Bahnhofsschließungen, Lokund Oberleitungsschäden, Weichen- und Signalstörungen, „Verzögerungen im Betriebsablauf“ – immer wieder gerät die Deutsche Bahn auf das Abstellgleis. Als internationaler Mobilitäts- und Logistikdienstleister konzentriert sich das „Unternehmen Zukunft“ (Eigenwerbung) längst auf Frachttransporte zwischen Dallas, Delhi und Den Haag statt auf die Beförderung von Fahrgästen zwischen Delmenhorst, Dinslaken und Düren.
Beinahe zwei Drittel seines Umsatzes erzielt der einst größte Arbeitgeber der Bundesrepublik inzwischen mit bahnfremden Dienstleistungen. Dabei vernachlässigt der Global Player den inländischen Schienenverkehr und setzt stattdessen auf profitable Fluggesellschaften (Bax Global), LKW-Speditionen (Stinnes), Fuhrparks (Bundeswehr) oder den Ausbau des Schienennetzes in Indien und Saudi-Arabien. Seit der Ära Mehdorn, dessen Schreibtisch Bulle und Bär als Symbole für die Börse zierten, geht die Losung „Börsenbahn statt Bürgerbahn“ zu Lasten der Bahnreisenden, der Beschäftigten und der Umwelt.
Auch die Deutsche Post hat sich der Kapitalmarktorientierung verschrieben, obwohl die Bundespost dem Staatshaushalt noch Ende der 1980er-Jahre einen Jahresüberschuss von mehr als fünf Mrd. D-Mark (2,6 Mrd. Euro) zufließen ließ. Um die „Aktie Gelb“ attraktiv zu machen, wurden tausende sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse gestrichen. Immer häufiger stellen Mini-, Midi- und Multi-Jobber sowie Zeit- und Leiharbeiter Briefe und Pakete „im Auftrag“ oder als „Servicepartner“ des Bonner Konzerns zu.
Wie die Wettbewerber UPS, DPD und Hermes delegiert auch das seit 2002 zur Deutschen Post AG zählende Logistikunternehmen DHL seine unternehmerische Verantwortung an Subunternehmer. Die Gewinne verdankt der Bonner Konzern allerdings auch der Übernahme der Pensionslasten durch die Steuerzahler. Sie subventionieren den weltweit größten Logistikkonzern trotz milliardenschwerer Gewinne jedes Jahr mit mehreren Milliarden Euro. Gleichzeitig werden Postfilialen geschlossen, Zustellungsintervalle an Privathaushalte ausgedünnt, Sonntagsleerungen gestrichen und das Briefporto regelmäßig erhöht.
Keine Entlastung der öffentlichen Haushalte
Deutsche Bundespost, Deutsche Bundesbahn, Deutsche Lufthansa, die Gesellschaft für Nebenbetriebe der Bundesautobahnen – diese Unternehmen gehörten einst vollständig dem Bund und wurden doch alle privatisiert. Und auch auf kommunaler Ebene greift die „Entstaatlichung“ Platz. Immer mehr Städte und Gemeinden verkaufen ihre Wohnungen, Stadtwerke und Schulgebäude. Bei jedem zweiten Haushalt wird der Müll inzwischen von Privatunternehmen wie den Branchenriesen Remondis und Sulo entsorgt.
Marktmechanismen greifen seit einigen Jahren selbst bei Krankenhäusern und Justizvollzugsanstalten sowie bei Wasser-, Klärund Elektrizitätswerken. Dabei kann von der immer wieder in Aussicht gestellten Entlastung der öffentlichen Haushalte keine Rede sein – jedenfalls dann nicht, wenn man die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung zugrunde legt.
So wurde durch die Privatisierung der öffentlichen Infrastruktureinrichtungen allein in den vergangenen zwei Jahrzehnten rund 1,2 Mio. Arbeitsverhältnissen die Grundlage entzogen. Die historische Sondersituation der deutschen Vereinigung erzeugte in den 1990er-Jahren einen massiven ökonomischen Problemlösungsdruck und begünstigte das Abschmelzen von Bundesbeteiligungen. Rechnete man den von der Treuhandanstalt verantworteten Ausverkauf des „DDR-Vermögens“ hinzu, in dessen Rahmen zahlreiche Volkseigene Betriebe oft weit unter Wert veräußert wurden, würde die Privatisierungsbilanz noch dramatischer ausfallen.
Zu Lasten der Bürger
Die kontinuierlich steigenden Energiekosten sind das Ergebnis der Privatisierungen in eben jenem Sektor. Dessen Monopolisierung durch die privaten „Platzhirsche“ RWE, E.ON, EnBW und Vattenfall wird angesichts der exorbitanten Preissteigerungen von einer wachsenden Zahl privater Haushalte inzwischen als unzumutbar wahrgenommen. Die mit der Privatisierung der Bundesdruckerei einhergegangene Preisexplosion bei der Ausstellung von Personalausweisen, Reisepässen und Führerscheinen sorgt bei Amtsgängen noch immer für Unmut, aber statt auf die Privatisierungspolitik zu schimpfen, verteufeln wir die träge Verwaltung.
