In einem jüngst eröffneten virtuellen „Room of Error“ lernen Studierende und Beschäftigte von Universitätsklinikum Frankfurt und Fachbereich Medizin der Goethe-Universität, Fehler schnell zu erkennen und Gefahren für Patientinnen und Patienten zu bannen.
Frau Baumann hat eine COVID-19-Infektion und liegt seit drei Tagen in einem Isolationszimmer. Es wurde vergessen, die für sie wichtige Sauerstoffversorgung wieder einzuschalten. Die Alarmklingel liegt auf dem Fußboden, Frau Baumann kann sie nicht erreichen. Auch der Rollator steht außer Reichweite am anderen Ende des Zimmers. Sie hat keine Chance, auf sich aufmerksam zu machen. Eine lebensgefährliche Situation für die Patientin. Zum Glück ist das Ganze nur ein Training von Universitätsklinikum Frankfurt und Fachbereich Medizin. Das Ziel: Medizinische Teams dafür zu sensibilisieren, wie Patientenleben durch Unachtsamkeit gefährdet werden. Denn medizinische Fehler zählen zu den fünf häufigsten Todesursachen weltweit. Bei rund einem Prozent aller Krankenhausaufenthalte kommt es zu vermeidbaren Zwischenfällen. Jeder zehnte davon ist tödlich. In Deutschland entspricht dies etwa 19.000 Todesfällen jährlich. Etwa fünfmal so viele wie im Straßenverkehr. Ein Großteil wäre vermeidbar.
Vermeidbare Gefährdungen erkennen und verhindern
Hier setzt das neue Projekt von Prof. Miriam Rüsseler an, der Leiterin des Frankfurter Interdisziplinären Simulationstrainings (FIneST). Die oben beschriebene Situation ist nur eine von vielen, die in einem sogenannten Room of Error (also Fehlerraum) künstlich hergestellt werden – natürlich ohne echte Patientinnen und Patienten. Studierende und Beschäftigte müssen die konstruierten Gefahrensituationen gezielt erkennen und auflösen. Diese Form des praxisorientierten Lernens gibt es in Frankfurt schon länger. Doch nun hat der Fehlerraum eine Weiterentwicklung erfahren: Die Teilnahme erfolgt künftig durch Virtual-Reality-Brillen.
So werden einerseits Ressourcen gespart, andererseits können vielfältigere Szenarien mit geringem Aufwand vorbereitet werden. Zudem bietet das Konzept aufgrund seiner Ortsunabhängigkeit mehr Freiheit, aber auch mehr Sicherheit während der andauernden COVID-19-Pandemie.
„Der virtuelle Room of Error ist dank seines spielerischen Ansatzes ein gutes Mittel, Lernende verschiedener Disziplinen für alltägliche Gefährdungen der Patientensicherheit zu sensibilisieren und gemeinsam Erfahrungen zu sammeln, ohne Patientinnen und Patienten oder sich selbst zu gefährden“, erklärt Prof. Rüsseler.
Die Programmierung der Simulation erfolgt durch The Vatrix aus Frankfurt; die Mittel hierfür stammen aus der Aktion Rotary contra Corona. Das Lehrkonzept ist in dieser Form einzigartig.
Praktisches Wissen Mangelware
Das Wissen über Gefahren für Patientinnen und Patienten wird üblicherweise zwar im Rahmen des Studiums und der Ausbildung vermittelt. Jedoch bleiben diese in der Praxis oft unentdeckt. Denn im Alltag liegt der Fokus auf der konkreten Patientenversorgung; das Bewusstsein für die Risikosituation tritt in den Hintergrund, vor allem bei jungen Lernenden oder Menschen in neuen Arbeitsumgebungen. Dabei können selbst kleinste Nachlässigkeiten rasch Menschenleben gefährden.
Trainiert werden kann das Situationsbewusstsein nur durch Erfahrung. Jeder im klinischen Alltag erlebte Fehler ist jedoch eine Gefährdung von Patientinnen und Patienten, muss also unbedingt vermieden werden. Daher wurden in Frankfurt bereits in der Vergangenheit Simulationen entwickelt, die helfen, Gefahrensituationen alltagsnah, aber sicher zu trainieren. Die Pandemie hat die bestehenden Herausforderungen nun verschärft, da Lernende einerseits weniger Patientenkontakt haben, andererseits auch Simulationen nur eingeschränkt durchgeführt werden konnten, vor allem in Teams.
