Die Welt im Wasserstress

Wie haben sich die Wasserresourcen in den letzten 120 Jahren verändert? Und was passiert, wenn es bis Ende des 21. Jahrhunderts noch einmal zwei Grad wärmer wird als heute? Fragen wie diese beantwortet das globale Wasser-Modell WaterGAP, das maßgeblich vom Institut für Physische Geographie der Goethe-Universität und von der Ruhr-Universität Bochum entwickelt wird. Bislang ließen sich die damit erzeugten Daten nur von Expertinnen und Experten nutzen. Eine neue Web-App ändert das nun. Entwickelt wurde sie von dem französischen Geodaten-Unternehmen Ageoce, das dafür mit der Goethe-Universität kooperierte.

Der Erlenbach in der Nähe von Frankfurt. Im Rahmen des Bachelor-Studienganges Geographie findet dort jedes Jahr eine Geländeübung statt. Dabei erlernen die Studierenden grundlegende praktische Methoden der physischen Geographie wie die Messung der Wasserflüsse.

Auf dem Bildschirm im Geozentrum der Goethe-Universität ist eine Karte von Mitteleuropa zu sehen. Oder besser: zu erahnen. Die gesamte Landfläche ist nämlich von einem Flickenteppich farbiger Kästchen übersät – manche davon blau, andere grün, wieder andere gelb oder orange. „Jedes dieser Kästchen – wir sprechen auch von Zellen – hat eine Größe von etwa 50 mal 50 Kilometern“, erklärt Dr. Hannes Müller Schmied. „Die Farben verdeutlichen, wie viel Grundwasser dort in einem Jahr neu gebildet wird. Je stärker es in Richtung orange geht, desto geringer ist diese Neubildung.“ Der Geograph klickt ein paar Mal mit der Maus. Der bunte Teppich verändert sich – wo vorher noch grün vorherrschte, dominieren nun gelb und orange. „Das Bild, das ich Ihnen eben gezeigt habe, zeigt die Situation im Jahr 1980“, erklärt er. „Hier sehen Sie zum Vergleich die Lage 2021, einem Jahr mit insgesamt weniger Niederschlägen und einer etwas veränderten saisonalen Niederschlagsverteilung: In weiten Teilen Ostdeutschlands, Polens und Russlands sieht man hier deutliche Unterschiede.“

Ein Gewitterguss hilft dem Grundwasser kaum

Unsere Süßwasser-Ressourcen gelangen zunehmend unter Stress. Das liegt nicht so sehr daran, dass sich die Jahresmenge des Niederschlages ändert. Stattdessen hat sich seine Verteilung verändert. „Viele Menschen finden das nasse Wetter der vergangenen Wochen deprimierend“, sagt Müller Schmied. „Für den Boden und das Grundwasser ist so ein gleichmäßiger, lang anhaltender Regen aber eine gute Nachricht.“ In den letzten Jahren häufen sich jedoch lang anhaltende trockene Phasen. Wenn Niederschlag fällt, dann oft sehr geballt. Mitunter entlassen die Wolken binnen weniger Stunden so viel Wasser wie sonst innerhalb mehrerer Wochen. „Bei einem solchen Starkregen nimmt der Boden schon nach kurzer Zeit nichts mehr auf“, betont Müller Schmied. Stattdessen fließt das kostbare Nass über die Bäche und Flüsse ins Meer – es kommt nur sehr wenig im Boden und letztendlich im Grundwasser an. „Ein kräftiger Gewitterguss hilft dem Grundwasser also kaum. Zwei Wochen Landregen, in denen exakt dieselbe Menge fällt, sind dagegen perfekt.“

Dass Wasser in Deutschland vielerorts zumindest zeitweise knapp wird, hat nicht nur mit den sich verändernden Niederschlags-Mustern zu tun. Es gibt noch zahlreiche weitere Faktoren, die seine regionale Verfügbarkeit beeinflussen: Welcher Anteil des Niederschlags im Winter in den Gletschern und als Schnee gespeichert und erst bei dessen Schmelze wieder freigegeben wird. Wie hoch die Sonneneinstrahlung ist und damit die Verdunstung. Wie bewaldet das betrachtete Gebiet ist (Wälder verschatten den Boden und begünstigen die Einsickerung von Wasser in den Boden, das Kronendach dient darüber hinaus als Wasserspeicher). Aber auch, wie stark die Ressourcen für die Bewässerung landwirtschaftlicher Kulturen, für Viehwirtschaft, Industrie und den Wasserbedarf der Haushalte genutzt werden. Seit 30 Jahren bemühen sich Forschende darum, diese Einflüsse in Computermodellen abzubilden. Denn ausreichend Wasser ist nicht nur für den Menschen, sondern auch für die Funktion der Ökosysteme und die Lebewesen in ihnen essenziell. Eines der heute weltweit meistgenutzten Modelle heißt WaterGAP. Das Kürzel steht für „Water – Global Assessment and Prognosis“, was sich frei mit „globale Einschätzung und Prognose der Wasserressourcen“ übersetzen lässt. WaterGAP erblickte vor knapp 30 Jahren an der Universität Kassel das Licht der Welt. Seitdem wird das Modell kontinuierlich verfeinert und weiterentwickelt – inzwischen vor allem an der Goethe-Universität Frankfurt und der Ruhr-Universität Bochum.

