Die Goethe-Universität trauert um Prof. Dr. Lothar Gall, der am 20. Juni 2024 nach langer, schwerer Krankheit verstorben ist. Nach der Promotion in München und der Habilitation in Köln folgte er zunächst Rufen nach Gießen und Berlin, bevor er 1975 auf den Lehrstuhl für Neuere Geschichte in Frankfurt wechselte, den er 30 Jahre lang innehatte. In Frankfurt fand er ein kongeniales Umfeld, das er selbst in entscheidender Weise prägte. Durch strenge Arbeitsdisziplin und großes Organisationstalent gelang es ihm scheinbar mühelos, zwischen den sich immer weiter auseinanderentwickelnden Sphären der Spitzenforschung, der akademischen Lehre und des Transfers zu wechseln und in allen höchste Meriten zu erwerben.
In der Forschung ergründete Gall die längerfristigen historischen Ursachen des Nationalsozialismus, indem er danach fragte, weshalb sich Alternativen nicht durchsetzen konnten. Dabei interessierte ihn besonders die Wechselwirkung zwischen politischen Strukturen und individuellen Handlungsoptionen, die er in Verbundforschungen wie dem aus Mitteln des Gottfried Wilhelm Leibniz-Preises finanzierten Projekt „Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert“ ebenso bearbeitete wie in international überaus erfolgreichen Biographien, die über die Fachwelt hinaus ein breites Publikum fanden. „Bismarck: Der weiße Revolutionär“ (1980) führte den ‚eisernen Kanzler‘ als „Zauberlehrling“ vor, der mit dem kleindeutschen Reich eine politische Struktur geschaffen hatte, deren Folgen er nicht zu beherrschen vermochte. „Bürgertum in Deutschland“ (1989) verfolgte am Beispiel von Mitgliedern der Familie Bassermann den Weg vom ökonomischen Aufstieg im Übergang von der Standes- zur Klassengesellschaft über den Verfassungskampf 1848, die konservative Wende im Kaiserreich bis zum Exil im Nationalsozialismus. Im Laufe der Zeit wuchs Galls Interesse an der Rolle von Unternehmern im 20. Jahrhundert, etwa der von Hermann Josef Abs. Eine seiner letzten Publikationen, ein Aufsatz in der seit 1975 von ihm herausgegebenen „Historischen Zeitschrift“, widmete sich 2014 der Elitenkontinuität zwischen Nationalsozialismus und Bundesrepublik anhand zweier Beispiele aus Wissenschaft und Wirtschaft.
Gall war in zahlreichen wissenschaftlichen Organisationen aktiv; sein besonderes Engagement galt Ausstellungen und Museen. Zwischen 1971 und 1994 wurde die Ausstellung „Fragen an die deutsche Geschichte“ im Reichstagsgebäude von rund 17 Millionen Menschen besucht. 1998 kuratierte er in Frankfurt zur Erinnerung an die Revolution von 1848 „Aufbruch zur Freiheit“. Auch an der Gründung des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik in Bonn und des Deutschen Historischen Museums in Berlin hatte er entscheidenden Anteil.
Gall war Träger des Großen Verdienstkreuzes mit Stern der Bundesrepublik Deutschland, des Hessischen Verdienstordens sowie des Balzan-Preises, der u.a. an herausragende Wissenschaftler aus den Geistes- und Naturwissenschaften verliehen wird. Zur weiteren Förderung der Geschichtsforschung an der Goethe-Universität stiftete er gemeinsam mit seiner Frau, Prof. Claudia Eder, den großzügig dotierten Lothar Gall-Preis.
Andreas Fahrmeir
Professor Dr. Andreas Fahrmeir forscht und lehrt am Historischen Seminar der Goethe-Universität, sein Forschungsgebiet ist Neuere Geschichte unter besonderer Berücksichtigung des 19. Jahrhunderts.