Der Makroökonom Alexander Ludwig hat den kompletten Corona-Lockdown in Spanien im Frühjahr 2020 erforscht.
UniReport: Herr Professor Ludwig, beim Thema Corona sind es vor allem Virologen und Mediziner, die zur Wirksamkeit von Corona-Maßnahmen forschen. Welchen Beitrag können Ökonomen dazu leisten?
Alexander Ludwig: Ich bin als Makroökonom und Finanzwissenschaftler an gesellschaftlichen Fragen interessiert. Die Frage nach den Auswirkungen des Lockdowns auf Mortalität ist ein wichtiger Baustein in der Frage nach den gesamtökonomischen Auswirkungen des Geschehens und den Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie.
Können Sie etwas zur Genese der Studie sagen?
Das Papier ist zusammen mit drei Kollegen von der Universitat Autònoma de Barcelona entstanden, Christian Alemán, Christopher Busch und Raül Santaeulàlia-Llopis. Wir – da war Christian noch nicht dabei – hatten schon ganz zu Beginn mit einer Ende März erschienen Publikation, also etwa zwei Wochen nach dem Lockdown in Spanien – die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen des Lockdowns hinterfragt und in unserem Blogbeitrag frühzeitig dafür plädiert, die Restriktionen baldmöglichst zu lockern, insbesondere wegen der wirtschaftlichen und sozialen Kosten und da wir der Meinung waren, dass er zu spät kam, um die Mortalität deutlich einzudämmen. Seinerzeit hatten wir nur auf die Wachstumsraten geschaut und festgestellt, dass diese zum Zeitpunkt des Lockdowns bereits abnahmen, was auf ein baldiges Ende der Welle der Epidemie hindeutet.
In dem Rahmen haben wir uns gefragt, wie man eigentlich die Effekte des Lockdown auf die Mortalität abschätzen könnte. Der Nachteil ist, dass der Lockdown in allen Regionen Spaniens zur gleichen Zeit eintrat, so dass es keine kontrafaktische Gruppe gibt, also keine Kontrollgruppe wie etwa in kontrollierten Studien, z. B. medizinische Studien, in denen eine Gruppe ein Medikament bekommt und eine andere nicht. Die Frage ist dann, wie man eine Kontrollgruppe gewissermaßen konstruieren kann. Unser Trick besteht in der Beobachtung, dass man über Epidemien nicht in der Zeit, sondern im Zustand der Epidemie nachdenken muss. Die Nichtlinearität epidemischer Prozesse ausnutzend, besteht unser Ansatz dann in einem ersten Schritt darin, die Unterschiedlichkeit des Zustands der Epidemie in den verschiedenen spanischen Regionen aus den Daten zu extrahieren. Vereinfachend ausgedrückt war Madrid zum Zeitpunkt des Lockdowns viel weiter im epidemischen Verlauf; das Maximum der Anzahl der täglich Sterbenden war – wenn man einen zeitlichen Lag von zwölf Tagen unterstellt, bis der Lockdown wirksam wird – zum Zeitpunkt des Lockdowns quasi schon erreicht, wohingegen andere Regionen noch in einem früheren Zustand waren (die Mortalitätszahlen stiegen also noch deutlich). Wir nutzen diese Unterschiede zwischen allen Regionen im Vergleich zu Madrid aus, um die Effekte pro Region abschätzen zu können.
Warum hat sich Spanien als Untersuchungsland für die Studie angeboten?
Weil in Spanien der Lockdown relativ überraschend kam und davor kaum Verhaltensreaktionen stattgefunden haben. So lassen sich die Effekte gut auf den Lockdown zurückführen. Noch eine Woche zuvor gab es z. B. anlässlich des Weltfrauentags in Madrid eine große Demonstration, ich selbst war donnerstags nach einem Seminarvortrag noch mit Kollegen essen, währenddessen kam die Nachricht, dass Madrid die Unis schließt. Zwei Tage später war alles dicht. Darüber hinaus waren Verhaltensanpassungen zuvor relativ gering.
Können Sie etwas zu Ihrer empirischen Methode sagen, welche Parameter haben Sie herangezogen für Ihre Berechnungen?
