Es gibt nicht nur die „eine“ Zukunft

Julia Schubert und Steven Gonzalez forschen als Postdocs im interdisziplinären Graduiertenkolleg „Fixing Futures“ und fragen: Was machen Zukunftsvisionen mit dem Jetzt?

Auch Adorno hat über die Zukunft spekuliert: Julia Schubert (r.) und Steven Gonzalez am Schreibtisch des berühmten Frankfurters.

Wie wird die Zukunft? Angesichts einer Vielzahl an Krisen, Konflikten und Unwägbarkeiten wird die Frage, wie die Welt in 50 oder 100 Jahren aussieht, zunehmend virulent. Können neue Technologien die Welt sicherer und stabiler machen, wie ist es dann um das globale Klima bestellt, hat man den geeigneten Punkt des Gegensteuerns bereits verpasst? Lässt sich die Zukunft überhaupt vorhersagen angesichts der Vielzahl und Dynamik an Einflussfaktoren? Das 2023 gestartete Graduiertenkolleg „Fixing Futures: Technologies of Anticipation in Contemporary Societies“, angesiedelt am Institut für Soziologie und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert, befasst sich damit, wie Zukunft gedacht und modelliert, somit „antizipiert“ wird. Zehn Doktoranden, zwei Postdocs und acht Principal Investigators (PIs) sind Teil der Forschungsgruppe.

„Wir interessieren uns für Zukunftskonzeptionen, wie sie vor allem in ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen entwickelt werden“, erklärt Dr. Steven Gonzalez, als Postdoc gemeinsam mit seiner Kollegin Dr. Julia Schubert im Graduiertenkolleg gleichermaßen forschend tätig. „Wir erheben dabei nicht den Anspruch, selbst die Zukunft antizipieren zu können, sondern treten vielmehr einen Schritt zurück und betrachten Vorstellungen über die Zukunft als Diskurse, Praktiken oder Performances, die ihre eigene Wirksamkeit entfalten: Jede Zukunftskonzeption gibt in gewisser Weise den Zielpunkt vor, auf den die Welt zusteuert. Das sehen wir kritisch, da es nach unserer Ansicht nicht nur eine Zukunft gibt.“ Stattdessen versteht das „Fixing Futures“-Kolleg die Zukunft als eine sehr dynamische Angelegenheit, die es historisch und empirisch zu erforschen gilt. Julia Schubert ergänzt: „Die Zukunft zu antizipieren, auch im Rahmen eines wissenschaftlichen Projektes, ist immer auch ein politisches Unterfangen. Daher schauen wir, wie dieses Wissen über Zukunft generiert und vermittelt wird und wie es die Zukunft selbst gestaltet.“ Man könnte auf den ersten Blick vermuten, dass „Fixing Futures“ sehr theorielastig angelegt ist. Das sehen die beiden Postdocs nicht so: „Natürlich beschäftigen wir uns in unseren Workshops auch mit wichtigen Theorien der Philosophie und der Sozialwissenschaft, aber unser Graduiertenkolleg versteht sich als dezidiert empirisch: Wir wollen uns die Zukunft und ihre Modellierungen gewissermaßen ‚in action‘ ansehen, gerade weil wir von einer Vielzahl an möglichen Zukünften ausgehen, die nicht unbedingt auf einer linearen Zeitachse angeordnet sind.“ 

Beobachten und lernen

Steven Gonzalez erläutert den methodischen Ansatz anhand seiner Forschung: Im Rahmen seines Dissertationsprojektes „Cloud Ecologies“ am Massachusetts Institute of Technology (MIT) hat er Rechenzentren und ihre ökologischen und politischen Auswirkungen untersucht. Dabei musste er sich zum einen ganz praktisch mit den recht anspruchsvollen Speichertechnologien beschäftigen, zum anderen war er an der menschlichen Dimension interessiert:  Was lernen wir über Rechenzentren, wenn wir die alltäglichen Praktiken derer beobachten, die diese Zentren instand halten? „Man kann die Forschungsmethode im Sinne der Anthropologie und Ethnologie als teilnehmende Beobachtung beschreiben, bei der die/der Forschende in das Eigenleben seines/ihres Forschungsgegenstands eintaucht“, erläutert Gonzalez. Wichtig sei es, betont er, sich dabei mit viel Geduld und Offenheit dem Untersuchungsgegenstand zu nähern. „Man muss wirklich zuhören und sich auch mal in eine komplexe technische Bedienungsanleitung vertiefen können.“ An der Goethe-Universität beschäftigt er sich unter anderem mit den ökologischen Schäden, die Rechenzentren verursachen. „Datenspeicherung ist für mich eine Technologie für die Zukunft, da man davon ausgeht, dass unsere heutigen Daten irgendwann mal gebraucht werden, ohne genau sagen zu können, wofür. Es zeichnen sich technologische Alternativen zu siliziumbasierten Computersystemen ab, die einen deutlich geringeren ökologischen Fußabdruck und eine weitaus bessere Medienbeständigkeit versprechen“, erklärt er.

