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Frankfurt in den 70ern: Ein chilenischer Student erzählt

Ein politischer Flüchtling berichtet vom Leben am alten Uni Campus Bockenheim.

Iván Barbaric.

Mit einem Flugzeug der Lufthansa landet Iván Barbaric im Dezember 1973 am Flughafen in Frankfurt am Main. Er trägt ein kurzärmeliges Hemd. Es war klirrend kalt, erzählt er, Schnee hatte er bis dahin noch nie gesehen. Nur drei Monate zuvor, am 11.09.1973, wurde sein Heimatland Chile von der rechten Regierung geputscht. Er hatte gerade sein Studium in Wirtschaftswissenschaften in Valparaíso angefangen, als sein Name auf dem 68. Schießbefehl zu lesen ist. Sein Fluchtweg führte ihn in die Hauptstadt Santiago, wo er einen holländischen Diplomaten trifft. Mit seiner Ente fährt er ihn durch die Stadt, bis sie vor dem unbewachten Haus des deutschen Botschafters halten. Dort verbringt er einen Monat, bis er Chile endgültig verlassen kann. „Es war mir egal, wohin ich kam, ich wusste, es ist nur vorübergehend“, sagte er. Fünfzehn Jahre sollten vergehen, bis er seine Familie wiedersehen kann, ebenso lange dauert die Diktatur in Chile. In Frankfurt belegte Iván zunächst einen Deutschkurs und unterstützte lateinamerikanische Solidaritätsveranstaltungen in der Mensa und dem KOZ (Kommunikationszentrum) der Goethe-Universität. Immer mit dem Gedanken, bald zurückzukehren. Nach einiger Zeit bezieht er eine Wohnung in Heddernheim mit drei jungen Geflüchteten.

Er erinnert sich an ein Gedicht von Brecht und sagt: „Ohne dass du es merkst, gießt du eine Pflanze und schlägst einen Nagel in die Wand, um ein Bild daran aufzuhängen und so schlägst du schlussendlich Wurzeln“. Nach einiger Zeit schrieb er sich in BWL ein, wechselte jedoch bald zu Soziologie. Das Leben des jungen Chilenen spielte sich zu dieser Zeit am Campus in Bockenheim ab. Er besucht Seminare, organisiert Veranstaltungen. „Wir lebten nur in Gesprächen“, sagt er und berichtet über die Nachwehen der 68er-Bewegung und die Prägungen der Frankfurter Schule. Auch nach den Seminaren herrschte ein enger Kontakt zwischen Dozierenden und Studierenden. Regsam wird über die verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Themen diskutiert. Einer der wichtigsten Orte dieser Zeit: der AfE-Turm. In diesem traf Iván auch seine heutige Frau. Im fünften Obergeschoss war ein Wohnzimmer mit uralten Möbeln für Studierende eingerichtet. „Hier konnte man sich treffen und austauschen. Mit der Sprengung verschwand ein Stück Heimat und Geschichte“, sagt Iván und ist sichtlich berührt. Anfang der 80er-Jahre gründete Iván mit exilierten Professorinnen, Professoren und Mitstudierenden eine Arbeitsgruppe. Das lateinamerikanische Institut für Sozialforschung (F.I.L.S) zieht in das Studierendenhaus der Goethe-Universität in die Jügelstraße 1, Zimmer 33.

Von dort aus planen sie Symposien, Ausstellungen, Musikveranstaltungen, Filmvorführungen und Lesungen. Die eingeladenen Professorinnen, Professoren und Diplomaten aus Lateinamerika und Deutschland verfolgten das Ziel, die Reflexion der lateinamerikanischen Wirklichkeit zu fördern. Heute koordiniert Iván die Lateinamerikanische Woche in Frankfurt, die immer im Herbst am Campus Westend stattfindet. Auch wenn er nun in Frankfurt wohnt, hat er sich den Bezug zu seinem Herkunftsland immer bewahrt.

Anita Schmidt

Anita Schmidt hat den Beitrag im Rahmen eines Seminars der Buch- und Medienpraxis recherchiert und geschrieben. Das Fortbildungsprogramm der Goethe-Universität Frankfurt richtet sich an Hochschulabsolvent*innen aller Fachbereiche, die sich für die Arbeit im Kultur-, Literatur-, und Medienbetrieb interessieren. Das zweisemestrige Programm bietet die Möglichkeit studien- oder berufs­begleitend Abendkurse von Expert*innen aus den verschiedenen Branchen zu besuchen. www.buchundmedienpraxis.de

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