Vom Hörsaal in die Werkstatt?

Vom Hörsaal in die Werkstatt?
Vom Hörsaal in die Werkstatt?

Akademikerschwemme contra Wissensgesellschaft: In den letzten Ausgaben des UniReports diskutierten Wissenschaftler das Für und Wider der gestiegenen Studierneigung. Fakt ist, dass die Unterstützung für potentielle Studienaussteiger wächst. Welche Erfahrungen machen sie?

Der Alma Mater den Rücken gekehrt …

Etienne Gardé ist als Mitgründer und Moderator des ersten reinen Internet-TV-Kanals Rocket Beans für seine Community eine Kultfigur. Seit 15 Jahren macht der 36-jährige Frankfurter schon Fernsehen. Weder die Studiengänge Sport und Amerikanistik noch Recht und Medienwissenschaften konnten ihn seinerzeit davon abhalten, Game- und Talkshows mitzugestalten und zu moderieren. Dass er mit dem neuen 24-Stunden-Format aber nach wie vor voll auf Risiko geht, ist dem jungen Vater sehr bewusst. „Wir planen immer nur für die nächsten drei Monate.“

Dietmar Flucke hat Politik mit Schwerpunkt VWL studiert. Trotzdem trägt er morgens schon einen Blaumann, wenn er ausführlich FAZ oder Süddeutsche liest. Denn sein Arbeitsplatz ist die Autowerkstatt eine Tür weiter. Vor 9 Jahren hat er das „Autowerk“ in einem Bockenheimer Hinterhof der Basaltstraße gegründet. Das war durch den günstigen Umstand möglich, dass er vor dem Studium KFZ-Mechaniker gelernt hatte.

„Mit beiden Abschlüssen zusammen konnte ich vor der Handwerkkammer eine zusätzliche Fachkundeprüfung ablegen, die eine Eintragung in die Handwerksrolle und damit eine Selbstständigkeit möglich machten.“ Mittlerweile bilden er und seine sechs Mitarbeiter gerade den dritten Auszubildenden aus. Mittags grillen sie gern zusammen, der Ton ist freundschaftlich.

Den Wechsel von der akademischen Laufbahn in das Handwerk betrachtet er, der sein Promotionsvorhaben wegen einer Uneinigkeit mit dem Professor hinschmiss, um als Werkstattleiter in einer Hamburger Autowerkstatt zu arbeiten, nicht als Bruch. „Schon in Hamburg habe ich es als Befreiung erlebt, Sachen so zu machen, wie ich sie für richtig halte, und dabei den Erfolg der Arbeit zu sehen. Denn sobald ein Auto wieder läuft, habe ich ja offensichtlich etwas zustande gebracht.“

Neid auf Ex-Kommilitonen, die weiter an ihrer akademischen Karriere gebastelt haben, teilweise Professoren wurden, ist ihm fremd. „Sie mussten viele Jahre mit Zeitverträgen ein großes Risiko eingehen und haben auch nicht weniger Stress als ich.“ Nur abends, nach einem Tag in der Werkstatt, ist er müder als seine WG-Mitbewohnerinnen mit ihren Bürojobs: „Hätte ich gewusst, wie anstrengend es ist, hätte ich es vielleicht anders gemacht. Aber das Gesamtpaket stimmt: Weil ich selbstständig bin, kann ich nach meinen Vorstellungen leben und arbeiten.“ Genau dieser Wunsch genießt auch bei Etienne Gardé eine höhere Priorität als ein sicheres Einkommen in vorgezeichneter Laufbahn.

Studienabbruch kein Tabuthema mehr?

Dass manch eine/r der Uni den Rücken kehrt, um anderswo sein berufliches Glück zu suchen, ist normal. Außergewöhnlich ist die Penetranz, mit der die Medien derzeit die Geschichten von Ex-Studierenden erzählen, die mit einer Ausbildung zum Friseur oder Feinmechaniker endlich das Passende für sich gefunden haben. Wer „Studienabbrecher“ googelt, stößt gar auf eine Riesen-Infrastruktur an Plattformen, Hilfsprogrammen und Unternehmenswebsites wie „Rewe für Studienabbrecher“.

Was ist da los, dass ein Tabu- plötzlich zum Modethema avanciert? Jahrelang galten die OECD-Studien als maßgeblich, nach denen Deutschland mehr Akademiker hervorbringen muss. Nun dürfen die, die genau diesen höchsten Bildungsabschluss ausschlagen, die Erfolgsstories erzählen? „Die zentrale Frage ist doch, welcher Beruf für einen jungen Menschen der richtige ist, und nicht, ob er studiert oder eine Ausbildung macht“, erklärt Natalie Gold von der Handwerkskammer Frankfurt-Rhein-Main, die seit kurzem zur Beratung potentieller Studienabbrecher an die Uni kommt.

