Goethe-Vigoni Discorsi: Wie Mafia-Clans die Krise nutzen

Ein Beitrag von Roberto Saviano


Der Ausnahmezustand ist die beste Voraussetzung für Geschäfte, die schnell gehen und im Halbdunkel abgewickelt werden müssen. Europa erkennt, dass es spät dran ist bei dem Versuch, die zweite Corona-Welle in den Griff zu bekommen. Allerdings ist es eigentlich keine zweite Welle, sondern immer noch die erste, deren Angriff auf die Welt noch längst nicht ans Ende gekommen ist.

Europa hat keinen Plan, wie die durch die Pandemie verursachte Geldwäsche und der Wucher gestoppt werden könnten (Amerika gibt da auch kein besseres Bild ab). Die Mafia-Clans nutzen die Krise, um ihr schmutziges Geld schneller bewegen zu können, denn es gibt weniger Kontrollen. Maßnahmen gegen Geldwäsche, das ist bekannt, funktionieren am besten, wenn die Länder wirtschaftlich gut dastehen. Aber wenn die Mittel fehlen und der Konsum einbricht, brauchen alle Geld, und viele wollen dann gar nicht so genau wissen, woher es kommt. Wenn es kaum Brot gibt, fragt kaum einer, aus welcher Backstube es stammt: Die Mafia-Clans nutzen die alte Regel zu ihrem Vorteil. Daher ist die Auffassung, die Mafia sei ein rein italienisches Problem, so fehlgeleitet wie die Annahme, das Virus sei ein lokales Phänomen.

Man denkt, es treffe vor allem fragile Wirtschaftsräume, sei also ein Thema vor allem für Süditalien oder Osteuropa. Doch das ist falsch. Seit Jahren sind die kriminellen Organisationen im gesamten europäischen Wirtschaftsleben aktiv, und sie lassen sich nicht entgehen, was ihnen die Covid-Ökonomie bietet. Covid-Ökonomie ist die durch die Pandemie erzeugte Wirtschaft, die für einige wenige zum Vorteil wird, während alle anderen unter der Katastrophe leiden. Realwirtschaft und die Wall Street haben sich zuletzt immer weiter voneinander entfernt.

Doch je schlechter es der Realwirtschaft geht, desto mehr blüht die Börse. Die Realwirtschaft aber, die Geschäfte und kleinen Unternehmen, die Hotels, Restaurants, Speditionsunternehmen, Spielhallen und Bars – was wird aus ihnen? Sie werden von der Mafia gefressen. Doch stellen sich die Europäer die einzige Frage, die sie sich stellen müssten, um ihre Realwirtschaft zu verteidigen? Nein! Die Frage lautet: Wer sorgt dafür, dass die Côte d’Azur oder die Costa del Sol, die wegen der Tourismuskrise 2020 in die Knie gegangen sind, wieder auf die Beine kommen? Was wird aus den Berliner Restaurants und den Londoner Pubs, die wegen des Lockdown wochenlang geschlossen waren? Was geschieht mit den nicht vermieteten Häusern in den Hauptstädten Europas? Wer nutzt sie für Erwerb und Spekulation? Dem schmutzigen Geld standen noch nie so viele Türen so weit auf wie heute, Kontrollen gibt es derzeit kaum. Die Pandemie befördert den Wucher überall, aber nur Italien scheint sich damit zu befassen.

Die Daten des italienischen Innenministeriums sind deutlich: Im ersten Quartal 2020 ist der Wucher das einzige Verbrechen, das Zuwachsraten gegenüber dem Vorjahr verzeichnet. In einer Zeit, in der alle anderen Verbrechen von Einbrüchen bis zu Erpressung zurückgegangen sind, stieg der Wucher um 9,6 Prozent an. Je häufiger Banken ihren Kunden Kredite verweigern, umso mehr blüht das Geschäft mit der Geldverleihe zu Wucherpreisen. Familien haben ja weiterhin ihre Ausgaben, und Unternehmen müssen trotz Kurzarbeit Mieten und Gehälter zahlen.

Die Geldverleiher zahlen stante pede und verlangen als Garantie das Einzige, was ihrer armen Kundschaft noch an Pfand geblieben ist: das eigene Leben. Denn sie wissen: Wem im Ernstfall das Haus abgefackelt oder die eigene Tochter vergewaltigt wird, der wird seine Schulden um jeden Preis zurückzahlen. Glauben Sie, das gibt es nur in Italien, aber nicht in Großbritannien, Spanien, Griechenland oder Frankreich? In Deutschland gab es die Debatte, ob die Mafia nur auf den Geldregen der Eurobonds gewartet habe. Die Sorge war groß, dass die Summen vollständig abgegriffen würden. Die Sicht spricht für Unkenntnis. Denn die Geschäfte der Mafia sind gigantisch. Allein ’ndrangheta erbeutet im Jahr sechzig Milliarden Euro, die Camorra zwischen zwanzig und fünfunddreißig Milliarden. Diese Organisationen verfügen demnach über so große Summen, dass sie auf europäische Hilfsgelder gewiss nicht gewartet haben.