Aufgrund der Messschwierigkeiten bei den tatsächlich infizierten – wir kennen ja nur die diagnostizierten Fälle, und wie viele das sind, hängt von der Intensität des Testens ab – haben wir die Sterblichkeit betrachtet, also die Anzahl der täglich als offiziell Corona-Tote ausgewiesenen verstorbenen Menschen. Auch das ist nicht unproblematisch und mit Messfehlern behaftet. In einer Erweiterung haben wir die Übersterblichkeit betrachtet und kommen zu ähnlichen Ergebnissen, allerdings sind die Parameter dann mit größerer Unsicherheit geschätzt. In einem ersten Schritt schätzen wir dann Funktionen über die Zeit, die den Pandemieverlauf in einer Region gut beschreiben mit Bezug auf Schnelligkeit des Anstiegs der Verstorbenen, Maximum, Zeitpunkt des Maximums und die Rechtsschiefe, d. h., die Tatsache, dass die Zahl der Verstorbenen bis zum Maximum schneller steigt, als sie danach fällt. Sobald wir die pro Region haben, führen wir eine Transformation in jeder Region durch, wobei Madrid als Referenzgruppe oder Kontrollgruppe dient. Unsere Methode übersetzt die epidemischen Verläufe in allen Regionen in den von Madrid und macht sie vor dem Zustand, zu dem der Lockdown eintritt, gleich. Zugleich bestimmt sie den Zustand in der Kalenderzeit von Madrid, zu dem der Lockdown in, sagen wir, dem Rest Spaniens als zusammengefasste Region eintritt. Um das plastisch zu machen: Der Lockdown kam am 14. März. Wir messen den Effekt auf die Verstorbenen, indem wir einen zeitlichen Lag von zwölf Tagen unterstellen (und hinterher prüfen, wie unsere Ergebnisse damit variieren), also am 26. März. Zum Zeitpunkt 26. März war der Rest Spaniens aber noch in einem früheren Zustand, so wie Madrid in etwa am 19. März aussah. Also haben wir dann – in der Zeit von Madrid gerechnet – zwischen dem 19. März und dem 26. März ein Überlappungsintervall, währenddessen der Lockdown in der transformierten Region Restspanien bereits einen Effekt hatte, in Madrid aber noch nicht. Aus diesem Intervall können wir dann ausrechnen, um wieviel Prozent die Anzahl der Verstorbenen in Restspanien niedriger war. Wir übersetzen das, um ein positiv assoziiertes Maß zu verwenden, in den Prozentsatz geretteter Leben, statt über weniger Tote zu sprechen.
Sie sagen in Ihrem Paper, dass in spanischen Regionen, die zum Zeitpunkt des Lockdowns in einem früheren Zustand der Pandemie waren – d. h. weniger Infektionen pro 100 000 Einwohner und /oder eine höhere Sterblichkeit hatten – die Maßnahmen besser gegriffen hätten. Inwiefern sind Faktoren wie Altersstruktur, Bildungsniveau, soziale Schichtung, Gesundheitsversorgung etc. dabei berücksichtigt?
Es ist nicht die Frage der Infektionen pro 100 000 Einwohner, die für uns die relevante Statistik ist, sondern wie der zeitliche Verlauf der Todesfälle ist. In Regionen, in denen hier der Anstieg noch sehr steil war, ist der Effekt am größten, prozentual. Die von Ihnen genannten Faktoren – Altersstruktur, Bildungsniveau, soziale Sicherung, Gesundheit der Bevölkerung, Versorgung – sind implizit in unserer Methode durch die Normierung aufgefangen. Anders ausgedrückt, Regionen unterscheiden sich bezüglich dieser Charakteristika, in dem Moment, in dem ich pro Region die Schätzung durchführe, brauche ich diese dann nicht explizit zu berücksichtigen. Während unsere Methode zwar einerseits so die Heterogenität der Regionen bezüglich dieser Merkmale berücksichtigt, macht sie das andererseits aber eben implizit, d. h., wir können nicht berechnen, wie groß der Effekt etwa einer Einheit mehr Stickoxid in der Atmosphäre auf die Corona-bedingte Mortalität war, um ein Beispiel zu nennen.
Rettet ein früher Lockdown nicht in jedem Fall mehr Menschenleben als ein später, gibt es demgegenüber auch einen zu »frühen« Lockdown?
