Wendepunkt nach den Übergriffen von Köln?

Zur Debatte über Kultur, Sexismus und Männlichkeitskonstruktionen: Helma Lutz und Meltem Kulaçatan reagieren auf Essays von Kira Kosnick (UniReport 1/2016) und Susanne Schröter (UniReport 2/2016).

Die Debatte über die Silvesternacht 2015/16 am Kölner Hauptbahnhof gilt bereits jetzt als Ereignis, das die ‚Deutsche Willkommenskultur‘ für Flüchtlinge zum Kippen gebracht hat. Köln ist zu einem Symbol geworden für die massiven Probleme, die angeblich mit den Flüchtlingen ‚einwandern‘ und besonders den weiblichen Teil der deutschen Bevölkerung bedrohen.

Wir beziehen uns in diesem Essay auf Kosnick und Schröter und erörtern dabei drei Aspekte: die Nutzung und Auslegung des arabischen Begriffs taharrush jama’i, den Susanne Schröter zur Erklärung des Täterverhaltens heranzieht, die Debatte über Kultur und Sexismus und um ‚marginalisierte Männlichkeit‘.

Taharrush jama’i

Der Begriff wurde vom Bundeskriminalamt in den öffentlichen, medialen Diskurs eingebracht (siehe Die Welt, 10.1.2016) und zirkuliert mittlerweile in vielen deutschsprachigen und europäischen Medien. Nun ist sexuelle Belästigung (taharrush jinsi) und gemeinschaftlich ausgeübte sexuelle Belästigung (taharrush jama’i) keineswegs ein Phänomen, das erstmals auf dem Tahrir Platz zu beobachten war (Fahmy et al. 2014); solche Straftaten finden sich auch in vielen westlichen Gesellschaften.

Die Nutzung des Begriffs taharrush jama’i durch das BKA diente offensichtlich dazu, einen Zusammenhang zwischen der Herkunft der Täter und der spezifischen Form der ausgeübten Gewalt herzustellen. Ägyptische Feministinnen protestieren nun zu Recht dagegen, dass dieser Begriff aus seinem ursprünglichen Zusammenhang gerissen und essentialisiert wird (Abdelmonem et al.: 2016); ihre Einwände lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

Dr. Meltem Kulaçatan
Dr. Meltem Kulaçatan

a) Die Übergriffe auf dem Tahrir Platz haben unter sozialen, ökonomischen und politischen Verhältnissen stattgefunden, die weder auf Deutschland noch auf andere Länder in Europa übertragbar sind. Wissenschaftler*innen sehen die Ursachen der Gewaltanwendung u. a. darin, dass Sexualität im Islam zwar als positiv bewertet wird, jedoch vorrangig im Kontext der Ehe stattfinden soll. Die immense Jugendarbeitslosigkeit, die bei 40% liegt, resultiert u.a. in fehlenden Heiratsoptionen, da die betroffenen Männer weder die dazu notwendigen monetären Voraussetzungen noch den entsprechenden Status besitzen. Vor allem orientierungs- und chancenlose Männer, die von selbsternannten religiösen Führern radikalisiert wurden, waren auf dem Tahrir Platz aktiv.

b) Weder die sozial-politischen noch die stadträumlichen Gegebenheiten auf dem Tahrir Platz lassen sich auf die Situation in Köln übertragen. Der arabische Frühling hätte ohne die massenhafte Mobilisierung von ägyptischen Feministinnen nicht stattgefunden. Ziel der Angreifer war der Ausschluss dieser Frauen aus der Öffentlichkeit und die Absicht, Frauen den Zugang zur Gestaltung von Politik zu verwehren. Darüber hinaus ging es ihnen darum, Frauen aus der Arbeitswelt zu verbannen, in der sie eine Konkurrenz beim Zugang zu ökonomischen Ressourcen darstellen. Im Hochschulbereich sind weibliche Absolventinnen erfolgreicher als männliche Studierende, was als Bedrohung erfahren wird. Die sexuellen Übergriffe auf dem Tahrir- Platz, an denen sich insbesondere Männer der verarmten Milieus beteiligten, dienten der öffentlichen Demonstration von Maskulinität und Überlegenheit.

