Seit dem 20. Dezember 2022 dürfen Frauen in Afghanistan nicht mehr an Hochschulen studieren. Nach der erneuten Machtübernahme durch die Taliban im Jahr 2021 sind die Rechte von Frauen, vor allem im Bereich Bildung, deutlich eingeschränkt worden. Eine absehbare Entwicklung, sagt die Ethnologin Prof. Susanne Schröter, Direktorin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam (FFGI) an der Goethe-Universität. Woher kommt diese frauenfeindliche Auslegung des islamischen Rechts? Wie kann man ihr entgegentreten? Welche Rolle spielt der Westen, und wie verhält es sich mit Nachbarstaaten wie dem Iran? Besteht überhaupt Hoffnung, dass sich etwas verändern wird?
UniReport: Frau Professor Schröter, war es absehbar, dass Frauen aus der Bildung exkludiert werden würden?
Prof. Susanne Schröter: Ich persönlich habe diesen naiven Gedanken, dass die Taliban inklusiv sind, nie verstanden. Warum sollten die Taliban, eine Gruppe, deren Verständnis einer Geschlechterordnung erzpatriarchal ist, inklusiv werden? Ihr normatives Gerüst basiert auf dem fundamentalistischen Islam der Deobandi-Schule. Da existiert keine Inklusivität der Geschlechter. Die Segregation ist genauso konstitutiv für diese Art des Islam wie andere Beschneidungen von Frauenrechten. Daran konnte niemals ein Zweifel bestehen.
Und so schränken diejenigen, die sich als Befreier von anderen Mächten feiern, andererseits die Rechte der Hälfte der Bevölkerung ein – den Frauen.
Hier müssen wir das Verständnis von Freiheit definieren. Wenn wir auf die jüngere Geschichte zurückblicken, stellen wir fest, dass die Mehrheit der Afghanen Freiheit in erster Linie als die Freiheit von äußeren Besatzern versteht. Sie haben den Engländern das Leben schwergemacht, die Russen aus ihrem Land vertrieben und im 20. Jahrhundert auch die eigene säkulare Elite bekämpft. Die Mehrheit der Bevölkerung möchte sich bei der Gestaltung der eigenen Gesellschaft nicht vom Ausland bevormunden lassen.
Das ist genau das, was die unterschiedlichen ethnischen Gruppen vereint. Dieses eigene religiöse und kulturelle Selbstbewusstsein und der Wille, die eigene Kultur gegen Einflussnahmen von außen zu verteidigen. Freiheit heißt in diesem Kontext immer Selbstbestimmung, den eigenen Normen und Werten folgen können. Das Konzept der Gleichberechtigung der Geschlechter wird abgelehnt.
Unter anderem aufgrund des großen Unterschieds zwischen ländlichen und urbanen Regionen?
Ja. 2010 waren von 34 Provinzen 33 von Taliban-Schattenregierungen beherrscht. Und diese regierten nicht gegen den Widerstand der Bevölkerung. Das war zu einem Zeitpunkt, als die Amerikaner eigentlich ihre Truppen schon abziehen wollten.
Die Taliban haben das Verbot unter anderem damit begründet, dass Studentinnen an den Hochschulen nicht die strikte Kleiderordnung befolgen und teilweise auch ohne männliche Begleitung den Weg an die Universitäten antreten. Dies entspreche nicht ihrer Interpretation von Scharia. In anderen islamischen Ländern, wie dem benachbarten Iran wird das islamische Recht anders ausgelegt. Wie kommt das?
Es gibt kein einheitliches kodifiziertes islamisches Recht. Die Scharia ist Auslegungssache. Was tatsächlich in den nationalen Rechtskanon hineinfließt, ist von Land zu Land sehr unterschiedlich. Zum Teil folgt das Recht sogar säkularen Vorstellungen.