Birgitta Wolff, Präsidentin der Goethe-Universität, steht voll hinter Angeboten, die den Blick der Studierenden weiten können: „Die Gesellschaft übt einen hohen Druck aus, damit möglichst jeder Abiturient auch studiert“, sagt Wolff. Viele würden ein Lieblingsfach aus der Schule wählen und wären dann von der universitären Wirklichkeit überrascht. „Wir sollten den Studierenden vermitteln: Es ist keine Niederlage, über Alternativen nachzudenken – im Gegenteil.“ Für diese Offenheit gibt es gute Gründe: 48.000 Fachkräfte fehlen den Betrieben allein im Rhein-Main-Gebiet, verkündete kürzlich der Frankfurter IHK-Präsident Mathias Müller.

Die Dysbalance zwischen gestiegener Bildungsneigung und damit immer mehr Studierenden einerseits und den Problemen von Handwerk und Industrie, intelligente Praktiker für ihre Betriebe zu finden, bremst die Wirtschaft. Die sinkende Bevölkerungszahl tut ihr Übriges. Gleichzeitig kosten Studienplätze, die ohne Abschluss aufgegeben werden, Geld. So brechen laut der Studienabbruchstudie 2014 des Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) rund 28 Prozent ihren Bachelor ab, an den Unis liegt die Quote sogar bei 33 Prozent, in MINT-Fächern noch höher. An der Goethe-Universität bringen aber auch nur 60 von 100 Geisteswissenschaftlern ihr Studium zu Ende.

Ein Umdenken weg vom rein quantitativen Studienplatzausbau hat begonnen: So sind die Länder gehalten, ab 2016 ein Zehntel der Mittel aus dem Hochschulpakt (für zusätzliche Studienplätze) in Maßnahmen zur Senkung des Studienabbruchs einzusetzen.

„Der Haken an den Abbrecher-Statistiken ist, dass diejenigen, die einfach nur das Fach wechseln oder sich hier mit anderen Absichten als einem Studienabschluss einschreiben, die Quote hochtreiben“, relativiert Ulrike Helbig, Beraterin im Studien-Service-Center, die Dramatik der Zahlen. Sie und ihre Kollegen haben die Zahlen um solche Effekte bereinigt und schätzen, dass in den letzten acht Jahren „etwa 800 bis 1500 Personen die Goethe-Universität ohne Abschluss verlassen haben“. Mit massenhaften Übergängen von Studierenden in Lehrberufe rechnet das Studienberaterteam aber trotz des „Modethemas Studienabbrecher“ auch in Zukunft nicht, „weil das Hauptthema in unseren Sprechstunden der Studienfachwechsel ist, nicht das Verlassen der Uni“, so Ulrike Helbig.

Dennoch ist das SSC gern bereit, die Zielgruppe der Studienzweifler noch gezielter anzusprechen. Dafür gibt es jetzt Mittel: So hat sich letzten Winter mit Unterstützung des BMBF – Bundesministerium für Bildung und Forschung – und des Bildungswerks der hessischen Wirtschaft das ‚Frankfurter Beratungsnetzwerk‘ formiert, welches die Beratungsangebote von Goethe-Uni, Fachhochschule, IHK, Handwerkskammer, Agentur für Arbeit und Studentenwerk besser verzahnt. Zur ersten gemeinsamen Info-Veranstaltung im Juni kamen gleich 40 Studierende. „Da konnte man im Saal richtig spüren, welcher Druck von den Studierenden abfiel. Wie froh sie waren, dass andere die gleichen Sorgen haben“, sagt Helbig.

Stammtisch für »Studienzweifler«

Renate Empting vom Hochschulteam der Agentur für Arbeit lobt die Kooperation ebenfalls: „Durch persönlichen Kontakt mit den anderen Institutionen können wir noch bessere Tipps geben und wissen, an wen wir die Studierenden verweisen können, wenn sie spezielle Fragen haben – etwa zur Anrechenbarkeit von Studienleistungen.“ Lockere Veranstaltungen wie der Stammtisch für Studienzweifler sollen künftig die Hemmschwelle senken, frühzeitig Rat zu suchen.