c) Die Berichterstattung europäischer Medien identifiziert in Ländern des Mittleren und Nahen Ostens eine männliche, gewaltaffine Hypersexualisierung, deren Auswüchse in der Form eines ‚epidemischen Krankheitsherdes‘ durch männliche Flüchtlinge nach Europa importiert werden. Dass auf dem Tahrir Platz Männer, die sich betroffenen Frauen helfend und schützend zur Seite stellten, angegriffen oder gewaltsam fern gehalten wurden, findet in der hiesigen Debatte keinerlei Erwähnung. Die Generalisierung der Darstellung arabischer Männer als potentielle Sexualtäter ließe sich dann auch nicht mehr aufrechterhalten. Deutlich wird also, dass der Begriff taharrush jama’i dekontextualisiert und zur Islamisierung und Arabisierung sexueller Gewalt missbraucht wird.

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UniReport-Essays zum Thema:

„Köln und die Folgen [Essay]“ von Prof. Kira Kosnick
„Gewaltlegitimierende Gendernormen benennen“ von Prof. Susanne Schröter

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Sexismus und Kultur

In der Geschlechterforschung gilt Sexismus als ein globales Phänomen, das allerdings von regionalen Unterschieden sowie Differenzen zwischen Religionsgruppen, sozialen Klassen und Generationen gekennzeichnet ist. Sexismus naturalisiert die Dominanz sowie die strukturelle Herrschaft von Männern über Frauen und legitimiert so die Geschlechterhierarchie. Neosexismus, der sich vornehmlich in westlichen Ländern findet, bestreitet die Fortexistenz der Diskriminierung von Frauen mit dem Hinweis auf die erfolgreiche Umsetzung der Gleichberechtigung. Im deutschen Kontext etwa wurde die Entgleisungen des Politikers Brüderle gegenüber einer Journalistin, als ‚harmlos‘ abgetan.

Problematisch ist diese Sichtweise deshalb, weil sie den Zusammenhang zwischen verbalen Formen des Sexismus und manifesten Handgreiflichkeiten sowie sexueller Nötigung bagatellisiert und ignoriert. Sexismus und sexuelle Gewalt sind in Deutschland keine Ausnahme, sondern Normalität. Eine vom Bundesfamilienministerium herausgegebene Studie (Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit in Deutschland, 2013) berichtet, dass 95% der Frauen, die Opfer sexueller Gewalttaten wurden, diese nicht zur Anzeige brachten; angesichts der Lücken im Sexualstrafrecht – die Verurteilungsquote liegt bei 8,4% (Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachen 2012) – scheint diese Zurückhaltung nachvollziehbar.

Prof. Helma Lutz
Prof. Helma Lutz

Seit Jahrzehnten haben Aktivistinnen auf diese Missstände hingewiesen und eine Verschärfung des Sexualstrafrechts gefordert. ‚Köln‘ hat nun dazu geführt, dass die Strafrechtsreform im Eilverfahren durchgeführt wird. Das ist begrüßenswert, jedoch auch problematisch, da eine spezifische Tätergruppe in besonderer Weise markiert wird, während andere Täter im Schatten bleiben. Erklären lässt sich dies nur mit der von Kira Kosnick als Kulturalisierung bezeichneten Dynamik: Hier wird mithilfe der Diskursfigur des fremden, schwarzen Mannes, der die weiße Frau vergewaltigt, eine koloniale und rassistische Rhetorik aktiviert, die das Problem sexistischer Gewalt als gesamtgesellschaftliche Frage externalisiert und medial inszeniert: pornografisch inszenierte Körper von weißen, blonden jungen Frauen, auf die schwarze Hände zugreifen (siehe Titelseite Focus 2/2016 sowie das Cover des polnischen Magazins wSieci mit der Schlagzeile „Die islamische Vergewaltigung Europas“), bedienen und schüren gleichzeitig Angstszenarien.

