»Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs«: Den Betroffenen Gehör schenken

Prof. Sabine Andresen. Foto: Dettmar

Seit fünf Jahren gibt es die »Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs«. Prof. Sabine Andresen, Vorsitzende des Gremiums, über die Genese, Ergebnisse und Herausforderungen in einem sensiblen gesellschaftspolitischen Feld.

Wenn Sabine Andresen die Arbeit der Kommission erklären möchte, muss sie zwangsläufig deren langwierige Genese erzählen: 2010 war ein Jahr, in dem in Deutschland das Thema sexueller Missbrauch auch vonseiten der Politik auf einmal größeres Gehör fand. An einem runden Tisch unter Beteiligung des Familien-, Justiz- und Forschungsministeriums wurde über Fragen der Prävention und Versorgung von Betroffenen diskutiert – ohne Betroffene allerdings selber anzuhören. „Was damals auch nicht diskutiert wurde, waren zurückliegende Missbrauchsfälle und ihre Bedeutung für die Gegenwart – also das, was wir als Aufarbeitung bezeichnen“, betont Prof. Sabine Andresen. Zuerst wurde das Amt eines/einer unabhängigen Beauftragten eingerichtet; unter dessen Ägide kam dann auch die „Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ zustande. Von der Organisationstruktur her besteht die Kommission aus sieben ehrenamtlichen Mitgliedern unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen, deren Arbeit von hauptamtlichen Referent*- innen unterstützt wird. Ein Sitz mit Büro in Berlin ist wichtig für die Anhörung von Betroffenen, erklärt Andresen. Für die Struktur der Kommission zog man auch Erfahrungswerte aus anderen Ländern heran. „Gerade das Thema der Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in Kirchen wurde und wird in Ländern wie Irland, den USA und Australien schon länger behandelt.“ Die Kommission in Deutschland hat auch einen Schwerpunkt auf die Aufarbeitung des Privatraums gelegt, während es in den meisten Ländern eher um Missbrauch in Institutionen wie Schule und Kirche geht. In Frankreich hat nicht zuletzt die Veröffentlichung von „La familia grande“ von Camille Kouchner einiges in Bewegung gesetzt. In dem Buch wird ein prominenter Politologe des Missbrauchs an seinem Stiefsohn beschuldigt. „Ein vergleichbarer Fall wäre das autobiografische Buch von Pola Kinski, die darin den jahrelangen Missbrauch durch ihren Vater Klaus Kinski schildert. Man muss sich das nochmal in Erinnerung rufen: Klaus Kinski hat niemals einen Hehl daraus gemacht, dass er sich von Kindern sexuell angezogen fühlt, ohne dass dies wirklich einen öffentlichen Protest erzeugt hätte.“

Zweifel an der »Null-Hypothese«

Die Grenzen und Beschränkungen der Kommissionsarbeit möchte Sabine Andresen nicht verschweigen: Anders als beispielsweise das vergleichbare Gremium in Australien hat die Kommission keine rechtliche Grundlage, um Akten anzufordern oder Zeugen vorzuladen. Auch über ein Forschungsbudget verfügt sie nicht. Dennoch habe man vor fünf Jahren trotz dieser Einschränkungen mit Zuversicht die Arbeit aufgenommen. „Es geht beim Thema Kindesmissbrauch nicht nur darum, die Aufklärung von Taten zu adressieren, sondern auch um das Vertuschen der Täter, um das Schweigen der anderen – damit macht man sich nicht unbedingt Freunde“, erklärt die Erziehungswissenschaftlerin. Versagt der Rechtsstaat in diesem Bereich? Bei den Missbrauchsfällen in der Katholischen Kirche vermisst Andresen, dass der Staat ein wirkliches Interesse habe, die Aufarbeitung selbst in die Hand zu nehmen. „Es wird schon seit Jahren zugeschaut, ohne dass man dem intransparenten Verhalten der Kirche, wodurch die Betroffenen ein zweites Mal leiden müssen, staatlicherseits etwas entgegensetzen möchte.“

