Herr Engartner, für kommende Woche hat die GDL erneut einen Streik angekündigt – wie schätzen Sie das ein, wie lange wird sich der Streik hinziehen, gibt es Hoffnung auf eine Einigung?
Der Blick in die Glaskugel ist natürlich immer schwierig. Klar ist, dass die Kurzfristigkeit der ersten Streikankündigung aus Sicht der Bahnreisenden misslich war. Bedenken muss man aber auch, dass der Streik zuvor mehrfach wegen der Corona-Pandemie verschoben wurde. Man wollte sich in dieser Krisenzeit nicht den Unmut der Bevölkerung zuziehen, weshalb der Streil nun relativ kurzfristig durchgezogen wurde. Ich hoffe, der Vorstand der Deutschen Bahn hat begriffen, dass die Lokführer eine extrem kritische Personengruppe innerhalb des Konzerns darstellen, in dem es ja ohnehin einen eklatanten Personalmangel gibt. Angesichts der Bedeutung, die den Lokführern sowie anderen von der GDL vertretenen Eisenbahnern – z. B. aus der Fahrzeug- und Fahrweginstandhaltung – für den Bahnbetrieb zukommt, kann man nur hoffen, dass den Forderungen der GDL nachgegeben werden wird. Ich hoffe, dass dies vor allem auch zeitnah geschieht, ist Mobilität doch auch in Corona-Zeiten unabdingbar.
Viele Beobachter sagen, dass es sich nicht oder nicht nur um einen Tarifkonflikt, sondern auch um die Konkurrenz zweier Gewerkschaften handele. Dies lässt natürlich die Unterstützung breiter Bevölkerungsschichten etwas schrumpfen. Wie sehen Sie das?
Es gibt in der Tat eine starke Konkurrenz zwischen der GDL und der mitgliederstärkeren EVG. Ausgangspunkt dieser Diskussion ist ja u. a. die Tatsache, dass den GDL-Mitgliedern mehr oder weniger die Betriebsrente gekürzt worden ist, den EVG-Mitgliedern hingegen nicht. Ein Lokführer, der 28 Jahre bei der DB gearbeitet hat, erhält durch das Streichen der Zusatzrente monatlich 57 Euro Rente weniger. Das würde wohl keine Berufsgruppe widerstandslos hinnehmen. Die EVG hat für ihre Mitglieder eine leichte Gehaltserhöhung durchsetzen können; dies versucht die GDL für ihre Klientel natürlich nachzuholen, denn immerhin hat man in den vergangenen Jahren lediglich moderate Lohnsteigerung gehabt. Die GDL ist aber sicherlich die ‚schärfere‘ Gewerkschaft, mit einem harten Gewerkschaftsboss namens Weselsky an der Spitze. Und natürlich hat die Deutsche Bahn in der anderthalb Jahre währenden Pandemie beträchtliche Mindereinnahmen verkraften müssen. Wenn man aber argumentiert, dass es dem Unternehmen so schlecht gehe und man daher den Forderungen der GDL nicht nachkommen könne, muss man auch erklären, warum der Vorstand sich gigantische Gehaltspakete hat schnüren können und die Führungsebene Boni in Höhe von 220 Millionen Euro erhalten konnte.
Wie bewerten Sie das Agieren einer kleinen Gewerkschaft wie der GDL, die dennoch die bundesweiten Fahrpläne durcheinanderbringt?
Lokführer haben im Prinzip eine starke Verhandlungsposition, darin ganz ähnlich der Pilotenvereinigung COCKPIT. Das von der Bundesregierung 2015 durchgesetzte Tarifeinheitsgesetz wendet sich ja gerade gegen solche Gewerkschaften. Selbst der DGB steht hinter dem Gesetz, denn er fürchtet natürlich auch die Konkurrenz kleiner, aber starker Gewerkschaften. Bei der GDL werden sehr spezielle berufliche Belange adressiert, das macht sich die Gewerkschaft im Tarifkampf natürlich zu eigen. Sie hat sogar versucht, EVG-Mitglieder an sich zu binden. Das muss man nicht unbedingt gut finden, aber man muss sehen, dass es ja zum Beispiel auch verschiedene Arbeitgebervereinigungen gibt. Man könnte an der Stelle sagen: Das Recht auf eigenverantwortliche Organisation ist ein hohes Gut und sollte nicht eingeschränkt werden.