In Tunesien wurden zum Beispiel Gesetze im Bereich des Familienrechts erlassen, die nicht der orthodoxen Islamauffassung folgen. Das wurde von säkularen Politikern und Frauenrechtsaktivistinnen durchgesetzt. Die Frage ist immer, ob und mit welchen Argumenten man Frauenrechte verankern kann. Ich habe vor Jahren einmal in Indonesien bei einer Schulung von Beamten, inklusive derjenigen aus der Scharia-Behörde, teilgenommen. Das Hauptargument gegen Gewalt gegen Frauen war damals, dass diese Art von Gewalt die Harmonie in der Familie gefährdet. Das war für alle inakzeptabel.
In Afghanistan ist die politische Landschaft vollkommen anders. Dort hat sich beispielsweise die Ächtung häuslicher Gewalt niemals durchsetzen können.
Dieses Argument, dass Gewalt gegen Frauen das Familienleben stört und/oder gefährdet, funktioniert im afghanischen Kontext nicht?
Nein. Dafür ist allerdings nicht nur der Islam, sondern auch die Tradition verantwortlich. Beispielsweise der Paschtunwali, der Normenkodex der Paschtunen, der weitgehend auf patriarchalischen Vorstellungen sozialer Ordnung basiert. Dabei geht es unter anderem um patriarchalische Ehrvorstellungen, die eng mit der Kontrolle der Mädchen und Frauen durch die Männer verknüpft sind.
Der Iran als Retter der Afghaninnen?
Unmittelbar nachdem die Taliban das Hochschulverbot ausgesprochen hatten, bot der Iran an, afghanische Frauen für ein Studium aufzunehmen – sicherlich eine interessante Option für viele afghanische Akademikerinnen, da die Kultur im Iran auch der eigenen ähnelt und es möglicherweise „akzeptabler“ ist, nach einem Studium im Iran nach Afghanistan zurückzukehren.
Das ist so, zumindest was die Hazara betrifft, die als schiitische Minderheit in Afghanistan nicht gut gelitten sind.
Im Iran war es übrigens auch nicht immer möglich für Frauen zu studieren. Als Khomeini die Macht übernahm, wurden Frauen den Unis verwiesen. Das hat sich grundlegend geändert. Heute studieren in vielen Fächern sogar mehr Frauen als Männer.
Als alte Hochkultur mit sehr hohem Bildungsniveau war der Anteil von Frauen im Iran übrigens immer schon hoch. Und iranische Frauen sind zudem außerordentlich rebellisch. Säkulare Iranerinnen rebellieren, quasi seit Khomeini an der Macht ist. Und das, obwohl sie dabei wirklich schlimme Konsequenzen in Kauf nehmen müssen – Verhaftung, Gefängnis, Folter, Tod. Sie machen es trotzdem – und ich persönlich finde es wirklich bewundernswert, wie sie sich für die Freiheit einsetzen.
Von Afghanistan kann man das nicht sagen. Hier gibt es eine Handvoll Frauen, die todesmutig auf die Straßen gehen – im Iran sind es Zigtausende. Dort ist ein ganz anderer Wille zur Veränderung. Und die Entwicklungen im Iran zeigen zudem eine ganz andere Kompatibilität mit Werten, die wir als westliche Menschen für gut und richtig halten: nämlich Frauenrechte, inklusive einer Idee moderner Lebensentwürfe. Das gibt es so in Afghanistan nicht.
Glauben Sie, der Iran hätte diese Einladung ausgesprochen, wenn das Land nicht selber in einer Krise stecken würde?
Natürlich nicht. Der Iran möchte mit solchen Angeboten international punkten. Es ist klar, dass das Land etwas für die Imagepflege tun muss. Keiner will schließlich immer nur der Böse sein. Und so kommt man jetzt als Retter der Afghaninnen ins Spiel.
Wie kann man dieses Verbot den afghanischen Mädchen und Frauen erklären, die in ihrem bisherigen Leben, also in den letzten 20 Jahren, nichts Anderes kennengelernt haben?
