Immer mehr Texte, Töne und Bilder liegen in Bits und Bytes vor. Die Methoden der Digital Humanities werden stetig verfeinert und ermöglichen neue, bisher nicht bearbeitbare Fragestellungen. Auch in Frankfurt scheint die »empirische Wende« unaufhaltsam zu sein. Doch was hat es eigentlich mit dem neuen Forschungsgebiet auf sich, und inwiefern macht es uns schlauer oder gar klug?
Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor«, klagt Goethes »Faust« nach einer Aufzählung dessen, was er so alles – »habe nun, ach!« – studiert hat. Philosophie gehörte dazu, ebenso Juristerei. »Und leider auch Theologie!«. Genutzt hat’s wenig – abgesehen von der subjektiven Erkenntnis, »dass wir nichts wissen können«. Allerdings konnte der Fächerkanon der Goethe- Zeit ein Forschungsgebiet noch nicht kennen, das untrennbar mit dem Computer verbunden ist, die »Digital Humanities«, jene Verbindung von Geisteswissenschaften und Informatik, mit deren Hilfe Inhalte, vor allem auch Texte, digital verfügbar gemacht und ausgewertet werden.
Die Linguistik nutzt die neuen Möglichkeiten schon seit einiger Zeit. Historiker zeigen sich zunehmend aufgeschlossen. Und wenn Frankfurter Literaturwissenschaftler dergestalt auf ihre Gegenstände schauen, geht es oft um Goethe und seinen Faust. Die Forschungen fragen allerdings nicht danach, ob die literarische Figur nach einem Studium der Digital Humanities von einem Pakt mit dem Teufel abgesehen hätte. Obwohl: Es wäre schon interessant gewesen, was Faust von der »empirischen Wende« gehalten hätte.
Nach Ansicht von Experten markiert sie den Übergang zwischen den »analogen « Geisteswissenschaften in der herkömmlichen Form und den Digital Humanities. »Wir können heute Fragestellungen empirisch überprüfen, für die bisher nur theoretisch basierte Hypothesen vorlagen«, sagt Jost Gippert, Professor für Vergleichende Sprachwissenschaft an der Goethe-Universität. Früher habe man den Eindruck gehabt, dass sich ein bestimmter Sachverhalt auf eine gewisse Weise darstelle. Mittlerweile kann man den Dingen, ihre Digitalität vorausgesetzt, auf den Grund gehen. Diese »empirische« oder auch »digitale Wende« deutete sich vor etwas mehr als 30 Jahren an.
Der ganze Goethe auf Disketten
Es war Ende der 1980er Jahre, als Jost Gippert in einem Goethe-Gedicht die Verbform »frug« auffiel. Der Sprachwissenschaftler fand das ungewöhnlich, weil Goethe seinem Gefühl nach eher »fragte« verwendete. Gipperts Institut hatte damals 30 Bände Goethe auf Disketten. »Die waren tellergroß und kosteten tausend Mark.« Eine Suchabfrage ergab, dass Goethe in der Tat nur in diesem einen Gedicht »frug« geschrieben hat, der Ausreißer war wohl dem Versmaß geschuldet. »Ohne Computer hätte ich ein Jahr Goethe lesen müssen und danach genau dasselbe gewusst«, sagt Jost Gippert.
Vor der Digitalisierung war es für Linguisten, Literaturwissenschaftler oder Historiker kaum denkbar, Hypothesen und Theorien am gesamten einschlägigen Material zu verifizieren oder zu falsifizieren. Durch den Einsatz der elektronischen Verfahren – die Schaffung von Datenpools und hierauf bezogenen digitalen Auswertungsmethoden – sei dies, so Gippert, nunmehr möglich geworden. Der Frankfurter Linguistik-Professor gehört zu den Pionieren der Digital Humanities in Deutschland.
Besonders auch seiner Initiative ist die Einrichtung eines Forschungsschwerpunkts zu verdanken, bei dem die Goethe-Universität mit der TU Darmstadt und dem Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum kooperiert. Gefördert wird das interdisziplinäre Verbundprojekt seit rund vier Jahren von der hessischen »Landes-Offensive zur Entwicklung Wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz«, kurz LOEWE. Die beteiligten Disziplinen reichen von der Sprach-, Literatur- und Geschichtswissenschaft bis zur Informatik. Der LOEWE-Schwerpunkt, der 4,7 Millionen Euro aus Landesmitteln bekommt, trägt den Titel »Digital Humanities – Integrierte Aufbereitung und Auswertung textbasierter Corpora«.
