Optisch sind sie kaum zu unterscheiden, aber genetische Analysen zeigen: Es gibt vier Arten von Giraffen mit insgesamt sieben Unterarten. Das hat ein internationales Team um Prof. Dr. Axel Janke vom LOEWE-Zentrum für Translationale Biodiversitätsgenomik herausgefunden. Den umfassenden Erbgutanalysen zufolge entwickeln sich die vier Giraffenlinien seit Jahrtausenden getrennt voneinander. Die Verwandtschaftsverhältnisse innerhalb der Giraffen waren umstritten. Lange ging man von einer, dann vier und später von drei Arten aus. Die im Fachmagazin „Current Biology“ veröffentlichte Studie liefert neue Erkenntnisse über die Evolution der Giraffen und könnte ihren Schutz in Afrika auf ein neues Fundament stellen.
„Es ist sehr selten, dass neue Säugetierarten gefunden und beschrieben werden“, sagt Prof. Dr. Axel Janke, Leiter des LOEWE-Zentrums für Translationale Biodiversitätsgenomik (TBG), Professor für Evolutionäre Genomik an der Goethe-Universität und Wissenschaftler am Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum (SBiK-F) in Frankfurt. „Die Genomik, also die Untersuchung aller Erbinformation eines Lebewesens, eröffnet neue Möglichkeiten und kann unseren Blickwinkel auf Arten und deren Evolution erweitern – so wie bei den Giraffen.“
Bei den afrikanischen Säugetieren mit dem langen Hals sollte es sich um eine einzige Art handeln, die Giraffe – das war lange Konsens. Erste genetische Studien aus Jankes Labor wiesen jedoch schon 2016 drauf hin, dass es nicht eine, sondern vier unterschiedliche Giraffenarten gibt. Dieses revolutionäre Ergebnis, das zusammen mit der Giraffe Conservation Foundation (GCF) entstanden ist, wird unter Forscher*innen und Tierschützer*innen kontrovers diskutiert. Die Genom-Analysen untermauern nun das Vier-Arten-Modell.
Die Analyse von jeweils rund 200.000 DNA-Abschnitten von insgesamt 50 Giraffen sprechen für die vier Arten Nord-Giraffe, Süd-Giraffe, Netz-Giraffe und Massai-Giraffe. Auf sie verteilen sich insgesamt sieben Unterarten. Die Daten zeigen auch: Die vier Giraffenlinien haben bereits vor 230.000 bis 370.000 Jahren angefangen, sich unabhängig voneinander zu entwickeln. Zwischen ihnen gibt es keinen oder nur einen geringen genetischen Austausch. Das bedeutet, in der Wildnis paaren sich die unterschiedlichen Arten in der Regel nicht. In Gefangenschaft ist das aber unter Umständen möglich.
„Die Ergebnisse der Genomanalyse haben große Bedeutung für den Giraffenschutz“, sagt Dr. Julian Fennessy, GCF-Direktor und Co-Autor der Studie. Die Bestände seien im vergangenen Jahrhundert stark zurück gegangen auf rund 117.000 wildlebende Giraffen. Fennessy: „Wird nun klar, dass diese Tiere vier unterschiedlichen Arten angehören, verschärft das die Situation zusätzlich. So gibt es zum Beispiel nur noch rund 6000 Nord-Giraffen in freier Wildbahn. Sie gehören zu den am stärksten bedrohten Großsäuger-Arten der Welt.“
Giraffen leben in den Savannen Afrikas südlich der Sahara vom Niger über Kenia und Namibia bis Südafrika. Mit bis zu sechs Metern sind die Pflanzenfresser die weltweit größten landlebenden Säugetiere. Ihre Lebensgrundlage wird durch den wachsenden Bedarf an Nutzflächen vielerorts dezimiert. Illegale Jagd und politische schwierige Verhältnisse erschweren ihren Schutz. Die Weltnaturschutzorganisation (IUCN) stuft die Giraffen insgesamt als „gefährdet“ ein. Das Vier-Arten-Modell wurde bislang nicht berücksichtigt. Das könnte sich nun ändern.
„Die Datenlage ist besser als je zuvor“, sagt Raphael Coimbra, Forscher am SBiK-F und Studienautor. „Unsere Genomanalysen basieren auf deutlich mehr genetischer Information als frühere Untersuchungen.“ Für die Studie verglichen die Forscher*innen das Erbgut von Giraffen aller zuvor in Betracht gezogenen Arten sowie Unterarten aus insgesamt zwölf afrikanischen Ländern sowie aus Zoos. Im Zuge dessen wurde erstmals das Genom der Kordofan-Giraffe, einer stark bedrohten Unterart der Nord-Giraffe, vollständig sequenziert.
„Am Fall der Giraffen erkennen wir, dass wir die genetischen Grundlagen der biologischen Vielfalt noch nicht ausreichend erfassen können“, sagt Janke. „Die Genome enthalten Informationen von unschätzbarem Wert, etwa über Anpassungen an Klimabedingungen oder die Evolution der Arten. Wir stehen erst am Anfang. Aber eines Tages werden wir bis auf den Grund vordringen und das Genom mit seiner Fülle an Erbinformationen vollständig verstehen.“
Die genetischen Grundlagen der biologischen Vielfalt untersuchen und dokumentieren Janke und seine Kolleg*innen am LOEWE-Zentrum TBG in Frankfurt, Gießen und Marburg. Das vom Land Hessen geförderte Forschungszentrum baut derzeit eine umfangreiche Genom-Sammlung auf. Mehr als 349 Genome von ganz unterschiedlichen Lebewesen von Wurm bis Wal hat LOEWE-TBG dafür bereits sequenziert, 46 davon in besonders hoher Qualität. Die Daten stehen auch anderen Forscher*innen zur Verfügung, um sie für Anliegen der Gesellschaft zu nutzen, etwa für den Natur- und Artenschutz.
Publikation in Current Biology: Raphael T. F. Coimbra, Sven Winter, Vikas Kumar, Klaus-Peter Koepfli, Rebecca M. Gooley, Pavel Dobrynin, Julian Fennessy, Axel Janke „Whole-genome analysis of giraffe supports four distinct species”
Das LOEWE-Zentrum für Translationale Biodiversitätsgenomik (TBG) bündelt Forscher*innen in Hessen, die die genetische Basis der biologischen Vielfalt untersuchen. Ziel ist es, die Erkenntnisse für gesellschaftliche Anliegen zu nutzen, etwa für den Naturschutz oder antivirale Strategien. Das Zentrum ist eine gemeinsame Forschungseinrichtung der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung, der Goethe-Universität Frankfurt, der Justus-Liebig-Universität Gießen und des Fraunhofer-Instituts für Molekularbiologie und Angewandte Oekologie IME. Finanziert wird es von der Hessischen Landes-Offensive zur Entwicklung Wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz (LOEWE). Weitere Informationen: https://tbg.senckenberg.de/
Quelle: Pressemitteilung, LOEWE-Zentrum für Translationale Biodiversitätsgenomik (TBG), Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum & Goethe-Universität Frankfurt, 5. Mai 2021