Fast eine halbe Million Blitze schlagen jährlich in Deutschland ein. Solch ein faszinierendes Blitzereignis dauert allerdings nur Bruchteile von Sekunden und ist mit bloßem Auge und selbst mit optischen Verfahren nur schwer aufzulösen. Die Untersuchung von Blitzen war daher bislang sehr zeitaufwändig und benötigte viel Erfahrung. Wissenschaftlern am Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS) ist es nun mithilfe von geschickt gewählten Algorithmen und Künstlicher Intelligenz gelungen, Blitzstrukturen schneller und detaillierter aufzulösen.
Zugute kommt den Wissenschaftlern dabei das niederländisch-deutsche Radioteleskop LOFAR (Low Frequency Array), ein europäisches Netzwerk aus etlichen Einzel- Antennen. Jede dieser flachen Stationen, die wie Solarpaneele aussehen, misst Radiowellen – also Frequenzen von 1 bis 10 Metern, die wir weder sehen noch hören können, ähnlich wie sie zur Übertragung im Hörfunk verwendet werden. Das im vergangenen Jahrzehnt erbaute und erweiterte Teleskopnetz LOFAR dient der Erforschung kosmischer Ereignisse und astronomischer Daten. Blitze sind dabei eigentlich Störereignisse, die eher ungewollt mit aufgezeichnet werden.
Die hochempfindlichen Antennen sammeln ständig extrem große Datenmengen, die so nicht verwertbar sind, sondern auf ihre aussagekräftigen Details reduziert werden müssen. In der Universität Groningen (Niederlande) verarbeiten Wissenschaftler daher die von LOFAR aufgezeichneten Rohdaten, sodass sie anschließend im FIAS verwertet werden können. Hier kommt die Stärke der Arbeitsgruppe von FIAS-Fellow Kai Zhou zum Tragen: Sie befasst sich mit Deep Learning, einem Zweig des maschinellen Lernens, der Datenmengen mit hohem Abstraktionsgrad auflöst, sodass diese verständlich und darstellbar werden.
Gefahren besser einschätzen
Lingxiao Wang, Postdoc in der Arbeitsgruppe, entwickelte zusammen mit Zhou und seinen Kollegen Brian Hare, Horst Stöcker und Olaf Scholten eine neuartige Methode, um mithilfe von Algorithmen des maschinellen Lernens und Korrelationsanalysen Strukturen in Blitzdaten zu erkennen. „Die Erforschung der Blitzstrukturen ist der erste Schritt, um das Auftreten und die Entwicklung von Blitzen nachzuvollziehen“, erklärt Wang. „Wenn wir künftig diese extremen Phänomene genauer verstehen, können wir Gefahren durch Blitzschläge besser einschätzen und vermeiden.“
In einer aktuellen Studie, veröffentlicht in der Fachzeitschrift Chaos, Solitons and Fractals, erhellt das Team das Verständnis von Blitzstrukturen und gibt Einblicke in die komplizierten Korrelationsfunktionen für verschiedene Blitzphänomene. Mit dem Einsatz von Algorithmen des maschinellen Lernens tragen sie dazu bei, Strukturen anhand zahlreicher räumlich-zeitlicher Punkte in einem hochdimensionalen Raum zu identifizieren, was mit bloßem Auge sehr zeitaufwändig wäre. Diese neuartige Methode ist ein leistungsfähiges Werkzeug, um riesige multidimensionale Datensätze nach einzigartigen Strukturen zu durchsuchen.