Im Faschismus galten Juden als potentielle Täter, im Ersten Weltkrieg schwarze Soldaten, heute Muslim e. Der Kulturbegriff, der dieser Argumentation zugrunde liegt, konstatiert die Unvereinbarkeit zwischen einem (weißen, christlichen) homogenisierten ‚Kulturkreis‘ (WIR) und ‚fremden‘ Kulturen (SIE). Dass ein solches Kulturverständnis Elemente früherer Diskurse enthält, hat bereits Theodor W. Adorno weitsichtig im Jahre 1955 festgestellt, als er davor warnte, „das vornehme Wort Kultur“ an die Stelle des verpönten Ausdrucks ‚Rasse‘ zu setzen, da mit diesem nominalen Austausch oft Vergleichbares gemeint sei.

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Im nächsten UniReport (erscheint am 14. Juli) wird die Autorin und Rechtanwältin Seyran Ateş mit einem Essay die kleine Reihe beschließen.

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Marginalisierte Männlichkeit

Über die Täter von Köln ist bislang wenig bekannt. Allerdings häufen sich Berichte darüber, dass ‚das Antanzen‘ im öffentlichen Raum – vor allem in Großstädten – Taschendieben als bewährter Trick gilt, Mobiltelefone, Handtaschen und Geldbörsen zu entwenden. Zielscheibe dieser Praxis sind sowohl Frauen als auch Männer. Legt man die Erkenntnisse der soziologischen Männlichkeitsforschung zugrunde, um deviantes Verhalten junger Männer zu erklären, dann lässt sich Folgendes feststellen: In allen Ländern der Welt gibt es Idealvorstellungen von erfolgreicher, respektabler, sog. Hegemonialer Männlichkeit (R. Connell), die der Orientierung im männlichen Verhalten dient. Auch die Demonstration von Potenz und Virilität hat eine funktionale Bedeutung für die Inszenierung hegemonialer Männlichkeit. Beispielhaft sind hier die Nutzung von Firmenkapital für Bordellbesuche (z. B. der VW-Chefetage) und die organisierten Sexparties von Politikern wie Belusconi und Strauss-Kahn zu nennen.

Männliche Herrschaft, so der Soziologe Pierre Bourdieu, ist in erster Linie eine Auseinandersetzung zwischen Männern – um Macht, Einfluss und Ehre; die Dominanz über Frauen ist dabei die Voraussetzung männlicher Kämpfe. Auch marginalisierte Männer, die am Rande der Gesellschaft stehen, orientieren sich an den Standards starker, machtvoller Männlichkeit und versuchen, mithilfe von Eigentumsdelikten dem Konstruktionsmodus von hegemonialer Männlichkeit nahezukommen bzw. letztere mit kriminellem Verhalten ‚zurückzuerobern‘. Performanz von Männlichkeit wird zur Ressource für die fehlende Option der Teilhabe an der (Konsum-) Gesellschaft.

Die extremste Form der Rekonstitution von Männlichkeit sind Tötungsdelikte und öffentlichkeitswirksame kollektive Gewalt, die in verschiedenen Radikalisierungsformen (sowohl im Rassismus der Rechtsextremisten wie im radikalen Islamismus) zu finden sind. Diese Ausführungen dienen nicht dazu, Taten zu bagatellisieren und Täter zu entlasten. Sexuelle Gewalt gegen Frauen muss selbstverständlich umfassend geächtet und bestraft werden. Wenn aber eine Gesellschaft junge Männer aufgrund phänotypischer Merkmale als ‚fremd und gefährlich‘ einstuft und unter Generalverdacht stellt, dann hat dies fatale Folgen für den sozialen Umgang des gesamten Gemeinwesens.

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Über die Autorinnen:

Helma Lutz ist Professorin für Frauen- und Geschlechterforschung im FB 03 und geschäftsführende Direktorin des Cornelia Goethe Centrums.
Dr. Meltem Kulaçatan ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im FB 04, Pädagogik der Sekundarstufe mit Schwerpunkt Islam.

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Dieser Artikel ist in der Ausgabe 3.16 des UniReport erschienen [PDF].

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