Textbasierte Corpora sind nach bestimmten Kriterien aufbereitete Sammlungen schriftlicher Dokumente verschiedener Sprachen und Genres, seien es Romane, Gedichte oder Theaterstücke, Gesetzestexte, Briefe oder Bibelübersetzungen. Im LOEWE-Schwerpunkt werden die Corpora – wenn es sich anbietet – gemeinsam aus dem jeweiligen fachlichen Blickwinkel genutzt. Ein weiterer Fokus liegt im Aufbau einer übergreifenden informationstechnologischen Infrastruktur – Linguisten oder Historiker loggen sich in derselben Arbeitsumgebung ein, die online zur Verfügung steht.
Frankfurt wird zum »eHumanities-Zentrum«
»Mit unserem LOEWE-Schwerpunkt haben wir eine Spitzenposition in der sich schnell entwickelnden Landschaft der Digital Humanities in Deutschland errungen«, sagt Jost Gippert, der seit dem Start des Schwerpunkts im Jahr 2011 dessen Koordinator ist. Das Projekt war bereits von Beginn an mit dem Anspruch angetreten, die Basis für einen längerfristigen Forschungsverbund zu legen, der sich dem »digitalen Wandel « in den geisteswissenschaftlichen Fächern widmet. Das konnte eingelöst werden: Nach dem Auslaufen der LOEWE-Finanzierung Ende 2014 gibt es eine Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Unter den rund 40 beim Ministerium gestellten Anträgen gehörte der aus Rhein-Main zu den drei erfolgreichen.
Jost Gippert sieht das Forschungsgebiet »in einer stürmischen Entwicklung begriffen«. Auch das BMBF hat seine Förderung in den vergangenen Jahren kontinuierlich ausgebaut. Bei den Digital Humanities spricht das Wissenschaftsministerium auch von »eHumanities«, wobei das »e« nicht nur für »elektronisch« steht, sondern auch für »enhanced«, also »erweitert« oder »verbessert«. Tatsächlich versteht das Ministerium die eHumanities »als Summe aller Ansätze, die durch die Erforschung, Entwicklung und Anwendung moderner Informationstechnologien die Arbeit in den Geisteswissenschaften erleichtern oder verbessern«.
Gemäß der BMBF-Terminologie wird der weitergeführte Forschungsverbund in der Rhein- Main-Region ein »eHumanities-Zentrum« sein. Zu den häufig verwendeten Bezeichnungen gehört auch »Digitale Geisteswissenschaften«. Der vor rund zwei Jahren gegründete Verband nennt sich allerdings »Digital Humanities im deutschsprachigen Raum«. Mittlerweile gibt es an rund einem Dutzend deutscher Universitäten entsprechend ausgerichtete Studiengänge.
Auch in Frankfurt wird ein Curriculum vorbereitet. Trotzdem sind die Digital Humanities als Fachrichtung in größerer Breite noch nicht etabliert und in der allgemeinen Öffentlichkeit nahezu unbekannt. Dabei gelangen die Ergebnisse mancher ihrer Methoden gerade in jüngerer Zeit zu ungeahnter Popularität.
Wer schrieb den »Ruf des Kuckucks«?
Vielleicht hat man ja den Eindruck, dass man eigentlich wie Goethe schreibt und die Chefin wie Ildikó von Kürthy. Um das zu überprüfen, gibt es im Internet den Stiltest »Ich schreibe wie …« Die zugrunde liegende Methode ist nicht neu und nennt sich Stilometrie. Sie beruht auf der statistischen Analyse von Wortwahl und Satzbau. Ein zu untersuchender Text wird nach bestimmten Kriterien – auch der Frequenz bestimmter Worte und Wortfolgen – mit Texten verglichen, die sich bereits in der Datenbank befinden und deren Urheber bekannt sind. Bei einer kleinen literarischen Sensation im Sommer 2013 gelangte die Stilometrie zu einer gewissen Berühmtheit. Auch hier war am Anfang eine Ahnung im Spiel. »I suspect that some years down the road we will hear the author’s name is a pseudonym of some famous writer«, hieß es im Online-Kommentar einer Leserin.