Ausschnitt aus einer Animation eines Blitzereignisses in einem Raum von 4 x 6 x 6 Kilometern über einen Zeitraum von 0,13 Sekunden. Blau dargestellt sind frühe Blitzursprünge, die sich im Laufe der Sekundenbruchteile über Grün und Gelb nach Rot ausweiten. Solche Darstellungen entstehen dank der umfangreichen Verarbeitung von LOFAR-Daten. Quelle: Lingxiao Wang/FIAS
Wangs Arbeitsalltag findet daher vor dem Bildschirm statt: Er entwickelt Algorithmen, also vereinfacht gesagt wohldefinierte Rechenschritte. Diese kombiniert er so, dass sie vorliegende Daten optimal wiedergeben und auf das Wesentliche reduzieren. Dadurch wird beispielsweise die Physik hinter den Blitzen verständlich. „Einer unserer Algorithmen kann beispielsweise hochdimensionale Daten auf eine zweidimensionale Darstellung vereinfachen“, erklärt Wang. Ein Datenwust wird so auf Papier darstellbar und kann nun weiter interpretiert werden. Ein weiterer Algorithmus fasst anschließend ähnliche Datenpunkte auf der Grundlage ihrer Nähe in diesem reduzierten Raum zusammen. Diese verwendeten maschinellen Lernalgorithmen gehören zu einer Form der Künstlichen Intelligenz, das heißt, sie können aus den Daten lernen und so ihre Leistung im Laufe der Zeit verbessern.
„Ein typisches Blitzereignis, wie wir es analysiert haben, hat vier Dimensionen: Länge, Breite, Höhe und Zeit“, erklärt Wang. Es entsteht also ein räumliches Bild über mehrere Kilometer, dessen Veränderung sich über die Zeit verfolgen lässt. Wobei Zeit hier lediglich den Bruchteil einer Sekunde bedeutet, die aber nun verlangsamt und in Einzelschritten dargestellt werden kann. Durch die Anwendung ihrer Algorithmen auf Blitzdaten können die Wissenschaftler verschiedene Strukturen innerhalb von Blitzen erkennen. So besteht ein Blitz ähnlich wie ein Baum aus Hauptstrukturen mit unzähligen feinen Verzweigungen bis hin zu Ästen mit feinen „Nadeln“, also vergleichsweise winzigen „Seitenblitzen“. Aber auch Ladungseigenschaften, feine Kanalstrukturen und viele weitere physikalische Details lassen die aufgelösten Daten nun erkennen – „quasi auf Knopfdruck“, so Wang. Die automatische Analyse von Blitzdaten beschleunigt die bisher sehr aufwändige Auswertung durch äußerst erfahrene Forscher von einigen Monaten auf wenige Minuten.
Klimawandel könnte Häufigkeit von Blitzen verändern
Damit schaffen die Analysen von Wang und seinen Kollegen die Grundlage, um die Auswirkungen von Blitzen auf Mensch und Umwelt besser zu untersuchen. So sind Blitze beispielsweise gelegentliche Auslöser von Waldbränden – und ihre Gefahr dürfte durch längere Trockenperioden künftig steigen. Zudem spiegeln Blitze die atmosphärischen Veränderungen wider und könnten sich im Zeichen des Klimawandels sowohl in ihrer Häufigkeit als auch ihren Strukturen wandeln. Dies zu beobachten, erlaubt nun die vorliegende Analysemethode. Mit einem besseren Verständnis der Struktur von Blitzen können zudem Auswirkungen – beispielsweise auf den Flugverkehr – besser eingeschätzt werden.
Wang möchte als Nächstes die Entwicklung der vom Algorithmus extrahierten Cluster untersuchen. Er erwartet, dass der zeitlichen Entwicklung unterschiedlicher Blitzphänomene bestimmte Regeln zugrunde liegen. Diese praktische Untersuchung ist der nächste Schritt zum Verständnis des Auftretens von Blitzen mithilfe von maschinellem Lernen.
Darüber hinaus lässt sich die in dieser Studie verwendete Kombination von Algorithmen auch in anderen Bereichen einsetzen, in denen es um die Suche nach einzigartigen Strukturen in riesigen multidimensionalen Datensätzen geht – beispielsweise für die Analyse und Vorhersage von Erdbeben, von Verkehrsflüssen in Ballungsräumen oder von Gensequenzen.
Anja Störiko
Veröffentlichungen
Lingxiao Wang, Brian M. Hare, Kai Zhou, Horst Stöcker und Olaf Scholten
Identifying Lightning Structures via Machine Learning
Chaos, Solitons & Fractals 170, 113346 (2023)
Brian M. Hare, Olaf Scholten, Joseph Dwyer et al.
Needle-like structures discovered on positively charged lightning branches
Nature, 2019, 568 (7752): 360-363