Für Mädchen in Afghanistan, die jetzt nicht mehr zur Schule gehen können, ist die derzeitige Situation extrem bitter. Aber ich möchte an diesem Punkt auch zu bedenken geben, dass wir ein geschöntes Bild von der Zeit der 20-jährigen Mission vermittelt bekommen haben. Tatsächlich haben viele Eltern auch vor der Rückkehr der Taliban in Afghanistan ihre Kinder nicht zur Schule geschickt, weil es Anschläge gab und die Kinder gefährdet waren.
Mit anderen Worten: In den letzten 20 Jahren haben wir uns für ein durch unser Normensystem geprägtes Bild der afghanischen Frau eingesetzt?
Richtig. Natürlich gab es in Afghanistan schon immer NGOs, auch zu Zeiten des „Emirat 1.0“, aber die meisten waren im Ausland aktiv. Zudem handelte es sich meist um kleine Gruppen.
Interessanterweise gehört nach Meinung vieler Islamisten sowohl in Afghanistan als auch im Iran nebst der ehemaligen Sowjetunion auch das heutige Russland schon seit jeher zum „Westen“, was daran lag, dass es ähnliche Modernisierungsvorhaben gab.
Die Taliban unterscheiden also nicht zwischen sozialistischen oder post-sozialistischen und kapitalistischen „Außenseitern“ und deren Normen?
Nein. Der Sozialismus interessiert sie nicht und stellt für sie auch keine Kategorie daher. In Afghanistan wird die Emanzipation als ausländisches Konzept abgelehnt.
Welche Möglichkeiten bleiben afghanischen Frauen jetzt? Was machen diejenigen, die auf ihrem Recht auf Bildung beharren?
Die momentane Situation ist äußerst schlecht und die Möglichkeiten für Frauen etwas zu verändern sind sehr limitiert.
Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob es wirklich etwas nützt, wenn UN-Organisationen immer wieder den Finger in die Wunde legen und ermahnen. Ich hoffe da eher auf andere islamische Länder – Katar zum Beispiel, das Land, das nach der Machtübernahme durch die Taliban ökonomisch und politisch eine wichtige Rolle spielt. Zwar sind die Frauenrechte dort ebenfalls stark eingeschränkt, aber im Vergleich zu Afghanistan ist es dort geradezu liberal.
Welche Rolle spielt China?
China verfolgt wirtschaftliche Interessen und mischt sich nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Länder ein. Damit sind sie sehr erfolgreich. Die westliche Strategie, ökonomische Interessen als vermeintlich menschenrechtsgetriebene umzudeuten, wird außerhalb Europas durchschaut und abgelehnt. Das ständige Moralisieren und der notorisch erhobene Zeigefinger, mit dem man Politiker andere Staaten auf Demokratiedefizite aufmerksam macht, kommen extrem schlecht an. Sie werden mit Recht als neokoloniale Attitüde empfunden.
Die internationale Staatengemeinschaft, also die UN, kann dementsprechend nur helfen, indem sie Sanktionen auferlegt und andere klassische „Zuckerbrot und Peitsche“-Initiativen anwendet?
Die UN besitzt eine größere Glaubwürdigkeit, doch Sanktionen sollten nicht überbewertet werden. Wie gesagt, könnten muslimische Staaten vielleicht eher Einfluss nehmen oder auch muslimische Gelehrte, die andere Interpretationen der Scharia anbieten und die Bildung von Mädchen als islamkonform legitimieren. Solche Ansätze lassen sich auch mit Verweisen auf den Koran rechtfertigen – und darauf kommt es häufig an.
Haben Sie Hoffnung?
Nicht für die unmittelbare Zukunft, aber schauen wir uns mal an, was in der islamischen Welt passiert – dass es Frauen etwa seit einigen Jahren in Saudi-Arabien erlaubt ist, sich frei ohne Schleier zu bewegen, Auto zu fahren und zu wählen.
