Die Politikwissenschaftlerin Brigitte Geißel über die anstehende Bundestagswahl, über Wahlmüdigkeit und über die Notwendigkeit, Bürgerinnen und Bürger besser in demokratische Prozesse einzubinden.
UniReport: Frau Prof. Geißel, bereits in wenigen Wochen wird der Bundestag gewählt. Es scheint wohl auf einen Kanzler Friedrich Merz hinauszulaufen – offen ist lediglich, welche der beiden infrage kommenden Parteien seiner CDU die nötige Mehrheit bescheren wird. Das ist eigentlich eine etwas langweilige Ausgangsposition vor dem Hintergrund, dass Deutschland vor unglaublich großen Herausforderungen steht. Oder?
Brigitte Geißel: Ja, sie ist einerseits langweilig, aber andererseits natürlich auch unglaublich bedenklich. Man kann sagen, dass ungefähr ein Viertel der Wählerinnen und Wähler erst gar nicht zur Wahl gehen. Dann hat man jene, die Parteien wählen, die gar nicht in den Bundestag kommen. Das sind immer so zwischen fünf und zehn Prozent, die wählen beispielsweise die Tierschutzpartei, DIE PARTEI und ähnliche Klein-Parteien. Ungewiss ist es bei Die Linke, dem BSW und der FDP, ob sie überhaupt in den Bundestag kommen, also potenziell noch mal knapp 15 Prozent der Wähler. Wenn man alles zusammenrechnet, wären demnach potenziell fast die Hälfte der Wählerinnen und Wähler nicht im neuen Bundestag vertreten. Das Ergebnis der Bundestagswahl, egal mit welcher Koalition, wird keine großen Glücksgefühle in der Bevölkerung hervorrufen, sondern bei der Mehrheit eher Unzufriedenheit. Und das ist das, was mir am meisten Sorgen macht. Zwei weitere Punkte scheinen mir mit Blick auf die Bundestagswahl sehr bemerkenswert: zum einen die Altersstruktur der Wahlberechtigten – über die Hälfte sind über 50. Das dürfte natürlich auch bei den Fragen um Zukunftssicherung und Innovationsfähigkeit eines Landes relevant sein. Zum anderen haben sich bei Befragungen zwei dominierende Themen herauskristallisiert: Wirtschaft und Migration, damit beschäftigen sich die Menschen, das sollte sich die Politik zu Herzen nehmen.
Ist der wahrscheinliche Wahlausgang mit einem Kanzler Merz und einer schwarz-roten oder schwarz-grünen Regierungskoalition ein möglicher Grund, warum Leute der Wahlurne fernbleiben?
Es gibt für die Wahlmüdigkeit verschiedene Gründe. Die klassische Parteienzugehörigkeit der Wähler, wie man sie früher kannte, existiert so heute nicht mehr. Der Wähler/die Wählerin, der/die sein ganzes Leben lang eine Partei gewählt hat, ist Geschichte. Heute hingegen haben wir immer mehr Wechselwähler. Momentan wissen gerade einmal circa 30 Prozent der Wähler, wen sie bei der Bundestagswahl wählen wollen, und das nur wenige Wochen vor der Wahl. 30 Prozent haben sich noch nicht entschieden, wen sie wählen wollen, und die dritte Gruppe derjenigen, die noch nicht einmal wissen, ob sie überhaupt wählen gehen wollen, hatte ich bereits erwähnt. Das ist natürlich eine Entwicklung, die sich schon seit einigen Jahren abgezeichnet hat. Ob der wahrscheinliche Wahlausgang mit einem Kanzler Merz die Wahlmüdigkeit befeuert, ist schwer zu sagen. Hinzu kommt, dass wir aus der Forschung wissen, dass bei Umfragen die Anzahl der Nichtwähler immer deutlich geringer ist als dann tatsächlich bei den Wahlen.
Der Vorlauf ist bei dieser vorgezogenen Neuwahl relativ kurz. Ist das ein Problem für die Parteien, ihren Wahlkampf zu führen? Aber auch für die Bürgerinnen und Bürger, sich gründlich zu informieren?