Und auch Profi-Rezensenten konnten es kaum glauben, dass dieses vorzüglich geschriebene Buch der Debüt-Roman eines bis dahin vollkommen unbekannten Autors sein soll. War er auch nicht. J.K. Rowling, die Erfinderin von »Harry Potter« hatte den Krimi »The Cuckoo’s Calling« (»Der Ruf des Kuckucks«) unter einem Pseudonym geschrieben. Ihre eigenen Bücher, deren statistisch fassbaren Merkmale mit denen des Überraschungswerks abgeglichen wurden, halfen bei der Bestimmung der Autorschaft. In der Literaturwissenschaft werden Formen der Stilometrie auch zurate gezogen, wenn es darum geht, welcher Epoche ein Autor im Zweifelsfall am ehesten zuzurechnen ist, etwa der Romantik oder aber der Klassik.
Einen immer größeren Stellenwert erlangen Methoden der Digital Humanities bei der Edition literaturgeschichtlich bedeutender Werke. »Die neuen Möglichkeiten sind die Erfüllung eines Traums. Es eröffnen sich ganz neue Felder«, sagt Anne Bohnenkamp-Renken. Die Germanistin ist Professorin für Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität und Direktorin des Freien Deutschen Hochstifts, eines der ältesten Kulturinstitute Deutschlands und Träger des Frankfurter Goethe-Museums.
Neben seiner Mitwirkung im LOEWE-Schwerpunkt zu den Digital Humanities arbeitet das Hochstift bereits seit 2009 an einer digitalen Ausgabe des »Faust«. Es handelt sich um ein DFG-Projekt in Kooperation mit dem Goethe- und Schiller- Archiv der Klassik Stiftung Weimar und dem Lehrstuhl für Computerphilologie an der Universität Würzburg. »Unser Anspruch ist es, eine Modelledition zu erstellen, die Standards setzt«, sagt Anne Bohnenkamp- Renken. Die neue, sogenannte historisch-kritische Edition enthält erstmals die gesamte relevante Überlieferung des Werks.
Dazu gehören rund 2.000 Handschriftenseiten Goethes sowie die zu Lebzeiten des Autors erschienenen Drucke. Ergänzt wird die digitale Sammlung durch zahlreiche Zeugnisse zur Entstehung – Briefe, autobiografische Äußerungen und Gesprächsberichte von Zeitzeugen. Zwischen zwei Buchdeckel würde das kaum passen.
Per Mausklick durch das »Faust«-Universum
Die schiere digitale Materialfülle ist noch kein Wert für sich. Anders als bei den ersten digitalen Editionen verschiedener Autoren und ihrer Werke in den 1980er Jahre, deren – so Bohnenkamp- Renken – »größter und oft einziger Vorzug die Durchsuchbarkeit des Textes war«, kann man jetzt per Mausklick im ganzen Faust-Universum navigieren. Die Forschung darf sich freuen, und auch die breitere Öffentlichkeit erhält einen Einblick in die Werkstatt des Dichters, in der über einen Zeitraum von mehr als 60 Jahren eines der wichtigsten Werke der deutschen Literatur entstanden ist. Eine Hauptaufgabe historisch-kritischer Editionen ist es, Vorstufen und Varianten von Texten zu dokumentieren und zu bewerten.
Dass es ausgerechnet zu Goethes »Faust« keine solchen modernen Standards genügende Ausgabe gibt, ist ein erstaunliches Desiderat, das Albrecht Schöne – einer der renommiertesten Forscher auf diesem Gebiet – vor 20 Jahren als »nationale Schande« bezeichnete. Die Einbeziehung der neuen Medien bietet nun die Möglichkeit, neue Wege zu beschreiten und dem Nutzer unabhängig von den Einschränkungen des Buchformats das vollständige Archiv aufbereitet zur Verfügung zu stellen und die Daten je nach Interesse abrufbar zu machen.