Die finanzielle Unterstützung muss kontrolliert und sollte keinesfalls undifferenziert verteilt werden. Denn natürlich nimmt sich die Mafia alles, was sie bekommen kann; aber das ist nicht ihr primäres Ziel. Die Hilfsgelder sollen vor allem dazu dienen, die in Schwierigkeiten geratenen Unternehmen vor der mafiosen Ausplünderung zu bewahren. Doch jetzt wird hierfür deutlich weniger Geld ausgegeben, als es nötig wäre. Vielleicht kann sich Europa gegen Covid-19 schützen, aber sicherlich nicht vor der Covid-Ökonomie. Auch Deutschland ignoriert das Risiko, obwohl die deutsche Volkswirtschaft zu den gefährdetsten zählt. Denn das deutsche Finanzsystem macht es den Kriminellen extrem leicht, schmutziges Geld zu verstecken. In seinem jährlichen „Financial Secrecy Index“ führt das unabhängige „Tax Justice Network“ die Länder auf der Grundlage ihres „Geheimhaltungsgrades“ und der Reichweite ihrer Offshore-Finanztransaktionen auf. An erster Stelle stehen die Cayman-Inseln, Deutschland steht auf Rang vierzehn und liegt damit noch vor Panama und Jersey. Die Bundesrepublik ist also keineswegs sicher vor dem schmutzigen Geld, das durch die Pandemie in Bewegung gesetzt wurde. Dem Juristen Kai-D. Bussmann von der Universität Halle-Wittenberg zufolge beträgt die Geldwäsche in Deutschland jedes Jahr hundert Milliarden Euro. Kann man da in Berlin tatsächlich noch behaupten, man sei nicht betroffen?

Je weniger die Volkswirtschaften die von Corona besonders betroffenen Länder unterstützen, desto mehr überlässt man sie der organisierten Kriminalität. Man kennt das aus der Vergangenheit: Noch in jeder Epidemie haben kriminelle Organisationen triumphiert. Während der Pest im siebzehnten Jahrhundert übertrug die Mailänder Stadtregierung die Straßenkontrollen Verbrecherbanden – aus reiner Ohnmacht. Dasselbe passiert jetzt mit den Geldströmen, die sich über bankrottgegangene Restaurants ergießen, über kriselnde Fabriken, über Stadtviertel, die kurz vor dem Kollaps stehen. Das Wirtschaftsleben, das der Pandemie zum Opfer gefallen ist, wird dem schmutzigen Geld überantwortet.

Selbst die sozialstaatliche Fürsorge wird delegiert, wie es in Mexiko und Brasilien bereits geschieht. Dort wurde die Fürsorge für die Alten und Bedürftigen dem Primero Comando da Capital und dem Cartel del Golfo übertragen. Zu gegebener Zeit werden sie den Preis für ihre Großzügigkeit einfordern. Und das soll in den Randgebieten von Prag, Stuttgart, Neapel, Marseille oder Barcelona anders kommen? Während der Pest und auch während der Cholera im Italien Ende des neunzehnten Jahrhunderts sind die Banden mit den Verstorbenen so umgegangen, wie es derzeit in Indien und Ecuador geschieht. Der Staat ist außerstande, sich um die Leichname aus den Armenvierteln zu kümmern. Um zu verhindern, dass sie auf den Straßen liegen bleiben, hat man die lokalen MafiaVertreter eingespannt. Diese gewinnen dann als Gegenleistung etwa Ausschreibungen für bestimmte Gesundheitsmaßnahmen.

Die italienischen kriminellen Organisationen verdienen an Beerdigungen nicht erst seit der Pandemie, sondern seit mehr als fünfzig Jahren. Sie investieren seit vielen Jahren außerdem ins Gesundheitswesen. Erst am Ende der CoronaKatastrophe werden wir sehen, in welchem Umfang es ihnen gelungen ist, sich an italienischen und europäischen Krankenhäusern zu beteiligen. Derzeit konzentrieren wir uns darauf, die Toten zu zählen und auf Rettung durch einen Impfstoff zu hoffen. Für die Zeit, wenn das alles hinter uns liegt, bleibt die Forderung, dass Europa als Ganzes zugunsten der Unternehmen eingreifen muss, die schon eingegangen oder gefährdet sind. Andernfalls werden sie durch kriminelles Kapital „gerettet“.

Aus dem Italienischen von Christiane Liermann.

Roberto Saviano, Schriftsteller


Dieser Artikel erscheint in der Reihe Goethe-Vigoni Discorsi und ist in einer leicht abgewandelten Version zuerst am 25. August 2020 online in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht worden.

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