Es gebe viele Diskussionen darüber, dass es sich bei Kindesmissbrauch um ein Verbrechen handele, das nur selten zur Anzeige gebracht werde, bei dem gerichtliche Verfahren sehr häufig eingestellt werden. „In Beratungen wird den Opfern aufgrund der erheblichen psychischen Belastung, die ein solches Verfahren nach sich zieht, häufig von der Anzeige abgeraten.“ Ein Grund des Dilemmas sehen viele in der sogenannten „Null-Hypothese“: Der oder die Angeklagte ist unschuldig, solange nicht das Gegenteil bewiesen ist. In einem Empfehlungspapier zur Verbesserung der Situation Betroffener in Ermittlungs- und Strafverfahren hat die Kommission auch deshalb dazu aufgefordert, in einer interdisziplinären Arbeitsgruppe Standards für die Glaubhaftigkeitsprüfung zu formulieren und regelmäßig zu überprüfen. Oft werde bei Befragungen von den Opfern verlangt, die Tatumstände detailliert zu schildern. „Aber wenn man sich ein Kind vorstellt, dass über einen Zeitraum von drei Jahren mehrmals im Monat durch den Stiefvater sexuelle Gewalt erfährt und in den Phasen dazwischen unter großem Stress vor dem nächsten Übergriff steht, ist klar, dass Details insbesondere, wenn die Taten im jungen Alter geschehen, schwer zu benennen sind.“ Es sei seit Längerem das Bestreben von Betroffenen-Organisationen, die Null-Hypothese und die aussagelogischen Verfahren auf den Prüfstand zu stellen. Denn gefragt werden müsse, ob die Verfahren zu einer Gewaltform passen, die selten zur Anzeige gebracht wird. „Es ist eine Gewaltform, die auch eng mit der Scham des Opfers verbunden ist, das macht es Kindern und Jugendlichen zusätzlich schwer, die Tat überhaupt zu verstehen und darüber zu sprechen.“ Täter legten den Opfern eine Art von Schweigegebot auf, reden ihnen Schuldgefühle ein oder behaupten: „Du wolltest es doch auch!“ „Uns haben sich zudem viele Betroffene anvertraut, die zusätzlich noch andere Formen von Gewalt, wie zum Beispiel Züchtigung und Vernachlässigung, erlebt haben.“