Der digitale Faust wird das Werk in der gesamten Breite seiner Entstehungsgeschichte umfassend erschließen. In der neuen Digital- Ausgabe ist es beispielsweise möglich, sich alle bekannten Vorstufen und Varianten einer Textzeile anzeigen zu lassen. Auch kann man virtuell in den Handschriften blättern und selbst sehen, wo Goethe ein Wort gestrichen oder hinzugefügt hat. Und für diejenigen, die Goethes Handschrift nicht entziffern können, gibt es eine sogenannte Umschrift, also eine Übertragung in »Druckbuchstaben «, die die räumliche Anordnung der Wörter in den Handschriften aufgreift. Die faustische Edition könnte bereits im Sommer 2015 online gehen. Sie soll mit allen ihren digitalen Möglichkeiten für die Öffentlichkeit frei verfügbar sein.
Die Ausgabe des Freien Deutschen Hochstifts und seiner Partner ist eine Hybridedition. »Bestimmte Eigenschaften von Büchern wie die gewohnte Orientierung und das leichte Durchblättern können durch elektronische Editionen nicht oder nur unvollkommen nachgebildet werden«, sagt die Direktorin des Hochstifts, Anne Bohnenkamp-Renken. Deshalb soll es eine dreibändige Buchausgabe zu kaufen geben, mit einem Lesetext und ausgewählten Handschriftenfaksimiles.
Des »Pudels Kern« auf dem Bildschirm
Das Goethe-Museum des Frankfurter Freien Deutschen Hochstifts verfügt über eine umfangreiche Sammlung von Illustrationen zum »Faust«. Die rund 2.500 grafischen Blätter und Buchseiten vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart zeigen Gretchen in der Kirche, Faust im Studierzimmer oder wie sich ein schwarzer Pudel in Mephisto verwandelt (womit dann der Teufel als »des Pudels Kern« in das Geschehen eingreift). Bei der Mitwirkung des Hochstifts am LOEWE-Schwerpunkt stehen diese Abbildungen im Zentrum des Teilprojekts »Illustrationen im Umfeld von Goethes ›Faust‹«. Die digitalisierten Illustrationen bilden in ihrer Gesamtheit nun ein »Bildcorpus«.
Die ungleich anspruchsvollere Aufgabe bestand darin, eine Software zu entwickeln, mit deren Hilfe man eine Verknüpfung zwischen den Bildinhalten und den korrespondierenden Textstellen herstellen kann: Auf welchen Vers bezieht sich der Illustrator, und gibt er den Text genau wieder, oder handelt es sich um eine freie Interpretation? Das Bildcorpus soll auch Aussagen über das Verhältnis der Illustrationen untereinander ermöglichen und Einblicke in die Rezeptionsgeschichte des Dramas geben. Die Illustrationen werden auf einer Online- Plattform frei zugänglich gemacht.
Die technischen Grundlagen für Auswertung und Verknüpfung stammen vom Text Technology Lab der Goethe-Universität, das auch bei den laufenden Arbeiten mit den Kunst- und Literaturwissenschaftlern des Freien Deutschen Hochstifts kooperiert. Geleitet wird das Text Technology Lab von Alexander Mehler, Professor für Texttechnologie / Computional Humanities. Sein Aufgabengebiet ist der computerund informationswissenschaftliche Kern des LOEWE-Schwerpunkts und anderer Projekte im Bereich der Digital Humanities.
Vorsicht, »feindliche Übernahme«?
Ohne die Expertise von Alexander Mehler und seinem Team blieben die Humanities in Frankfurt weitgehend analog. Die Geisteswissenschaften allgemein sind auf eine Zusammenarbeit mit der Informatik angewiesen, um Erkenntnisse zu gewinnen, die mit den bisherigen Instrumenten nicht möglich waren. Trotzdem gibt es in der geisteswissenschaftlichen Community eine lebhafte Diskussion über einen möglichen »Ausverkauf an die Informatik«, verbunden mit der Furcht vor einer »feindlichen Übernahme« durch ihre Dogmen.
Alexander Mehler plädiert für einen »interdisziplinären Dialog zwischen den Wissenschaftskulturen «, der von »beiden Seiten selbstbewusst« geführt wird. Manche Animositäten beruhten ganz einfach darauf, dass man spezifische Methoden und Erkenntnisprozesse des jeweils anderen Faches nicht kenne oder missverstehe. Ein Informatiker müsse auch erst lernen, was sich hinter der Hermeneutik, der geisteswissenschaftlichen Vorgehensweise des Verstehens und Interpretierens, verbirgt.
