Eines gab und gibt es im Lebenslauf von Thomas Betzwieser, Professor für historische Musikwissenschaft, nicht: Stillstand. Veränderungen gehören bei ihm dazu. Genauso ist sein Werdegang allerdings von Kontinuität geprägt: An klassischer Musik hat er Freude, seit er im Grundschulalter den ersten Klavierunterricht erhielt und seit er mit dem Orgelspiel begann.
Den beiden Tasten instrumenten ist er seither treu geblieben, so dass er nach der Schulzeit sein Studium als Kirchenmusiker in seiner Heimatgemeinde im Rhein-Neckar-Kreis finanzieren konnte. „Das musste ich am Ende des Studiums allerdings aufgeben und spiele heute nur noch für den Hausgebrauch“, lächelt Betzwieser bedauernd, und über das Hammerklavier, das derzeit ungebraucht in seinem Büro steht, sagt er:
„Dieses Instrument ist leider mittlerweile völlig verstimmt, weil weitgehend unbenutzt.“ Genauso wichtig wie die Liebe zur klassischen Musik ist für den Hochschullehrer Thomas Betzwieser seine Begeisterung für die Lehre: „Ich lehre ausgesprochen gerne. Das war auch schon so, als ich an der Uni meine erste Assistentenstelle hatte“, berichtet er und erzählt, dass er in seiner Schulzeit sogar den Berufswusch „Musiklehrer“ verspürte. Dieser Plan änderte sich durch ein einschneidendes Erlebnis:
Nach dem Abitur war er für einen Sommer als Bühnenarbeiter bei den Richard-Wagner-Festspielen in Bayreuth beschäftigt. Danach wusste er: „Mein Beruf muss mit Musiktheater zu tun haben“, studierte Musikwissenschaft und absolvierte währenddessen Hospitanzen und Regieassistenzen an verschiedenen Opernhäusern in Deutschland und in der Schweiz. Während er an der Universität Heidelberg an einem Forschungsprojekt mitwirkte, veränderte sich sein Berufsziel abermals: Betzwieser tauschte die Opernbühne endgültig gegen Hörsaal und Seminarraum ein.
»Spagat in der Lehre«
Er gibt zu bedenken: „Die universitäre Lehre hat sich seither stark verändert. Einerseits sollen wir den Studierenden einen Wissens- und Repertoirekanon vermitteln, andererseits wollen wir sie zu selbstständiger Reflexion motivieren und befähigen. Der Spagat, den wir Lehrenden hier vollführen müssen, ist ziemlich groß“, sagt Betzwieser.
Dass er dabei neuartigen Lehrformaten gegenüber aufgeschlossen ist, zeigt sich beispielsweise, wenn er in seiner Vorlesung „Kulturen der Klaviermusik“ auch längere Interpretationsbeispiele mit den Studierenden diskutiert, musikalische Probensituationen einbezieht oder dem Virtuosentum des 19. Jahrhunderts den heutigen Star-Rummel gegenüberstellt, statt über traditionelle Werkbetrachtungen zu dozieren.
Allerdings hat sich nicht nur die Lehre verändert, sondern auch die Forschung und die Wege auf denen Forschungsergebnisse zugänglich gemacht werden: So leitet Betzwieser das 2009 begonnene und auf 15 Jahre angesetzte Editionsprojekt „OPERA“, das in der Trägerschaft der Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur steht. Im Rahmen von „OPERA“ sollen 21 bedeutende musikdramatische Werke des 17. bis 20. Jahrhunderts herausgegeben werden, vom Ballett über die Schauspielmusik und die Operette bis hin zur Oper.
»Hybrid- und Digital-Editionen«
Dabei werden die Editionen erstmals als sogenannte Hybridausgaben präsentiert: Die Partituren liegen als traditionelle Leinenbände vor, das ergänzende Material – musikalische und textliche Quellen, die Editionen der dramatischen Texte sowie die kritischen Berichte – wird samt einer speziellen, an der Universität Paderborn entwickelten Software auf einem Datenträger mitgeliefert.
„So lässt sich die Flexibilität der Werke viel besser darstellen“, erläutert Betzwieser. Beispielsweise könnten die Nutzer der neuen Edition ohne weiteren Aufwand abweichende Angaben zur Dynamik (Lautstärke) oder zur Vortragsweise vergleichen. „Früher mussten sie die Angaben der Herausgeber einfach glauben, sich Mikrofilme schicken lassen oder von Bibliothek zu Bibliothek reisen.“
Noch einen Schritt weiter als mit den Hybridausgaben von „OPERA“ geht Betzwieser mit der Edition eines Melodrams des Mozart-Zeitgenossen Peter von Winter: Es soll vollständig digital erscheinen, und der Notentext wird über das Internet zugänglich sein. Das Besondere an diesem Werk sind die 160 originalen Kupferstiche, die das Geschehen auf der Bühne illustrieren; die Herausforderung für Betzwieser besteht in diesem Fall darin, zusätzlich zu Musik und Text die Bilder als drittes Medium in die Digital-Edition einzugliedern.
Weil Betzwieser seit seinem Wechsel an die Goethe-Universität im Jahr 2012 der geschäftsführende Direktor des musikwissenschaftlichen Instituts ist, muss dieses Projekt derzeit noch allzu oft hinter der Alltagsroutine zurückstehen. Er freut sich allerdings darauf, wenn ihm mehr Zeit bleibt für das, was ihm am Herzen liegt: die digitale Edition des Melodrams und seine Forschung zu Christoph Willibald Gluck.
„An Gluck finde ich bemerkenswert, dass er – anders als beispielsweise Mozart – die Gestaltung seiner Werke ganz aus der Szene heraus entwickelt und seine Partituren eben nur ein Element des Werkes darstellen“, erläutert Betzwieser. „Gluck wollte seine Bühnenvisionen verwirklichen. Er muss genauso als Regisseur wie als Komponist seiner Opern gelten.“
Wenn es um den deutschen Vorklassik-Komponisten Gluck geht, ist „Veränderung“ der Gegenstand von Betzwiesers musikhistorischer Forschung. Bei den anderen Themen gehört sie – ebenso wie Kontinuität – immerhin zu den entscheidenden Rahmenbedingungen seiner wissenschaftlichen Karriere. So, wie es der Liedermacher Wolf Biermann einmal formulierte: Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. [Autorin: Stefanie Hense]