Für die Parteien stellt das in der Tat ein Problem dar, beispielsweise für die Formulierung der Wahlprogramme. Ich vermute mal, dass das aus Sicht der Wählerinnen und Wähler hingegen kein größeres Problem sein sollte, denn die Unzufriedenheit mit der Ampel-Koalition war schon lange vor deren Ende vorhanden. Somit konnte man sich schon länger auf die Suche nach einer neuen politischen Option begeben. Zumindest kann der Wahl-O-Mat bis Februar aufgebaut werden, was ja für viele auch eine Hilfe ist, zu entscheiden, wen sie wählen und welche Partei ihnen am nächsten steht. Und darüber hinaus gibt es ausreichend Möglichkeiten, sich zu informieren. Die öffentlich-rechtlichen Medien und die überregionalen Tageszeitungen bieten auch einiges an.
Viele nutzen mittlerweile den Wahl-O-Mat, eine internetbasierte Wahlentscheidungshilfe. Wie hoch schätzen Sie den Einfluss ein? Und ist das aus Ihrer Sicht zu begrüßen?
Die wenigsten Wähler lesen Wahl- oder Parteiprogramme, das ist wohl unbestritten. So gesehen ist der Wahl-O-Mat eine sehr große Hilfe, um zu eruieren, welche Partei stimmt eigentlich mit meinen Positionen überein. Über die Jahre hat man dieses digitale Angebot verbessert: So kann man Schwerpunkte setzen, nicht alle Fragen müssen gleichgewichtet werden. Und man muss festhalten: Der Wahl-O-Mat gibt ja nicht vor, wen man letztendlich wählt. Man bekommt Informationen darüber, welche Parteien einem bei bestimmten Fragen nahestehen und welche nicht, die Wahlentscheidung trifft man dann nach wie vor noch selber. Viele Leute sind oft erstaunt darüber, was der Wahl-O-Mat ausspuckt. Er liefert eine faktenbasierte Grundlage, aber es gibt natürlich bei jedem Wähler und jeder Wählerin auch emotionale Bindungen zu einem politischen Lager oder einer politischen Partei – das spielt natürlich auch eine wichtige Rolle.
Viele Wählerinnen und Wähler, sagen viele Beobachter, können den klassischen Medien gar nichts mehr abgewinnen und bewegen sich daher lieber nur noch im Internet und auf Social Media.
Ja, das macht mir schon Sorgen. Damit komme ich wieder zu dem Aspekt der Nichtwähler: Wir wissen, dass Nichtwähler meist unzufriedene Menschen sind, die davon ausgehen, dass keine Partei ihre Interessen vertrete. Ebenso gehen viele davon aus, dass ihre Interessen nicht von den öffentlich-rechtlichen Medien berücksichtigt werden. Ich möchte aber an dieser Stelle kein Bürger- oder Wähler-Bashing betreiben, nach dem Motto: „Die Wähler sind einfach zu doof“. Das stimmt auch einfach nicht. Ich glaube, dass sich die Öffentlich-Rechtlichen ohnehin stärker mit dem Vorwurf befassen sollten, dass sie zu regierungsnah berichten. Auch machen die Öffentlich-Rechtlichen es den misstrauischen, kritischen Menschen an vielen Stellen zu einfach, sich von ihnen abzuwenden, indem sie deren Themen/Interessen ignorieren.
Nach jetzigem Stand wird die AfD bei über 20 Prozent der Stimmen landen. Damit wäre sie mit Abstand die zweitstärkste Kraft, auch wenn sie keine Aussicht hat, Teil einer Regierungskoalition zu werden. Wäre es denkbar, dass sie wie die FPÖ in Österreich auch mal zur stärksten Kraft im Bundestag aufsteigt und eine Regierung anführt?