Alexander Mehler sieht die Digital Humanities – er selbst bevorzugt den Ausdruck »Computational Humanities« – auf dem Weg zu einer eigenständigen Disziplin. Das hätte auch den Vorteil, dass ihre Vertreter die beteiligten Fächer soweit kennen, dass sie vor falscher Furcht oder übertriebenen Erwartungen gefeit sind. Manche der neuen Vorgehensweisen und Fragestellungen, so Mehler, erhielten ihre Prägung erst an der Nahtstelle zwischen Geisteswissenschaften und Informatik. Das zeige sich etwa bei intertextuellen Strukturen, die allein an Textmengen beobachtbar sind, deren Größe nur computerbasiert zu bewältigen ist.
Gegenstände des LOEWE-Schwerpunkts sind auch Corpora älterer Sprachen, die im Hinblick auf die wechselseitige Beeinflussung von Texten untersucht werden. Manche Texte – in diesem Fall Handschriften, die digitalisiert worden sind – haben eigentlich denselben Inhalt. Sie unterscheiden sich aber trotzdem, manchmal nur in winzigen Details, andere Fassungen liegen sehr weit auseinander. So ist es zum Beispiel bei Bibeltexten in altgeorgischer Sprache, die alle die vier Evangelien zum Inhalt haben.
Wer hat nun von wem abgeschrieben, und welche Fassung war die erste, die wiederum als Übersetzung aus einer anderen Sprache Eingang ins Altgeorgische gefunden hat? Diese Frage gehört zu einem LOEWE-Teilprojekt unter Leitung des Sprachwissenschaftlers Jost Gippert. Ihre Beantwortung zielt auf die Klärung von Verwandtschaftsverhältnissen, die sich auch in einem Stammbaum darstellen lassen.
Doch wie macht man das? Um diese Aufgabe kümmert sich Armin Hoenen. Er gehört zum Text Technology-Team von Alexander Mehler. Eines seiner Spezialgebiete ist die Stemmatologie, die – vereinfacht gesagt – Lehre von der Erstellung eines Stammbaums. »Wenn eine Handschrift kopiert wird, entstehen Abweichungen. Und diese Varianten vermehren sich von Abschrift zu Abschrift«, so Hoenen, der über die computergestützte Stemmatologie promoviert.
Wie die Genetik dem Altgeorgischen hilft
Im Prinzip werden die Texte Wort für Wort miteinander verglichen. Texte mit größeren Trefferquoten – dieselben Worte sind an derselben Stelle identisch – deuten auf einen höheren Verwandtschaftsgrad hin. Bei 15 Texten von jeweils 10.000 Worten Länge muss man beispielsweise mehr als eine Million Wortpaare miteinander vergleichen.
»Das ist für einen Menschen kaum zu leisten, für einen Computer aber kein Problem «, so Hoenen. Die Herausforderung besteht allerdings in den Algorithmen, den Programmierschritten, mit denen man am schnellsten und zuverlässigsten zum Ziel kommt. Und hier lässt sich immer noch etwas dazulernen. Diese Weiterentwicklung ihres eigenen Fachgebiets ist Informatikern wichtig. Eine Lösung, die in einem Zusammenhang gefunden wurde, kann auch in einem anderen nützlich sein. »In diesem Sinne ist die Informatik transdisziplinär «, so Armin Hoenen.
»Sie betrachtet die Probleme als solche, während ihre konkrete Manifestation in der Biologie, Chemie, Medizin, Geschichts- oder Sprachwissenschaft die Dimension ist, die die jeweiligen Fachwissenschaften betrifft.« Bei seiner Arbeit mit den altgeorgischen Texten helfen dem Informatiker, der auch Biologie und Linguistik studiert hat, Erkenntnisse, die im Bereich der Biologie gemacht wurden. Und vielleicht kann ja auch die Biologie, und hier besonders die Genetik, zunehmend von Algorithmen profitieren, die sich wiederum in den Digital Humanities bewährt haben.
Der stete Fortschritt der digitalen Möglichkeiten könnte auch einer noch im Verborgenen blühenden Forschungsposition helfen, ihr volles Potenzial zu entwickeln. Die Historische Semantik entstand in den 1960er Jahren. Auf Sprache und Texte bezogen untersucht sie den Wandel charakteristischer Begriffe und ihrer Bedeutung in der Geschichte und für die Geschichte: Welche Mentalitäten, Orientierungen und Ideologien treten in diesen Begriffen zutage? Was sagt ihr Gebrauch über die jeweilige Zeit aus?
