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»KI kann nicht Gerechtigkeit«

Vor Kurzem wurde das »Centre for Critical Computation« an der Goethe-Universität gegründet. Bei der ersten öffentlichen Veranstaltung wurde nun das Terrain für die zukünftige Forschung sondiert: Dabei geht es um nichts weniger als den digitalen Wandel unserer Gesellschaft.

Die ersten Gastredner*innen des neuen C3S: Die Informatikerin Katharina Zweig und der Soziologe Armin Nassehi.

»Just Computing?« – der Titel des Auftakts war bewusst doppeldeutig gewählt. Bedeutet die digitale Transformation »nur«, dass rechnergestützte Methoden Prozesse allerorten optimieren? Oder ist damit auch ein Wandel gemeint, der »gerecht« gestaltet werden kann? Antworten auf solch grundlegende Fragen – so viel stellte Uni-Präsident Enrico Schleiff bei der Eröffnung klar – können nur gemeinsam erarbeitet werden mit einem neuen, Fachgrenzen überschreitenden Denken. »Eine Mammutaufgabe und nicht ohne Risiko«, so Schleiff, aber notwendig, weshalb er das Zentrum in seiner Präsidentschaftsbewerbung auch »versprochen« habe. Nun ist es da, und zwölf neue »ausfinanzierte« Professuren sollen in den kommenden zwei Jahren dorthin berufen werden, gab der Sprecher des Gründungsvorstands Christoph Burchard bekannt. Neben dem Juristen Burchard gehören diesem Gründungsvorstand die Bioinformatikerin Franziska Matthäus an, der Informatiker Ulrich Meyer und die Erziehungswissenschaftlerin Juliane Engel – die angestrebte Perspektivenvielfalt ist auf dieser Ebene also schon einmal vorhanden.

Mit KI-Systemen Verantwortung auslagern

In welche Richtung die Critical Computional-Forschung gehen könnte, zeigten die beiden Gastredner*innen in der vierstündigen Veranstaltung mit Kurzvorträgen und Podiumsdiskussion – der Soziologe Armin Nassehi von der Ludwig-Maximilians-Universität in München und die Informatikerin Katharina Zweig von der Technischen Universität Kaiserslautern-Landau. Die Informatikerin arbeitete dabei quasi mit einer Beweisführung: Auf die im Vortragstitel gestellte Frage „Kann KI Gerechtigkeit?“ gab Zweig anhand von Fällen, in denen algorithmenbasierte Entscheidungssysteme in der Rechtsprechung falsche oder ungerechte Entscheidungen getroffen hatten, eine klare Antwort. „Nein, KI kann nicht Gerechtigkeit.“ Vor allem auch deshalb, weil in der immensen Datenfülle, mit denen die Algorithmen gespeist werden, Entscheidungskriterien später kaum mehr transparent seien. Warum sei es aber dann zunehmende Praxis, fragte Zweig kritisch, Entscheidungen automatisiert von KI-Systemen treffen zu lassen und damit Verantwortung auszulagern? Warum gebe man sie nicht stattdessen dem ebenso fehlbaren Menschen an die Hand, um dessen Entscheidungskompetenz zu steigern?

Wer handelt bzw. entscheidet hier eigentlich, Mensch oder Maschine? Dies ist für den Soziologen Nassehi „praktisch gesehen eine Frage der Zurechnung“ und Erwartungshaltung. Auch wenn eine „Kritik der digitalen Vernunft“ noch ausstehe, wie Nassehi einräumte, skizzierte er in seinem kurzen historischen Abriss zumindest Bausteine einer solchen: Nachdem der Mensch einer technisierten Welt zunächst als Erweiterung der Maschine, dann im Zuge der Automatisierung und Digitalisierung als „unterkomplexer Bediener komplexer Vorgänge“ fungiert habe, seien Mensch und Maschine inzwischen beide „hybride Formen der Informationsverarbeitung“. „Die Maschine denkt nicht, erkennt nicht, urteilt nicht“, doch docke sie an sinnhafte Verweisungen der Gesellschaft an. Die Frage sei, so Nassehi, welche Kompetenz wir einer künstlichen Intelligenz in diesem Zusammenhang zurechnen wollten.

Gibt es überhaupt die KI?

Zwischen ernsthafter Skepsis und Zuversicht wurden die Folgen von KI auf dem Podium behandelt, dem sich die Erziehungswissenschaftlerin und Vizepräsidentin Christiane Thompson und der Klimaforscher und Biogeograph Thomas Hickler vom Daten- und Modellierzentrum des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums zugesellten. Fördert KI durch Partizipationsmöglichkeiten die Demokratie, gleicht sie Bildungsungerechtigkeiten aus oder bestimmt sie Bürger zu unfreiwilligen Datenträgern? Und gibt es überhaupt die KI? „Das haben wir auf der Agenda“, kommentierte Moderatorin Juliane Engel. Nassehi warnte hingegen vor allzu hochfliegenden Erwartungen, typisiertes Wissen, also „Beschreibungen, die wir immer schon kennen“, hinter sich lassen zu können. Als Zeitgenosse des digitalen Wandels wage er nicht zu beurteilen, ob es sich bei KI um einen quantitativen oder qualitativen Sprung handle.

Dass sich der Aufwand des Nachdenkens dennoch lohnt, davon zeugte die Resonanz auf die Veranstaltung. Mehr als 100 Gäste, darunter zahlreiche Kolleginnen und Kollegen aus der Universität, verfolgten den Auftakt des Zentrums mit Neugier und Diskussionsbeiträgen – zumal Unipräsident Schleiff neben der Gründung von C3S eine weitere frohe Botschaft zu verkünden hatte: Der 2013 verlassene Biocampus an der Siesmayerstraße soll gemäß Auskunft des Landes und nach einer Renovierung des Gebäudes wiederbelebt und Heimstatt von C3S werden. Ein digitaler Campus, mitten im Grünen: Dorthin mögen sich, nach der deutlich ausgesprochenen Einladung, das C3S mitzugestalten, viele gerne begeben.

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