Damit Veränderungen akzeptiert werden, muss sich entweder die islamische Theologie bewegen oder es muss eine starke Säkularisierungsbewegung entstehen. Es gibt mittlerweile emanzipative Theologen, die vielversprechende Ansätze entwickelt haben, und es gibt auch Tendenzen zur Säkularisierung.
Glauben Sie, dass seitens der internationalen Staatengemeinschaft die Rechte afghanischer Frauen dem Wettbewerb um die immensen Rohstoffe des Landes zum Opfer fallen?
Ich entdecke bereits jetzt keinen großen Druck auf die Taliban. Geld fließt weiterhin, auch aus Deutschland, allein schon aus humanitären Gründen. Immerhin will man die Menschen vor Ort nicht verhungern lassen. Dafür nimmt man in Kauf, dass die Taliban von den ausländischen Geldern profitieren. Auch Deutschland finanziert die Taliban mit.
Würden Sie sich mehr Druck wünschen?
Sie meinen die von unserer Außenministerin propagierte feministische Außenpolitik? Die funktioniert ja sichtbar überhaupt nicht. In Afghanistan haben wir keine Handhabe. Das muss man einsehen. Ich glaube auch nicht an die große Wirkung von Sanktionen, die in solchen Fällen vorgeschlagen werden. Bis jetzt ist noch keine Regierung durch Sanktionen gestürzt worden. Sanktionen werden umgangen und die Weltgemeinschaft ist sich alles andere als einig.
Ich bin auch nicht der Meinung, dass man Außen- und Wirtschaftspolitik allein nach moralischen Werten ausrichten kann. Wenn wir nur noch mit Ländern kooperieren wollen, die unsere moralischen Vorstellung enteilen, dann müssten wir beispielsweise unsere Energieversorgung auf ganz andere Füße stellen, massiv die Atomenergie ausbauen und in Norddeutschland Fracking betreiben. Man hat sich stattdessen dafür entschieden, mit Diktatoren und patriarchischen Emiraten zusammenzuarbeiten.
Die Politik behauptet zwar, eine wertegeleitete Außenpolitik zu betreiben, tut dies aber nicht. Die großen Floskeln sind reine Rhetorik.
„Die Bedeutung von Europa als geistiger Freiraum konstruktiver islamischer Ideenentwicklung spielt bislang vielleicht noch eine zu geringe Rolle“
Die Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft (AIWG) an der Goethe-Universität in Frankfurt ist eine Fachakademie, die bundesweit interdisziplinäre Forschung und Transfer in den islamisch-theologischen Studien und zum muslimischen Leben in Deutschland betreibt. Sie verbindet alle Hochschulstandorte der Islamischen Theologie und Religionspädagogik in Deutschland. In ihrer gesellschaftlichen Ausrichtung befasst sie sich unter Einbindung religionsbezogener Perspektiven mit Fragen von Teilhabe und Partizipation.
Zum Hochschulverbot afghanischer Frauen hat sich auch AIWG-Direktor Prof. Dr. Bekim Agai geäußert:
„Wir sehen hier wie stark Religion benutzt wird, um machtpolitische Interessen zu verfolgen und dazu genutzt wird, Frauen zu unterdrücken. Umso wichtiger ist es, Stimmen zu rezipieren, die sich aus islamischen Perspektiven heraus gegen solche Auslegungen des Islams wenden und diese hörbar zu machen. Dabei darf man das regionale Umfeld nicht aus der Verantwortung lassen, doch gleichzeitig ist Europa in den letzten Jahren auch ein Ort der Artikulation von Islam geworden. Wir an der AIWG haben uns in verschiedenen Projekten mit Fragen der Normativität klassischer Texte vor dem Hintergrund moderner Lebenswelten in vielfältigen, demokratischen Gesellschaften beschäftigt. Die Bedeutung von Europa als geistiger Freiraum konstruktiver islamischer Ideenentwicklung tritt dabei deutlich hervor und spielt bislang in den Debatten und dem europäischen Selbstverständnis vielleicht noch eine zu geringe Rolle.“
Die Fragen stellte Leonie Schultens