»Erst heute haben wir die technischen Mittel, um den alten Texten diese Informationen auch wirklich zu entlocken«, sagt Bernhard Jussen, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Goethe-Universität. Wenn die Historische Semantik Phänomenen des Sprachwandels nachspürt, sucht sie in Texten nicht nur nach den einzelnen Worten, sondern auch nach den Wortgruppen oder Wendungen, mit denen sie gemeinsam auftreten. Dieser Zusammenhang – das sogenannte semantische Feld – lässt nähere Aussagen zur Verwendung eines Wortes zu. Solche Ko-Okkurenzen, das gemeinsame Auftreten bestimmter Wörter, »von Hand« herauszusuchen, ist nur in einem sehr begrenzten Umfang möglich.
Ein Computer kennt keine Deutungstraditionen
Die computergestützte Historische Semantik des Frankfurter Projekts kann wesentlich dazu beitragen, etablierte Annahmen zu korrigieren. »Ein Computer versteht nichts von geisteswissenschaftlichen Deutungstraditionen, er zählt einfach«, so Jussen. Manche Ausdrücke, die bislang große Aufmerksamkeit genossen hätten, seien gar nicht verbreitet gewesen. In der Forschung gelte etwa »christianitas « als eine Leitvokabel des mittelalterlichen Denkens.
»Mit den neuen Verfahren können wir nun sehen, dass ›christianitas‹ gar keine politische Konzeptvokabel war und dass sie genau in den Texten, die in der Ideengeschichte im Fokus stehen, geradezu gemieden wird.« Die Forschungen auf dem Feld der Computational Historical Semantics gehören einerseits zum Leibniz-Projekt »Politische Sprache im Mittelalter « unter Leitung von Bernhard Jussen. Andererseits sind sie Bestandteil des LOEWESchwerpunkts. In Kooperation mit dem Text Technology Lab des Informatikers Alexander Mehler entstand in den letzten Jahren das weltweit größte frei zugängliche lateinische Wortformen- Lexikon, das »Frankfurt Latin Lexicon«, mit derzeit gut acht Millionen Wortformen.
Diese Datenbank wird auch dafür gebraucht, um in den Texten nach verschiedenen grammatischen Formen eines Wortes zu suchen. Das eigentliche Analyse-Werkzeug zur Interpretation historischer Sprachwandelphänomene ist ebenfalls schon im Einsatz. Die webbasierte Anwendung für die Breitennutzung heißt CompHistSem (Computational Historical Semantics), für Experten HSCM (Historical Semantics Corpus Management).
Ab Anfang 2015 steht die erste umfassende geschichtswissenschaftliche Untersuchung auf dem Programm. Dann erforscht eine internationale Gruppe von Mittelalterhistorikern die politische Sprache der Karolingerzeit, die in der Gesellschaft keine Trennung zwischen dem religiösen und dem politischen Bereich kannte. Die digitale Technik steht bereit. Schon die Version für Informatik- Laien ist überaus leistungsfähig – und dabei einfach zu bedienen. Ausreden gelten nun nicht mehr. Bernhard Jussen:
»Wir hoffen, grundsätzlich in die Arbeitsweise der Zunft einzugreifen. Ich wollte, dass es für Historiker einfacher ist, das Tool zu benutzen, als es nicht zu benutzen.« Damit ist in diesem Fall wohl auch die Sorge ausgeräumt, dass nur »Nerds« die computerbasierten Möglichkeiten nutzen können. Doch wie steht es mit Goethes Faust? Wäre er nach dem Studium der Digital Humanities klüger geworden? Wahrscheinlich nicht. Denn Faust wollte nichts weniger wissen, als »was die Welt im Innersten zusammenhält«. Dafür ist die elektronische Datenverarbeitung dann doch nicht zuständig. Obwohl: Im Sommer 2013 soll Informatikern der Beweis für die Existenz Gottes gelungen sein; sie haben eine logische Konstruktion des Mathematikers Kurt Gödel erfolgreich mit dem Computer nachvollzogen. Aber das ist wohl ein anderes Thema.