UniReport: Herr Professor Allert, Ihr neues Buch widmet sich kindlichen Zugängen zur Welt, vor allem über greifende und begreifende Hände. Was fasziniert Sie als Soziologe an dieser einerseits sehr konkreten, aber auch metaphorischen Bedeutung der Hände?
Tilman Allert: Erkenntnislogisch stehen Augen und Hände in einer unaufhebbaren Konkurrenz. Elementare Vorgänge der Weltaneignung spielen sich ab im Medium ihres spezifischen Wahrnehmungsvermögens, nicht ausschließlich, aber sie liegen im Ranking der Evidenzsicherung ziemlich weit vorn – deshalb der unerschöpfliche Reichtum von Metaphoriken, die auf die Hand Bezug nehmen.
Sie spüren den Anfängen des Denkens nach, indem Sie die sinnlichen Erfahrungen bei einem aufregenden Jahrmarktsbesuch oder ängstlichem Alleinsein zu Hause erkunden. Kommt dieses Mitdenken des Sensuellen gerade im akademisch-intellektuellen Diskurs mitunter zu kurz, auch in der Betrachtung der Kindheit?
Seit Langem bin ich davon überzeugt, dass die Zukunft meines Faches im Heben der phänomenologischen Tradition liegt. Das betrifft Fragen nach der Konstitution der Natur sowie der Konstitution der Sozialität, was ich gern die elementaren Formen sozialen Lebens nenne. An der Goethe-Uni wären gleich drei Mitstreiter zu nennen: Goethe, der Namensgeber selbst, der in seinen Naturstudien der phänomenologischen Praxis den Weg bereitet hat, Kurt Goldstein, Pionier der Neurologie und der Gestaltbegrifflichkeit, und nicht zuletzt Th. W. Adorno, der seine erste Arbeit – die Dissertation – der Phänomenologie Edmund Husserls widmet. Oder aktuell: Die Abkehr eines kritischen Soziologen wie Luc Boltanski von der hölzernen Begrifflichkeit Pierre Bourdieus lässt sich ohne Phänomenologie gar nicht nachvollziehen.
Sie hatten sich bereits in Ihrem Buch »Der Mund ist aufgegangen – vom Geschmack der Kindheit« mit kindlichen Welten beschäftigt. Woher kommt dieses Interesse daran, spielen auch eigene biographische Gründe eine Rolle?
Eher meine Erfahrungen mit dem Kurrikulum der Lehrerbildung. Erst die phänomenologische Sensibilität öffnet den Weg zum geistigen Kosmos des Kindes. Abgesehen davon steckt in allem, was man wissenschaftlich arbeitet, ein Stück Selbstauslegung, bei manchen weniger, bei manchen mehr. Das zu leugnen, wäre töricht.
Es sind essayistische Erkundungen, bei denen der Sprache eine sehr wichtige Bedeutung zukommt. Wie hat man sich den Schreibprozess bei Ihnen vorzustellen?
Essay ja, jedoch in der Lesart strenger Empirie. Es gibt einen schönen Satz von Sigmund Freud, Schriften aus dem Nachlass: „Psyche ist ausgedehnt, weiß nichts davon.“ Damit ist das Problem, solche Erkundungen in Worte zu fassen, benannt. Es dauert.
Entfernt sich vielleicht eine sich heute zunehmend digital abspielende Kindheit von der beschriebenen sinnlichen Weltwahrnehmung, wenn sich quasi immer häufiger ein Monitor zwischen Kind und Welt schiebt?
Nein, das Buch entwirft keine Kindheitsromantik und Kulturpessimismus ist meine Sache nicht. Die Kids von heute leben in einer Welt, in der sich das Smartphone als nicht mehr als ein Öffner zur Welt anbietet, wie früher der Kreisel oder die Klicker. So etwas kann süchtig machen, mehr nicht.
Fragen: Dirk Frank
Prof. Dr. Tilman Allert ist seit 2000 Professor für Soziologie und Sozialpsychologie an der Goethe-Universität Frankfurt. Als Gastdozent lehrt er in Berlin, Tiflis und Eriwan; er schreibt regelmäßig für verschiedene Tageszeitungen.
Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 5/2021 (PDF) des UniReport erschienen.