Sie haben sich in Ihrem Buch „Staat im Ausverkauf“ kritisch mit der Deutschen Bahn auseinandergesetzt. Man könnte meinen, dass die reine Orientierung am marktwirtschaftlichen Erfolg auch bei der Bahn in den letzten Jahren nachgelassen hat.
Die Bahn war in den letzten Dekaden immer häufiger zwischen Dallas, Delhi und Den Haag, aber immer seltener zwischen Minden, Monheim und Mülheim unterwegs. Der heimische Schienenverkehr trägt nur noch zu einem Drittel zu den Gewinnen der Bahn bei. Gleichwohl hat man in der Verkehrspolitik bis in die FDP hinein erkannt, dass man den hiesigen Bahnverkehr politisch stärken muss, um dem Umwelt- und Klimaschutzgedanken Rechnung zu tragen. In der Tat muss man dem Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bahn Richard Lutz hoch anrechnen, dass er die Zeichen der Zeit erkannt hat und dem Anspruch der öffentlichen Daseinsvorsorge mehr Rechnung trägt als seine Amtsvorgänger wie dem „Börsenträumer“ Hartmut Mehdorn. Es gibt heute ein breiteres Bewusstsein für die Bedeutung der Bahn. So gibt es gerade eine große Kampagne zur Reaktivierung stillgelegter Strecken, und zwar sowohl für den Güter- wie auch den Personenverkehr. Ebenso denkt man über die Wiedereinführung der Nachtzüge und den Neubau von Eisenbahnerwohnungen nach. Dergleichen wurde vor Jahren noch als linke Träumerei abgetan. Die Frage ist nur, ob die öffentlichen Kassen nach der Pandemie noch gut genug gefüllt sein werden, um das alles zu realisieren. Ein grundsätzliches Problem besteht meines Erachtens darin, dass Investitionen in die Bahn immer noch als Subventionen wahrgenommen, Neubauten von Autobahnen hingegen als wertvolle Infrastrukturmaßnahmen tituliert werden. Das ist schlicht ungerecht gegenüber dem Verkehrsträger Bahn, der als umweltfreundliches Verkehrsmittel auch anderen Verkehrsträgern gegenüber benachteiligt ist. So ist die Bahn beim grenzüberschreitenden Verkehr nicht von der Mehrwertsteuer ausgenommen – anders als der Flugverkehr, der im Übrigen auch keine Kerosin- oder Ökosteuer als Annexsteuer zahlt.
Die Deutsche Bahn hat auch wegen früherer Pläne, an die Börse zu gehen, neben Material- und Wartungsdefiziten auch ein Personalproblem. Wird das Personal zu schlecht bezahlt?
Das ist immer auch eine Frage des Vergleichs. Wenn man sich die Bezüge des Vorstands anschaut, der sich in den vergangenen Jahren extrem hohe (Fix-)Gehälter gesichert hat, sicherlich schon. Und auch wenn kann auf die Piloten schaut, gilt diese Feststellung. Zudem muss man sehen: Die Verknappung auf dem Arbeitsmarkt führt zu steigenden Löhnen, d. h. mittlerweile findet man kaum noch Lokführer. Es handelt sich nämlich um einen extrem anspruchsvollen Job, der einhergeht mit Arbeitszeiten in den Tagesrandlagen, Verpflichtungen zu auswärtigen Übernachtungen etc. Eine nicht funktionierende Toilette hindert die Bahn nicht am Fahren; aber wenn der Lokführer fehlt, sieht’s schon anders aus.
Fragen: Dirk Frank
Tim Engartner ist Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt politische Bildung an der Goethe-Universität.
Zum Weiterlesen: Tim Engartner: Staat im Ausverkauf. Privatisierung in Deutschland. 2. Auflage Campus Verlag 2021 (26,- Euro / www.campus.de).