Dr. Hannes Müller Schmied arbeitet am Institut für Physische Geographie der Goethe-Universität und am Senckenberg Biodiversitäts und Klima Forschungszentrum (SBiK-F).

Hannes Müller Schmied ist Teil des Frankfurter WaterGAP-Teams. Die bunten Grafiken auf seinem Bildschirm basieren auf den Berechnungen des Modells. „Die Neubildung des Grundwassers lässt sich nur mit sehr großem Aufwand messen und das auch nur punktuell und nicht für große Gebiete“, sagt er. „Für die Frage, inwieweit etwa eine großflächige Bewässerung aus Grundwasserressourcen nachhaltig ist, sind diese Informationen aber ausgesprochen wichtig.“ Modelle wie WaterGAP erlauben es, die Prozesse, die die Wasserverfügbarkeit beeinflussen, per Software nachzustellen. Dadurch können sie räumlich und zeitlich aufgelöste Zeitreihen zu verschiedenen Variablen des Wasserkreislaufes berechnen. Auf diese Weise ist es möglich, für fast jede Region auf unserem Planeten den aktuellen Stand und die historische Entwicklung der Wasserressourcen abzuschätzen, wenn auch mit einer gewissen Unsicherheit.

Komplexe Geodaten

Bislang war es Expertinnen und Experten vorbehalten, aus dem riesigen Wust der Modellberechnungen Antworten auf bestimmte Fragen zu destillieren. „Wir nutzen komplexe Programme, um die Ergebnisse unseres Modells zu analysieren und letztendlich zu visualisieren“, erläutert Müller Schmied. Dank einer Kooperation mit der französischen Firma Ageoce soll sich das nun ändern. Das Unternehmen ist darauf spezialisiert, komplexe Geodaten so aufzubereiten, dass sie sich in einem ganz normalen Internet-Browser betrachten lassen. Auch die beiden Europa-Karten zur Grundwasser-Neubildung 1980 und 2021 wurden mit dieser „Web-App“ erzeugt. „Wir wollen es Laien ermöglichen, die Entwicklung der Wasser-Ressourcen in den letzten Jahrzehnten nachzuvollziehen“, betont Dr. Guillaume Attard, Geschäftsführer von Ageoce. „Die Philosophie unseres Unternehmens ist es, die Lücke zwischen Forschung und operativer Umwelttechnik zu schließen – beispielsweise indem wir Forschungsdaten so übersetzen, dass jeder sie nutzen kann. WaterGAP ist dafür ein ideales Beispiel.“ Die Visualisierung der Daten ermöglicht es auch Fachfremden, Antworten auf bestimmte Fragen zu finden – etwa: Wie hat sich die Wassersituation in der Region, in der ich lebe, seit meiner Geburt verändert? Und wie viel von dieser Veränderung ist auf menschliche Einflüsse zurückzuführen? „Ein Ziel ist es, das Problembewusstsein zu schärfen – sowohl in der Bevölkerung als auch in der Politik“, sagt Attard, dessen Heimat ebenso wie Deutschland in den letzten Jahren wiederholt unter Dürren gelitten hat.

Forschungsdaten in der Bibliothek

In die Zusammenarbeit ist auch die Bibliothek der Goethe-Universität eingebunden: Sie hat kürzlich eine Plattform zur Publikation von Forschungsdaten entwickelt – das Goethe University Data Repository (GUDe). Es steht allen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern offen. „Wir nutzen GUDe, um die Ergebnisse des Modells in strukturierter Weise abzulegen und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen“, erklärt Hannes Müller Schmied. Der französische Projektpartner kann dann über das Internet darauf zugreifen. Dieser Zugriff erfolgt über eine standardisierte Schnittstelle, fachsprachlich API. Wenn Müller Schmied neue Daten erzeugt (in Kürze sollen etwa die Modellberechnungen für 2023 im Repository abgelegt werden), kostet es Attard daher nur wenige Mausklicks, sie in seine Web-App zu integrieren. „Unser Gemeinschaftsprojekt dokumentiert also auch, wie sehr GUDe derartige Kooperationen vereinfachen kann“, betont Hannes Müller Schmied.

In der Forschung wird WaterGAP nicht nur eingesetzt, um die historische Entwicklung der Wasser-Ressourcen zu untersuchen. Ein besonderes Interesse gilt den Auswirkungen bestimmter Klimaszenarien: „Uns interessieren Fragen wie: Was passiert mit der Verfügbarkeit von Wasser für Mensch und Umwelt, wenn es tatsächlich weltweit 2, 3 oder 5 Grad wärmer wird? Wo bilden sich mögliche Hotspots des Klimawandels aus, die nach vertiefender Betrachtung rufen? Und welche Rolle spielen dabei direkte menschliche Eingriffe z.  B. der Bau von Stauseen oder die Wassernutzung durch Haushalte, Landwirtschaft und Industrie?“, sagt Hannes Müller Schmied. In der Web-App ist dieser Blick in die Zukunft noch nicht möglich. Vielleicht ändert sich das bald: Der Wissenschaftler plant, Finanzmittel für ein Projekt zu beantragen, in dem die Visualisierungs-Plattform weiter ausgebaut werden soll.

Info
WaterGAP-WebApp

Autor: Frank Luerweg

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