Es ist tautologisch, dass ein früherer Lockdown mehr Lebensjahre rettet, weil er ja länger andauert und die Lebensjahre pro Tag gerettet werden. Etwas subtiler ist, dass wir berechnen, dass der prozentuale Effekt höher ist, wenn er früher eintritt. Der Grund ist, dass in den Regionen, in denen der Lockdown zu einem früheren Zustand eintritt, das Infektionsgeschehen zu einem Zeitpunkt unterdrückt wird, an dem der epidemische Verlauf sehr steil ist, sich das Virus also gerade sehr stark verbreitet. Unsere Ergebnisse dürfen aber nicht so verstanden werden, dass wir für einen früheren Lockdown plädieren. Wir betrachten ja wie gesagt nur die eine Seite der Medaille, ohne die Kosten des Lockdowns zu berücksichtigen. Wenn man die geretteten Leben zum Beispiel ökonomisch bewertet – und ich betone hier die ökonomische Bewertung, was moralphilosophisch sicherlich sehr umstritten ist –, so ist dies geringer oder in etwa gleich den direkten ökonomischen Kosten, die der Lockdown verursacht hat. Ich betone hier direkte ökonomische Kosten. In einer anderen Arbeit habe ich mit einer anderen Gruppe von Ko-Autoren zum Beispiel die langfristigen ökonomischen Kosten der Schulschließungen für Kinder berechnet, die leider auch sehr hoch sind; dies sind zusätzliche indirekte Kosten. Hinzu kommen noch direkte und indirekte soziale Kosten. In unserem Papier gehen wir diese Abwägung aber nicht ein, sondern liefern einen Beitrag, wie Parameter in sophistizierten Modellen, die den Versuch machen, eine solche Abschätzung explizit vornehmen, bezüglich der Effektivität auf die Mortalität bestimmt werden müssen.
Sind »soziale Kosten« ebenso wie ökonomische Kosten berechenbar?
Prinzipiell ja. Dazu werden sogenannte hedonische Regressionen herangezogen, also Methoden, die Marktpreise benutzen, um Güter zu bewerten, die am Markt nicht gehandelt werden. Diese Methoden werden zum Beispiel eingesetzt, um die ökonomischen Kosten von Umweltkatastrophen zu berechnen, oder, wie oben bereits erwähnt, z. B. den Wert eines statistischen Lebens oder Lebensjahres zu berechnen.
Welche Schlüsse könnte die Politik aus Ihren Ergebnissen ziehen? Lassen sich die Erkenntnisse aus Spanien auf Deutschland übertragen? Haben sich beim zweiten Lockdown im Herbst die Rahmenbedingungen gegenüber dem Frühjahr verändert, hat die Politik »gelernt«?
Zuallererst zeigen unsere Ergebnisse, dass die Effekte des Lockdowns, auch wenn er früher eingeführt worden wäre, nicht so groß sind, wie die anfänglichen Studien postuliert haben. Typische epidemiologische Modelle, die sogenannten SIR-Modelle, haben das Problem, dass zahlreiche Parameter unbekannt sind. Wir liefern hier einen Beitrag. Unsere Analyse bestätigt andererseits die Einsichten, dass ein früher Lockdown einen prozentual größeren Effekt hat. Ein Nachteil unseres Ansatzes ist, dass wir die Effekte einzelner Maßnahmen nicht abschätzen können. Es ist anzunehmen, dass mit dem Verbot von Großveranstaltungen und einem gezielten Schutz der älteren Bevölkerung schon sehr viel erreicht wäre. Jede zusätzliche Maßnahme hat eben einen abnehmenden Zusatznutzen, bei gleichzeitig zunehmendem ökonomischen und gesellschaftlichen Schaden. Da unsere Ergebnisse zeigen, dass der Gesamteffekt dann auch wiederum nicht so groß ist relativ zu den ökonomischen und gesellschaftlichen Kosten, unterstreichen unsere Ergebnisse von daher die Notwendigkeit eines sorgfältigen Abwägens und legen nahe, einen totalen Lockdown zu vermeiden, auch wenn wir das nicht explizit zeigen können.
Fragen: Dirk Frank
Prof. Dr. Alexander Ludwig ist Professor für Öffentliche Finanzen und Makroökonomische Dynamiken an der Goethe-Universität; er ist Fellow am Leibniz-Institut für Finanzmarktforschung SAFE.
Foto: SAFE
Die Publikation Aleman, Christian and Busch, Christopher and Ludwig, Alexander and Santaeulalia-Llopis, Raul, Evaluating the Effectiveness of Policies Against a Pandemic (November 11, 2020) finden Sie hier.
Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 6.20 (PDF) des UniReport erschienen.