»Pädosexuelle Netzwerke« in der Gegenkultur

Die Kommission hat bereits Fallstudien zu sexuellem Missbrauch „in Familien und Institutionen in der DDR“ und „im Kontext der evangelischen und katholischen Kirche“ veröffentlicht, basierend auf Berichten von Betroffenen. Bei einer kürzlich erschienenen Publikation handelt es sich um eine „Vorstudie“ und damit um die erste Sichtung eines Themenfeldes anhand von Flugblättern, Zeitschriften, Fotos und ähnlichen Materialien: Es geht um die Programmatik und das Wirken pädosexueller Netzwerke in Berlin. Sabine Andresen erzählt von der Genese der Publikation: Die Kommission wurde von einem Betroffenen auf eine Szene aufmerksam gemacht, die sich in den 1970er-Jahren in Berlin gebildet haben soll. Die Bedürftigkeit von Kindern und Jugendlichen wurde damals von Pädosexuellen ausgenutzt. „Das Buch ‚Wir Kinder vom Bahnhof Zoo‘ von Christiane F. dürfte allen ein Begriff sein. Aber in der Beschäftigung damit stand meist das Thema Drogenmissbrauch im Vordergrund, weniger der Jungenstrich am Bahnhof Zoo.“ Bislang habe es recht wenige Berichte von Betroffenen dazu gegeben, aber aus anderen Aufarbeitungen zu den Grünen und zu Pro Familia ließe sich ableiten, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern von Netzwerkstrukturen ausgegangen werden muss. Zwei Autor*innen wurden von der Kommission beauftragt, zu recherchieren, was sich darüber in sogenannten „Bewegungsarchiven“ finden lässt. Das sind meist als Vereine organisierte Dokumentations- und Ausstellungsorte von sozialen Bewegungen. In diesen Archiven werden Flugblätter, Zeitungen, Protokolle von Treffen usw. gesammelt. Für die Vorstudie war das Archiv Schwules Museum in Berlin zentral. Hier sind die politischen und kulturellen Aktivitäten archiviert, die den Kampf für eine Entkriminalisierung männlicher Homosexualität dokumentieren. Doch im Rahmen der Recherchen zur Vorstudie konnte ein früherer Befund bestätigt werden, dass nämlich im Windschatten dieser Liberalisierungsbewegung auch sogenannte Pädoaktivisten eine Herabsenkung des Schutzalters und die Straffreiheit für sexuelle Handlungen an Kindern fordern. Sie argumentierten damit, dass es gewaltfreien und „einvernehmlichen“ Geschlechtsverkehr zwischen Kindern und Erwachsenen geben könne. „Der Spirit neuer sozialer Bewegungen wurde hier genutzt, um mit dem Narrativ der Befreiung der Kinder von bürgerlichen Zwängen weitere Befürworter*innen für eine Abschaffung der betreffenden Strafrechtsparagrafen zu gewinnen“, sagt Sabine Andresen. „Vorstudie“ wurde die Publikation betitelt, weil es sich primär um eine erste Sammlung von Dokumenten und Vorstrukturierung handelt, von der aus weitere wissenschaftliche Untersuchungen ausgehen können. Doch wie in anderen Fällen gehe es auch hier um eine Abwägung von Datenschutz und Persönlichkeitsrechten auf der einen Seite und um das öffentliche Interesse an Aufklärung auf der anderen Seite. Auch ein Pädokrimineller habe nach einer verbüßten Strafe ein „Anrecht auf Vergessen“. „Mit der Veröffentlichung verfolgt die Kommisison vor allem das Ziel, dass sich weitere Betroffene an uns wenden und sich uns anvertrauen.“ Andresen betont: „Die Vorstudie zielt in keiner Weise auf ein 68er-Bashing oder auf die Aberkennung von Errungenschaften im Zuge der Liberalisierung. Gleichwohl geht es um die Klärung, welche Irrwege in diesem Prozess auch entstanden sind und wer die Leidtragenden waren. Befreiung ist positiv konnotiert, für die Betroffenen sexueller Gewalt kann das bis heute aber dazu führen, dass sie schweigen.“

Third Mission und Wissenschaft

Agiert eine Wissenschaftlerin wie Sabine Andresen als Vorsitzende eines solchen Gremiums mit gesellschaftspolitischer Mission in einer anderen Rolle, lässt sich die sogenannte Third Mission mit der Forschung vereinbaren? „Als Vorsitzende der Kommission bin ich sicherlich eher normativ-politisch unterwegs. Wir sind ja gewissermaßen parteiisch und empathisch, indem wir sagen: Wir glauben erstmal den Betroffenen. Als Wissenschaftlerin untersuche und analysiere ich Gewaltverhältnisse, aber sicherlich nicht unempathisch und distanziert.“ Eine gewisse Spannung zwischen beiden Rollen sei vorhanden und müsse immer wieder ausbalanciert werden. Andresen sieht in dem Thema des sexuellen Missbrauchs auch die Herausforderung, eine klare Sprache zu finden, zugleich sensibel zu formulieren und keine neuen „Schweigegebote“ zu schaffen: „Daher überlege ich mir bei Interviews zum Beispiel sehr genau, wie ich spreche. Dabei versuche ich mir vorzustellen, wie das jetzt Betroffene hören. Ich möchte mit dem, was ich sage, auch Wertschätzung und Anerkennung zum Ausdruck bringen und zur Aufarbeitung ermutigen.“

Mehr zur Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs unter www.aufarbeitungskommission.de

Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 2/2021 (PDF) des UniReport erschienen.

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