Und die Wehklagen über das von RTL, RTL II und SAT 1 ausgestrahlte „Unterschichtenfernsehen“ wären hinfällig, wenn die Anfang der 1980er-Jahre vom Bertelsmann-Konzern gemeinsam mit der unionsgeführten Bundesregierung vorangetriebene Privatisierung des Rundfunks in Richtung „Duales System“ unterblieben wäre. Preiswerter Wohnraum ist nicht mehr nur in Frankfurt, Köln und München knapp.
Auch im lange Zeit preiswerten Berlin hat der kontinuierliche Anstieg der Mieten in angesagten Vierteln eine Abwanderung ärmerer und einen Zuzug wohlhabenderer Bevölkerungsgruppen ausgelöst, weshalb in den gentrifizierten Stadtteilen nun Sushi statt Schnaps und Brunch statt Bulette angeboten werden. Und in all jenen Kommunen, in denen die Abfallentsorgung, die Energie- und Wasserversorgung sowie die Gebäudereinigung aus der Hand gegeben wurden, werden Preissteigerungen beklagt, die mitunter bis zu einer Verdreifachung der Gebühren reichen.
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Tim Engartner, geb. 1976, ist Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften am Fachbereich 03 der Goethe-Universität. Gerade ist sein Buch „Staat im Ausverkauf – Politik der Privatisierung“ im Campus Verlag erschienen.
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In den vergangenen zehn Jahren wurden mehr als 1000 Schwimmbäder geschlossen, obwohl privat betriebene „Spaßbäder“ gerade für finanzschwache oder kinderreiche Familien keine wirkliche Alternative bieten. Und auch im öffentlichen Personennahverkehr bleibt der soziale Ausgleich auf der Strecke: Bus- und Straßenbahntickets werden regelmäßig teurer, die Taktungen in den Tagesrandlagen ausgedünnt und selbst stark frequentierte Haltestellen geschlossen.
Simple Lösungsansätze
Obwohl Privatisierungen also offenkundig für die Mehrheit der Bevölkerung beträchtliche und für unzählige Menschen existenzielle Nachteile mit sich bringen, hält sich der öffentliche Unmut gegenüber Privatisierungen in Grenzen. Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, dass die geschilderten Verschlechterungen von der Bevölkerung nicht mit Privatisierungen in Verbindung gebracht werden. Vielen ist nicht bewusst, dass mit Privatisierungen lediglich Symptome kuriert, nicht aber die Ursachen der unzureichenden Qualität von Gütern und Dienstleistungen bekämpft werden:
Zwar erzielt „Vater Staat“ mit Privatisierungen auf einen Schlag hohe Einmaleinnahmen, mit denen sich neue finanzielle Handlungsspielräume eröffnen. An der Unterfinanzierung der Gebietskörperschaften ändert dies aber nichts. Dabei ist die Rechnung einfach: Hätten wir die Steuersätze von 1998 zum Ende der „Ära Kohl“ würden jedes Jahr rund 50 Mrd. Euro mehr in die klammen öffentlichen Kassen gespült. Dabei illustriert schon ein weit in die Vergangenheit zurückreichendes Beispiel, dass es triftige Gründe gibt, die gegen die private Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben sprechen.
So brannte es im antiken Rom beinahe täglich, da außer Kontrolle geratene Herdfeuer die billigen Mietskasernen leicht in Brand setzten. Daraufhin gründete Marcus Licinius Crassus im Jahre 70 v. Chr. eine private Feuerwehr. Wenn es brannte, erschien Crassus am Ort des Geschehens und unterbreitete dem Besitzer des brennenden Gebäudes ein Angebot:
War er bereit, sein Haus zu einem Bruchteil des angemessenen Preises zu verkaufen, schritten die Löschtruppen zur Tat. Wollte der Besitzer sein Haus nicht verkaufen, pfiff Crassus seine Feuerwehrsklaven zurück und ließ dem Feuer seinen Lauf. Dieses „Geschäftsmodell“ ließ ihn zu einem der reichsten Römer seiner Zeit werden.
Um zu erkennen, dass private Wirtschaftstätigkeit in Kernbereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge häufig absurde Blüten treibt, braucht man jedoch keine zwei Jahrtausende zurückzublicken. Es reicht, die Kostenexplosion zu Lasten der Freien und Hansestadt Hamburg bei der als Public Private Partnership-Projekt errichteten Elbphilharmonie oder das von der privatisierten Deutschen Bahn initiierte Großprojekt „Stuttgart 21“ in den Blick zu nehmen.
Kurzum: Wenn wir in einer Gesellschaft leben wollen, in der wir nicht nur den Preis, sondern auch den Wert öffentlicher Güter und Dienstleistungen schätzen, sollten wir nicht länger deren (Aus-)Verkauf betreiben. Die seit einigen Jahren parteienübergreifend angestoßenen Rekommunalisierungen sollten uns ebenso optimistisch stimmen, dass die „Selbstentmachtung des Staates“ allmählich ein Ende findet, wie die wachsende Privatisierungsskepsis in der Bevölkerung. [Autor: Tim Engartner]
Dieser Artikel ist in der Ausgabe 5.16 (PDF-Download) des UniReport erschienen.