Ein Diskussionsabend am Forschungskolleg Humanwissenschaften nahm die prodemokratischen Proteste in Israel aus philosophischer Perspektive in den Blick.
75 Jahre ist der Staat Israel in diesem Frühjahr alt geworden. Die Jubiläumsfeier fiel in die vielleicht größte innenpolitische Krise seit Staatsgründung: Woche für Woche gehen seit Januar Menschen aus ganz Israel zu Hundertausenden am Samstag auf die Straße, die Israel-Flagge schwenken sie im Protest. Der Anlass: Die sogenannte Justizreform der frisch ins Amt gewählten rechtskonservativen (in Teilen rechtsextremen) Koalitionsregierung unter Benjamin Netanjahu, eine Reform, die den Obersten Gerichtshof entmachten und Israels Rechtsstaatlichkeit empfindlich bedrohen würde. Am Forschungskolleg Humanwissenschaften wurde am 26. Juni der Versuch unternommen, in einem Diskussionsabend philosophisch auf die Ereignisse zu blicken. Mit dem Forschungskolleg-Fellow Daniel Statman hatte die Veranstaltung einen Initiator, in dem sich die Perspektiven eines israelischen Teilnehmers an den Protesten und eines Philosophen verbanden: Statman ist Professor für Philosophie an der Universität Haifa und aktiver Unterstützer der Protestbewegung. Sein Diskussionspartner auf der Bühne, der Politiktheoretiker Cain Shelley, forscht als Fellow des Justitia Center for Advanced Studies ebenfalls am Forschungskolleg zu politischem Aktivismus und Fragen sozialer Gerechtigkeit.
Der Kampf für ein liberales Israel
Statman begann den Abend mit einem kurzen Vortrag über den Hintergrund und Verlauf der Proteste: Welche Motive stehen hinter der umstrittenen Justizreform – und wäre sie nicht besser benannt als „konstitutionelle Revolution“, droht sie doch, die Gewaltenteilung im Staat aufzuheben? Wie erklärt sich die historisch beispiellose Größe und Dauer der Proteste gegen das Regierungsvorhaben? In Zahlen drückt sie sich folgendermaßen aus: Seit 25 Wochen in Folge verbringen Israelis im ganzen Land ihren freien Tag mit Protest, 500 000 Menschen sollen es auf dem Höhepunkt gewesen sein, darunter ranghohe Militärangehörige und Reservisten. Sie blockieren Straßen, fordern „Demokratia“, singen die Nationalhymne. Im März kam es zum Generalstreik, Universitäten, Banken, Betriebe schlossen, Krankenhäuser stellten auf Notbetrieb.
In Statmans Versuch, die Ereignisse zu ordnen und einzuordnen, wurde rasch deutlich: Die Geschichte, über die hier gesprochen wird, wird noch gemacht. Der Ausgang ist ebenso offen, wie die Pläne und Ziele der Protestierenden und der regierenden Politiker unklar und wohl oft noch nicht festgelegt sind. Deutlich wurde auch: Die Ereignisse in Israel sind zugleich symptomatisch für die viel diskutierte Krise der liberalen Demokratie – und können doch nicht ohne Berücksichtigung der spezifisch israelischen Verhältnisse verstanden werden. Schon lange schwelt im Land, so stellte es Statman dar, Wut auf die ultraorthodoxe Minderheit, die kaum in die Staatskasse einzahlt und keinen Militärdienst leistet, aber durch ihre politische Macht Regierungshandeln wesentlich zu ihren Gunsten mitbestimmt. Die Justizreform wird auch als Ausdruck ultraorthodoxen Machtstrebens verstanden – deren ultimativer Zielpunkt die langfristige Umgestaltung Israels von einem liberalen und säkularen zu einem theokratischen Staat sein könnte. So scheint im Protest ein langes Unwohlsein der israelischen Mehrheit Ausdruck zu finden. Am Ende könnte es, so Statman, für sie im Protest um weit mehr gehen als um die Verhinderung der Justizreform, nämlich um einen neuen „civil contract“, der Israel auf den Kurs einer liberal-demokratisch-jüdischen Zukunft bringt.