Ich denke nicht, dass die AfD zu irgendeinem Zeitpunkt im Bundestag stärkste Kraft werden wird. Aber ich hoffe wirklich sehr, dass die anderen Parteien sich etwas stärker an den Interessen der Bevölkerung orientieren und weniger aus einer manchmal doch recht elitär wirkenden Haltung die AfD-Wähler prinzipiell für dumm erklären. Hillary Clinton hat damals im Wahlkampf sinngemäß gesagt, dass die Trump-Wähler alle Idioten seien. Das war definitiv nicht der richtige Weg. Nochmal zu Ihrer Frage zurück: Ich sehe die Gefahr nicht, dass die AfD die stärkste Partei werden könnte. Ich würde aber trotzdem den anderen Parteien ins Gewissen reden: Wieso sorgt ihr nicht dafür, dass die Menschen sich von euch vertreten fühlen? Wie kann es sein, dass eine Partei wie die AfD so viel Erfolg damit hat, zu sagen: ‚Niemand sonst hört euch zu, nur wir‘. Da muss man wirklich etwas tun.
Kanzler Olaf Scholz sucht im Wahlkampf das Gespräch mit den Menschen, andere Politiker machen es ganz ähnlich. Ist das nur Symbolpolitik oder lässt sich daran wirklich ein neuer Politikstil erkennen?
Sich jetzt als große bürgernahe Partei darzustellen, ist natürlich viel zu kurzfristig gedacht. Das bedarf eines längerfristigen Plans, um in unserer repräsentativen Demokratie wieder mehr Bürger mitzunehmen.
Sie beschäftigen sich als Politikwissenschaftlerin mit neuen, bürgernäheren Demokratieverfahren. Was würden Sie sich denn auf Grundlage Ihrer Forschung vielleicht wünschen?
Mein Wunsch ist, dass die Bevölkerung sich wieder stärker mit der Demokratie identifiziert. Ein kleines Beispiel: Wenn wir hier auf Basis der Zufallsauswahl zu Bürgerräten einladen, sind wir froh, wenn fünf Prozent der Ausgewählten teilnehmen. Es scheint die meisten Menschen einfach nicht zu interessieren. Zum Vergleich ist in der Schweiz der Anteil der Personen, die an Bürgerräten teilnehmen, deutlich höher. Und das, obwohl die Menschen dort über die Direktdemokratie ohnehin schon über viel mehr Mitbestimmung verfügen. Ich wünsche mir auch für Deutschland, dass man sich stärker mit der Demokratie identifiziert. Die Demokratie scheint von vielen als etwas wahrgenommen zu werden, was nicht so viel mit einem selber zu tun hat. Deswegen auch mein starkes Plädoyer, eine stärkere Diskussion darüber zu führen, wie wir eigentlich regiert werden wollen. Also nicht nur Slogans wie: Wir brauchen eine neue Partei, wir sind gegen den Kanzler, wir sind gegen die Regierung, sondern eine stärkere Diskussion darüber, was in der Bevölkerung eigentlich an Wünschen vorhanden ist, wie ihre Demokratie ausgestaltet sein soll. In jeder Umfrage sagen circa 80 bis 90 Prozent der Wähler, dass sie mehr mitbestimmen wollen. Wie soll das aber ganz konkret aussehen? Die Mehrheit der Wähler sagt, wir wollen mehr Volksentscheide. Wir wissen aber ganz wenig darüber, auf welcher Ebene: auf Bundes-, Landes-, kommunaler Ebene? Zu allen Themen, von Sozialpolitik zu internationaler Politik? Das sind alles Debatten, die einmal angeregt werden müssen, um aus dieser allgemeinen Unzufriedenheit herauszukommen. Das geht jetzt aber nicht in der heißen Phase des Wahlkampfes. Wir müssen uns langfristig etwas Neues überlegen, um die Menschen wieder stärker an die Demokratie zu binden.
Die Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Brigitte Geißel hat die Professur mit dem Schwerpunkt Bundesrepublik Deutschland im europäischen Kontext an der Goethe-Universität inne und ist Leiterin der Forschungsstelle „Demokratische Innovationen“. Von ihr ist zuletzt das Buch zum Thema erschienen: Demokratie als Selbst-Regieren. Demokratische Innovationen von und mit Bürgerinnen und Bürgern. Opladen, Berlin u. Toronto 2024.