Einzigartiges Projekt: Fehlersuche in der virtuellen Notaufnahme
Abhilfe schafft der Room of Error. Für das Projekt wurden insgesamt vier reale Klinikräume nach einem 3D-Scan digital rekonstruiert: Normalstation, Notaufnahme, Operationssaal, Intensivstation. Alle sind Bereiche, in denen intensiver Patientenkontakt stattfindet, in denen alle Lernenden Ausbildungseinsätze absolvieren, und in denen das Risiko bei Unachtsamkeiten hoch ist.
Für jeden Raum wurden ein Patientenszenario erfunden, bestehend aus Patientenvorgeschichte inklusive Vorerkrankungen und aktueller Geschichte, und jeweils zehn Fehler platziert. Letztere wurden nach Kriterien der WHO sowie nach der Häufigkeit im hauseigenen Meldesystem ausgewählt.
Virtuelles Lernen: effizient und sicher
Die digitale Umsetzung bietet zahlreiche Vorteile. Denn die physische Variante bräuchte ein Zimmer mit allen für die dargestellte Situation erforderlichen Materialien und ein weiteres für die Nachbesprechung. In der neuen Form wird nicht nur der Raumbedarf deutlich reduziert und somit mehr Platz für die Patientenversorgung erhalten. Die Nutzung ist gänzlich ortsunabhängig. Mit einer VR-Brille kann die Teilnahme von überall stattfinden. So können Lernende gleichzeitig trainieren, ohne sich am selben Ort zu befinden. Das ist gerade in der Pandemie von Vorteil. Zudem muss deutlich weniger Verbrauchsmaterial aufgewendet werden. Dieses steht dann zum einen für die Patientenversorgung zur Verfügung, zum anderen entsteht deutlich weniger Müll.
Der digitale Room of Error ist außerdem nicht auf ein Szenario und eine bestimmte Anzahl von Gefährdungen limitiert. So können Teilnehmende mehrere unterschiedliche Räume nacheinander oder auch einen identischen Raum mit unterschiedlichen Fehlern absolvieren.
Breite Anwendung: VR-Daten ermöglichen bessere Schulung
Das Programm ist für alle Gesundheitsberufe in allen Aus- und Weiterbildungsstufen sinnvoll einsetzbar, insbesondere in interprofessionellen Teams, die im Hinblick auf Gefahrensituationen unterschiedliche Erfahrungen und ein unterschiedliches Situationsbewusstsein haben. Je nach Erfahrungsgrad müssen nicht alle Level abgeschlossen werden; es kann auch nur ein einzelnes Szenario mit anschließender Diskussion zum Auffrischen und Erweitern des Situationsbewusstseins durchlaufen werden.
Der Fehlerraum ermöglicht über den praktischen Lerneffekt hinaus, spezifische Defizite der unterschiedlichen Berufsgruppen und Ausbildungsstufen zu identifizieren. Diese können dann direkt in nachfolgende Schulungen integriert und durch gezieltes Training verbessert werden. Denn mithilfe der VR-Brillen ist es beispielsweise möglich, auszuwerten, wie lange welche Objekte angesehen wurden. So können Unterschiede im Fokus der Berufsgruppen abgeleitet werden.
Von der Medizin in andere Fachbereiche
Die virtuelle Fehlersuche ist in allen Bereichen der Patientenversorgung einsetzbar, also auch in der Zahnmedizin oder im Rettungsdienst. Aber nicht nur dort: Das Konzept kann mit entsprechenden Anpassungen auf verschiedenste Einsatzgebiete übertragen werden, in denen ein hohes Situationsbewusstsein von Bedeutung ist, zum Beispiel Labore oder auch Fertigungsanlagen im Maschinenbau. Durch die bereits gesammelten Erfahrungen in der Konstruktion eines Fehlerraums ist die Entwicklung weiterer Räume mit geringem Aufwand und Kosten möglich. Aktuell ist der Transfer in den Fachbereich Chemie und der Aufbau eines Room of Error für häufige und gefährliche Fehler im Labor geplant. Auch ein Reanimationstraining mittels Virtueller Realität ist in der Entwicklung, das zukünftig ebenfalls am Universitätsklinikum eingesetzt werden kann.
Quelle: Pressemitteilung des Universitätsklinikum Frankfurt vom 17. Dezember 2021, www.kgu.de