Die Grenzen legitimen Protests
In der zweiten Hälfte des Abends stellten Statman und Shelley auf die philosophische Perspektive scharf. Besonders drei Fragen wurden zum Gegenstand der Debatte: Was definiert einen erfolgreichen Protest? Welche Formen des Protests sind in einer liberalen Demokratie legitim? Und: Wie spielt sich das Spannungsverhältnis von Nationalismus und Liberalismus in der Protestbewegung aus? Statman betonte mehrfach, dass der Protest im Zeichen des zionistischen Patriotismus stünde. Der Erfolg der Protestbewegung gemessen an Dauer, Größe und friedvoller Natur sei ganz wesentlich daraus zu erklären, dass die Protestierenden sich auf ihre Gemeinsamkeit der israelischen Staatsbürgerschaft konzentrierten und Konfliktthemen, spezifisch die Frage der Besatzung, in der Zusammenarbeit ausklammern würden. Cain Shelley hakte hier ein, um laut zu überlegen, wie weit ein prodemokratischer Protest in Israel tragen kann, der sich nicht auch protestierend gegen die Besatzung richtet: Nicht nur stärke die Besatzung schließlich praktisch eine politisch weit rechte, antiliberale Siedlerbewegung, vielleicht untergrabe sie auch die Haltung bürgerlicher Fürsorge und Solidarität, die das Fundament einer liberalen Demokratie sei. Schließlich verlange die Besetzung alltäglich von den israelischen Bürgern das Wegsehen, die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid der Palästinenser.
Shelley war es auch, der philosophische Orientierung in die Frage nach der Ethik des Protests zu bringen versuchte. Anlass der Frage waren besonders zwei Praktiken der Protestierenden in Israel: Blockaden des Verkehrs und Demonstrationen vor den Privathäusern der Regierungspolitiker. Unter Bezug auf Rawls Überlegungen zum zivilen Ungehorsam trug Shelley eine moralische Rechtfertigung der Protestierenden vor: Sie seien nicht die „Anarchisten“, als die sie von Regierungspolitikern und Anhängern bezeichnet werden, sondern handelten vielmehr im Zeichen einer „Zivilität“, die die tragenden Prinzipien des Gemeinwesens, den Geist seiner Gesetze, affirmiere.
Ein Raum für Reflexion
Die Diskussion mit dem Publikum knüpfte an den von Shelley aufgebrachten Begriff der Zivilität an, um dessen normative Leistung zu beleuchten, und entwickelte sich zu einem gemeinsamen Versuch weiter, die Hintergründe der Proteste und ihre Perspektive zu verstehen. Weshalb hat Israel sich nie eine Verfassung gegeben – und wie trägt dieser Umstand zur gegenwärtigen Krise, wie trug er vielleicht aber auch zu langen Stabilität der israelischen Demokratie bei? Welche Rolle könnte Israels sicherheitspolitische Lage im regionalen Kontext des Nahen Ostens für die Entwicklung der Proteste noch spielen und welche Rolle spielt sie bereits? Es waren Fragen die, ganz im Sinn der guten philosophischen Praxis, nicht auf abschließende Antworten zielten, sondern die Komplexität der Wirklichkeit zur Sprache zu bringen versuchten. Der Abend bot so Raum für einen Moment der Reflexion und Orientierung in einem andauernden Geschehen. Für den 28. Juni, am Tag der Diskussion drei Tage in der Zukunft, hat die Regierungskoalition angekündigt, die pausierten Parlamentsabstimmungen zum umstrittenen Reformpaket fortzusetzen. Die Protestbewegung hat für den Fall, dass der Ankündigung Taten folgen, einen Eskalationsplan ausgearbeitet.
Carlotta Voß