Neu ist auch eine regelmäßige Sprechstunde der Handwerkskammer in den Räumen des Studierendenservice. Jeden Freitag bringt Natalie Gold hier Studienzweiflern und -aussteigern Ausbildungsberufe – auch kaufmännische – im Handwerk näher. Ihr Motto: „Wer sich für eine duale Ausbildung entscheidet, hat die besten Berufsperspektiven.“ Ihr Projekt „yourPUSH-Perspektive Handwerk für Studienaussteiger“ wird mit Mitteln des BMBF und des Europäischen Sozialfonds gefördert.

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Was steckt hinter »Rewe für Studienabbrecher«?

Drei Fragen an Rewe-Sprecher Raimund Esser

Herr Esser, wo in der Hierarchie steigen Abbrecher ein? Studienabbrecher können an unserem Abiturientenprogramm teilnehmen. Das bedeutet, sie haben die Möglichkeit, eine klassische Berufsausbildung in nur 18 Monaten statt in 3 Jahren zu absolvieren. Danach folgt die Handelsfachwirtausbildung. Studienabbrecher haben so die Chance auf zwei Abschlüsse. Der Handelsfachwirt ist ein höher qualifizierter Abschluss und daher insbesondere für Studienabbrecher interessant.

Wie groß ist die Nachfrage? Viele Plätze im Abiturientenprogramm werden mit Studienabbrechern besetzt. Oftmals jobben diese neben dem Studium bei Rewe und erkennen dann ihre Chance und Perspektive. Zum Ausbildungsbeginn haben wir rund 300 junge Menschen im Abiturientenprogramm eingestellt.

Welche Erfahrungen hat Ihr Unternehmen bislang mit dieser Gruppe gemacht? Sehr gute, weshalb wir diese Zielgruppe weiterhin ansprechen. Viele Absolventen des Abiturientenprogramms sind künftige Führungskräfte.

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„Es gibt circa 34.000 Handwerksbetriebe im Kammerbezirk. Aktuell fragen wir diese gezielt an, wer an Studienaussteigern Interesse hat.“ Berührungsängste gibt es von beiden Seiten. Teilweise aus schlechter Erfahrung, teilweise aus Unwissenheit: „Studierende wissen nicht unbedingt, dass sie eine dreijährige Lehre auf bis zu 18 Monate verkürzen können, dass bestimmte Studienleistungen für die Lehre angerechnet werden und 200.000 Betriebe in den nächsten zehn Jahren Nachfolger brauchen“, sagt Natalie Gold. Auch Praktika sind möglich.

Ewelina, die ihren vollen Namen nicht nennen möchte, ist dankbar für Golds Unterstützung. „Sie hat mich wieder aufgebaut nach dem Schock, mein Studium beenden zu müssen, und mir gesagt, dass der Weg zum Ziel eben nicht immer gerade ist.“ Die gebürtige Polin begann Wirtschaftswissenschaften zu studieren, kurz bevor dort erstmals rekordverdächtige 870 Erstsemester an den Start gingen. Mit individueller Unterstützung konnte sie also nicht rechnen.

„Ich wollte so gern studieren, aber das Fach habe ich eher nach den Möglichkeiten hinterher ausgewählt als nach meiner Neigung“, sagt sie. Ihre mäßige Begeisterung für Mathe wollte sie durch Fleiß ausgleichen. Das klappte auch in der Mathe-Klausur, aber in Statistik fiel sie diesen Sommer das dritte Mal durch. „Es ist schwer, den Lernaufwand richtig einzuschätzen.“ Die Voraussetzungen in Mathe seien auch bei denen, die in Deutschland ihr Abitur gemacht haben, ganz unterschiedlich. „Manche hatten – wie ich – große Lücken bei der Integralrechnung.“ Im Nachhinein betrachtet „war es einfach nicht mein Studium“, sagt sie heute. „Für diese Erkenntnis habe ich aber ein paar Wochen Zeit gebraucht.“ Nun bewirbt sie sich um eine Ausbildung als Kauffrau für Büromanagement im Handwerk. „Ich organisiere und plane gerne und Handwerksbetriebe sind oft Familienbetriebe. Da passe ich als Teamplayer gut rein.“

