere Signale hervorriefen als häufige – also Abweichungserkennung zeigten – hatte bei den Kommunikationslauten die Auftrittswahrscheinlichkeit keinen Einfluss auf die Antwortstärke. „Wahrscheinlich werden während der Echoortung schnellere Reaktionszeiten benötigt als bei der Kommunikation mit Artgenossen“, vermutet Manfred Kössl. „Da der Hirnstamm die akustischen Signale als erste Station im Gehirn empfängt, könnte es nötig sein, schon hier die Auftrittswahrscheinlichkeiten von Echoortungsrufen und vor allem deren Echos zu berechnen, damit das Tier Hindernissen rechtzeitig ausweichen kann.“ Die stärkere Antwort auf die seltenen Rufe entsteht vermutlich durch eine bessere Synchronisation der Neuronen.
Weiterhin zeigte die Studie, dass der Hirnstamm neben Unterschieden in der Tonhöhe auch noch andere Merkmale der Fledermausrufe wie schnelle Frequenz- oder Lautstärkeänderungen für die Abweichungserkennung nutzen kann. „Dies ist erstaunlich, da es sich beim Hirnstamm um ein recht primitives Hirnareal handelt, dem man nicht zugetraut hatte, stark an der Signalverarbeitung beteiligt zu sein“, so Wetekam. „Seine Rolle wurde eher darin gesehen, Signale vom Hörnerv zu empfangen und an höhere Hirnregionen weiterzuleiten.“
Diese Erkenntnisse können auch in Bezug auf medizinische Anwendungen beim Menschen von Bedeutung sein. So sollten bei der Untersuchung von Krankheiten wie ADHS oder Schizophrenie, die in Verbindung mit einer gestörten Verarbeitung von Umweltreizen stehen, die niedrigeren Hirnareale einbezogen werden. Die Tatsache, dass verschiedene komplexe akustische Signale im Hirnstamm der Fledermaus unterschiedlich verarbeitet werden, kann auch dabei helfen zu verstehen, wie die Komplexität der menschlichen Sprache im Gehirn entschlüsselt und verarbeitet wird.
Publikation: Johannes Wetekam, Julio Hechavarria, Luciana López-Jury, Eugenia Gonzáles-Palomares, Manfred Kössl: Deviance detection to natural stimuli in population responses of the brainstem of bats. Journal of Neuroscience (2024) https://doi.org/10.1523/JNEUROSCI.1588-23.2023