Die Vorgeschichte eines Strafprozesses zum Sujet eines Spielfilms zu machen ist ein gewagtes Unterfangen. Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen werden in der Regel in mühevoller Arbeit am Schreibtisch einer Amtsstube vollbracht. Justizjuristen, genauer: die Sachbearbeiter der einzelnen Verfahren, sind nüchterne Beamte, die ihre Gefühle zu zügeln wissen. Einen dramatischen Arbeitstag mit allerhand Turbulenzen haben sie meist nicht.
Im Fall des Frankfurter Auschwitz-Prozesses stellte sich die Arbeitssituation für die beiden jungen Staatsanwälte, die vom hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903 –1968) Mitte 1959 beauftragt worden sind, den Verbrechenskomplex Auschwitz aufzuklären, etwas anders dar. Georg Friedrich Vogel (1926 – 2007) und Joachim Kügler (1926 – 2012) waren auf ihre Tätigkeit nicht vorbereitet. Weder lagen ihnen historische Darstellungen vor, die eine Einarbeitung in den Untersuchungsgegenstand ermöglicht hätten, noch konnten sie Historiker konsultieren, die die Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz erforscht hatten.
Vogel und Kügler leisteten intensive Archivarbeit, fuhren Mitte 1960 hinter den Eisernen Vorhang nach Polen und sichteten Dokumente, vernahmen Auschwitz- Überlebende und SS-Zeugen. Unterstützung erhielten sie von dem einstigen Auschwitz-Häftling und Generalsekretär des Internationalen Auschwitz-Komitees, Hermann Langbein (1912 –1995), der nicht nur die Namen vieler Auschwitz- Täter sondern auch die Adressen von Auschwitz-Überlebenden den Staatsanwälten zur Verfügung stellen konnte.
Journalist bringt den Auschwitz-Prozess ins Rollen
Wie war es dazu gekommen, dass Fritz Bauer in Sachen Auschwitz initiativ werden konnte? In Gang brachte ein investigativer Journalist die ganze Angelegenheit. Dem Engagement von Thomas Gnielka (1928–1965) ist es zu verdanken, dass Frankfurt am Main der Ort wurde, in dem „Auschwitz vor Gericht“ stand. Gnielka besuchte einen Holocaust- Überlebenden, der in seiner Wiedergutmachungssache von dem Mitarbeiter der Frankfurter Rundschau Unterstützung brauchte.
In der Wohnung des Mannes entdeckte der aufmerksame Journalist acht Blatt vergilbte, zum Teil angesengte Papiere. Die Briefköpfe von vier Schreiben lauteten „Kommandantur Konzentrationslager Auschwitz“ und datieren auf das Jahr 1942. In den Schreiben werden SS-Wachposten aufgeführt, durchweg niedere Dienstgrade, die KZ-Häftlinge „auf der Flucht“ erschossen hatten. Gnielka kannte die Formulierung, wusste aus eigener Erfahrung, was vorgebliche Erschießungen „auf der Flucht“ bedeuteten.
Er war als Pennäler mit seiner Klasse von Berlin in die Nähe des Lagers Auschwitz gebracht worden, um Flakgeschütze zu bedienen.1 Nicht nur als Flakhelfer wurden die Jugendlichen eingesetzt, sie mussten auch vorübergehend Häftlinge eines Außenkommandos bewachen. Hier hatte Gnielka mit eigenen Augen die verbrecherische Praxis der SS beobachten können, angeblich „fliehende“ Häftlinge hinterrücks zu töten. Gnielka schickte die Dokumente Bauer zu und Hessens oberster Strafverfolger führte beim Bundesgerichtshof einen Beschluss herbei, durch den das Landgericht Frankfurt am Main in Sachen Auschwitz für zuständig erklärt wurde.
Bauers Vorgehensweise war mit dem Leiter der Frankfurter Staatsanwaltschaft nicht abgesprochen. Prompt lehnte Oberstaatsanwalt Heinz Wolf (1908 –1984) die Übernahme des Verfahrens ab, zumal in Stuttgart bereits seit März 1958 ein Verfahren gegen Auschwitz- Täter anhängig war. Wolf drang deshalb darauf, das Frankfurter Verfahren dorthin abzugeben. Gegen Bauers politischen Willen, in Frankfurt die Auschwitz-Verbrechen aufklären zu lassen, kam der ahndungsunwillige Behördenleiter freilich nicht an. Per Weisung entschied er, von der ihm nachgeordneten Behörde die Ermittlungen führen zu lassen.
Fiktionalisierung des Geschehens
Der Spielfilm „Im Labyrinth des Schweigens“ erzählt die Geschichte bis zum Tag der Eröffnung der Hauptverhandlung im Frankfurter Römer in verdichteter und deshalb auch in vereinfachter Form. Die verschlungene Geschichte des sogenannten Vorverfahrens darzustellen, wäre keine im Kino erlebund erfahrbare Erzählung gewesen. Neben den historischen Figuren Fritz Bauer, Thomas Gnielka und Hermann Langbein kommen folglich nur noch fiktive Personen vor.
Die notwendige Fiktionalisierung dient der Spezifizierung und Dramatisierung des Geschehens. Ein Auschwitz-Überlebender zum Beispiel, der einen Auschwitz-Aufseher auf der Straße erkennt und an Gerechtigkeit im Lande der Täter längst nicht mehr glauben kann. Ein junger, unbedarfter Staatsanwalt, der sich der Sache mit Eifer annimmt und ihr zunächst keineswegs gewachsen ist. Staatsanwalt Johann Radmann, gespielt von Alexander Fehling, wird von seinen Kollegen belächelt und von seinem Vorgesetzten attackiert.
Fritz Bauer (gespielt von Gert Voss), der ihn mit der Leitung der Ermittlungen betraut hat, hält ihm jedoch den Rücken frei und verleiht dem gelegentlich wankelmütigen Strafverfolger Stabilität. Bauer gibt dem Ermittler ein Prozesskonzept, das die Staatsanwaltschaft umsetzt. Ein Großprozess gegen eine Vielzahl von Angeklagten, die durch ihre in Auschwitz ausgeübten Funktionen die Struktur des Lagers möglichst vollständig abbilden. Bauer geht es um Aufklärung, um Wissensvermittlung, um Bewusstseins- und Einstellungsänderung.
Die Deutschen sollen aus den Strafprozessen gegen NS-Täter „Lehren“ ziehen, sie sollen eine „Geschichtsstunde“ erhalten. Bauer geht es vorrangig um Sachaufklärung, weniger um Sühne der Schuld, die die Angeklagten auf sich geladen haben. Der Film endet mit dem Beginn der Hauptverhandlung. Von Bauer noch durch Handschlag beglückwünscht und belobigt, betreten die Anklagevertreter den Gerichtssaal, wohl wissend, dass sie Geschichte schreiben werden, jedoch auch mit dem Bewusstsein, dass die bevorstehende Beweisaufnahme 20 Jahre nach der Tat schwierig sein wird.
Der berührende, aufwühlende und spannende Film von Regisseur Giulio Ricciarelli und Drehbuchautorin Elisabeth Bartel setzt den Männern, die den Auschwitz-Prozess in Gang brachten und vorbereitet haben, ein filmisches Denkmal. An diese rechtschaffenen und couragierten Akteure im vergangenheitsvergessenen Nachkriegsdeutschland zu erinnern ist eine herausragende Leistung des Films. [Autor: Werner Renz, Fritz-Bauer-Institut]