Julia Schubert ist Wissenschaftssoziologin und vor allem im Bereich der Klimaforschung unterwegs. Aktuell erforscht sie das Feld der sogenannten Attributionsforschung: Klimaforscher versuchen dabei, individuelle extreme Wetterphänomene auf den menschengemachten Klimawandel zurückzuführen. Schubert interessiert vor allem, wie dieses junge Forschungsfeld den Klimawandel greifbar macht und welchen Einfluss das auf aktuelle Klimapolitik hat: „In meiner Dissertation hatte ich mich mit Maßnahmen des sogenannten Climate Engineering beschäftigt. Diese Maßnahmen adressieren den Klimawandel als globales Phänomen. Sie zielen also zum Beispiel darauf ab, die Sonneneinstrahlung auf der Erde zu minimieren oder das globale Carbon Budget durch Negativemissionen zu vergrößern. Jetzt befasse ich mich quasi mit der gegensätzlichen Perspektive. Bei der Attribution von Extremereignissen wird das Klima im Wetter gesucht. Die Folgen des Klimawandels sollen in Bezug auf ganz konkrete Wetterereignisse wie Hochwasser oder Hitzewellen isoliert werden. Das geht teilweise so weit, dass der Beitrag einzelner Länder oder sogar Unternehmen zu konkreten Hitzewellen quantifiziert werden soll. Mich interessiert dabei vor allem, wie dieses Forschungsfeld entstanden ist und wie sich hier wissenschaftliche Fragen mit politischen Herausforderungen verknüpfen.“ Kürzlich erst konnte Schubert ihre Arbeit mit führenden Klimaforschern diskutieren. Sehen diese den soziologischen Blick auf ihre Arbeit kritisch? „Der Austausch war sehr positiv; die Forscher sind sich der politischen Brisanz ihrer Arbeit sehr bewusst und wissen natürlich um die Komplexität des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik.“ Gerade
die Naturwissenschaften, so die Erfahrungen von Steven Gonzalez und Julia Schubert, sind auch an einem Austausch zu den gesellschaftspolitischen Implikationen ihrer Arbeit interessiert. 

Gelebte Vielfalt: Von Science Fiction bis zur UNESCO

Inter- oder Multidisziplinarität wird bei „Fixing Futures“ groß geschrieben: So kommen die jungen Forschenden aus der Humangeographie, Anthropologie und Soziologie. Julia Schubert gefällt, wie Interdisziplinarität im Graduiertenkolleg gelebt wird: „Die Doktoranden haben die Möglichkeit, in den Workshops, Labs und Vorlesungsreihen andere disziplinäre Forschungszugänge kennenzulernen, ohne dass die eigene disziplinäre Identität in den Hintergrund rückt oder Differenzen unsichtbar würden.“

Die Familie von Steven Gonzalez kommt aus Puerto Rico: „Mein Schreiben und Forschen ist sicherlich auch sehr stark beeinflusst von meiner Herkunft und Identität. Ich bin zu Forschungszwecken öfter vor Ort und unterersuche, wie IT-Infrastrukturen lokale Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten reproduzieren. In Puerto Rico und anderen Orten, die oft als „globaler Süden“ bezeichnet werden, verstärken technische Infrastrukturen häufig historisch gewachsene und aktuelle koloniale Machtstrukturen. Gonzalez nutzt auch die Literatur als Medium für seine wissenschaftlichen Ideen und Erkenntnisse. Das Spekulative der Literatur stellt für ihn durchaus eine Methode dar. „Über die Potenziale von Fiction denken mittlerweile auch viele Naturwissenschaftler nach. Wenn die Zukunftsvorstellungen von Wissenschaftlern und Politikern gesellschaftlich relevant sind, sollten die Visionen von Schriftstellern auch gehört/ernstgenommen werden.“

Auch Julia Schubert bringt ihre Forschung in außerwissenschaftliche Kontexte ein. 2022 wurde sie in die UNESCO-Weltkommission für Wissenschaftsethik (COMEST) berufen. Anlass war die Befassung der Kommission mit Climate Engineering, Schuberts Spezialgebiet. Pünktlich zur letzten Weltklimakonferenz wurde der Bericht zu den umstrittenen möglichen Folgen und ethischen Herausforderungen der gezielten Klimaintervention abgeschlossen und den UN-Mitgliedstaaten vorgelegt. Als nächstes Thema steht nun die menschliche Expansion in den Weltraum auf dem Programm. Bei „Fixing Futures“ möchte man mit den Ergebnissen der Forschung, aber auch mit offenen Fragen in den Diskurs mit anderen Disziplinen und Öffentlichkeiten eintreten. „Ich verstehe mich als public scholar“, unterstreicht Steven Gonzalez; das eigene Wissen für verschiedene Zielgruppen aufzubereiten, sei zwar durchaus herausfordernd, aber auch notwendig, damit die eigene Forschung einen pragmatischen und nützlichen Aspekt hat und nicht nur in Fachzeitschriften stattfindet. Erste fruchtbare Gespräche beispielsweise mit dem Museum Giersch der Goethe-Universität bezüglich einer Ausstellung haben bereits stattgefunden. „Über die Zukunft machen sich alle, vor allem auch jenseits der Universität, irgendwie Gedanken. Diese unterschiedlichen Perspektiven, Motive und Interessen sind für uns und vor allem für unsere Forschung eine große Bereicherung“, unterstreicht Julia Schubert.

Website zu „Fixing Futures“ https://fixingfutures.eu

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