Ein paar Semester Chemie studieren und dann zurück auf Start als Azubi gehen? Auf den geschmeidigen und gut bezahlten Seiteneinstieg kann Berufsberaterin Renate Empting den Studierenden nur selten Hoffnung machen: „In Deutschland ist es immer wichtig, einen Abschluss zu haben.“ Provadis im Industriepark Höchst ist als Hessens größter Aus- und Weiterbildungsdienstleister eine beliebte Anlaufstelle für naturwissenschaftlich-technische Berufe: Stefan Ehrhard, Leiter des Geschäftsbereichs Ausbildung bei Provadis, hat mit Studienabbrechern sehr gute Erfahrungen gemacht: „Viele von ihnen marschieren regelrecht durch die Ausbildung und haben meist so gute Leistungen, dass sie die Lehrzeit verkürzen können. Sie sind auch gern gesehene Fachkräfte in den Unternehmen und ihnen steht dort eine gute berufliche Zukunft mit in der Regel vielfältigen Weiterbildungsmöglichkeiten offen.“

Dazu gehören die dualen und berufsbegleitenden Bachelor-und Masterstudiengänge der Provadis Hochschule in Business Administration, Business Information Management, Biopharmaceutical Science, Chemical Engineering und Technologie & Management. Einige Abbrecher der Goethe-Uni kommen damit gut zurecht: „Wem beispielsweise ein typisches Vollzeitstudium der Betriebswirtschaftslehre zu theoretisch war, erhält bei uns durch die praxisnahen Inhalte des dualen Studiums oft einen besseren Zugang zur Materie des Fachgebietes“, weiß die Präsidentin Eva Schwinghammer.

Fleißig Qualifikationen zu sammeln rät Renate Empting übrigens auch Studierenden, die (zu) viel Zeit in ihren Nebenjob stecken. Denn auch ein Kurs für Projektmanagement, Online-Marketing oder Bilanzbuchhaltung verbessert die Einstellungschancen. „Unser Programm Wegebau unterstützt die Arbeitgeber bei der Finanzierung“, sagt Empting und ist stolz, „dass bei mir noch keiner aus der Beratung herausgegangen ist, ohne dass ich ihm einen Tipp geben konnte.“

Man muss auch »loslassen« können …

Auch das SSC weiß um seine Bedeutung als Anlaufstelle, wenn jemand sein Studium ernsthaft in Frage stellt oder nicht weiterstudieren darf. Ganz häufig fließen Tränen. Bei allen geht es um das Auffangen, Aufrichten und Mutmachen, „aber manchmal eben auch um das Loslassen“, sagt Dagmar Kuchenbecker. „Das ist meist umso schlimmer, je länger jemand studiert hat und je mehr Prestige man sich von Studiengängen wie BWL oder Jura erhofft. Da hängt auch ein Selbstbild dran.“

In dieser Krisensituation sei es schwierig, mit Eltern oder Kommilitonen zu sprechen. Die einen haben häufig das Studium finanziert, die anderen werden den einstmals geplanten Lebensentwurf fortführen. „Man befindet sich gewissermaßen im Niemandsland.“ sagt Dagmar Kuchenbecker. „Es ist sehr schwer, sich einzugestehen, dass man sich geirrt hat. Es ist eine Sackgasse, aus der man sich wieder herausschaffen muss, um den Weg einzuschlagen, bei dem man aufblüht.“ Die Gründe für das Scheitern seien genauso vielfältig wie die Studierenden. Die einen haben die Anforderungen unterschätzt, die anderen zu viel gejobbt oder schon Kinder versorgt, andere ihr Studienfach ohne genug Eigenmotivation gewählt.

„Abiturienten leben meist im Hier und Jetzt. Sie können die langfristige Perspektive eines Studiums nicht immer absehen“, sagt Kuchenbecker. Zu Beginn seien sie ausgelastet mit ihren Modulen. Tauchen fachliche Probleme auf, erführen sie im Massenbetrieb einer großen Universität wenig Unterstützung. „Natürlich hängt die Abbrecherquote auch mit dem Betreuungsangebot an den Hochschulen zusammen“, sagt Kuchenbecker.

„Mit diesen Jobs werden Sie auch ohne Studium zum Top-Verdiener“ machte neulich der Focus Nicht-Akademikern Mut: Und zeigte mit dem Fluglotsen (Anfangsgehalt 6.000 Euro brutto), dem Bankkaufmann (1.800 bis 2.700 Euro) oder Binnenschiffer (2.000 bis 2.200 Euro) Alternativen auf zum Architekt (2.400 Euro), der Grundschullehrerin (2.700 Euro) oder dem Kunsthistoriker (2.500 Euro). Aus welcher Motivation man auch immer zu studieren beginnt: Wenn sie nicht trägt, stehen jenseits der Uni derzeit enorm viele Türen offen. [Autorin: Julia Wittenhagen]

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