Das „Glossar der Gegenwart“ aus dem Jahr 2004 ist mit neuen und überarbeiteten Einträgen erschienen: Fragen an die Herausgeber*innen Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann und Thomas Lemke.
UniReport: Das „Glossar der Gegenwart“ hat nun seine Fortsetzung oder, um einen Eintrag des Buches zu zitieren, sein „Update“ gefunden: Stehen die 20 Jahre für die normale Halbwertszeit einer Publikation oder war, bedingt durch eine Vielzahl an Krisen und technologischer Entwicklungen, die Notwendigkeit so groß, das Glossar jetzt zu überarbeiten?

Susanne Krasmann: Die Gegenwart von 2024 unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von der des Jahres 2004, als das erste Glossar erschienen ist. Von ihr trennen uns unter anderem die inzwischen dramatisch spürbaren Auswirkungen des Klimawandels, ein Finanzcrash, die Zunahme globaler Migrationsbewegungen, die Schwächung demokratischer Institutionen und das Erstarken des autoritären Nationalismus und Rechtspopulismus, die Erfahrungen sozialer Protestbewegungen vom Arabischen Frühling bis zu den Aktionen der Letzten Generation, außerdem die Corona-Pandemie, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, das antisemitische Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 und der folgende Krieg im Gazastreifen. In die Jahre seit 2004 fallen aber auch die Erfindung des Smartphones, die Kommunikationsrevolution der Social Media und die geradezu explosionsartigen Fortschritte im Bereich der Künstlichen Intelligenz. Die Polarisierung der Gesellschaft hat zugenommen. Der neoliberale Glaube an die Kräfte des entfesselten Marktes mag Risse bekommen haben, gebrochen ist er keineswegs. Geändert hat sich unter den Bedingungen der Polykrise allerdings die Tonlage: Statt aufgedrehter Freiheitsversprechen und penetranter Aktivierungsrhetorik dominieren Bedrohungsszenarien und Abstiegsängste. Dystopische, nicht selten apokalyptisch grundierte Zukunftserwartungen machen sich breit. All das gab uns Anlass für eine kritische Revision der Befunde. Viele der Einträge aus dem ersten Glossar haben zweifellos auch nach 20 Jahren nicht an Aktualität verloren, doch unübersehbar steht die Gegenwart von heute im Zeichen anderer Schlüsselbegriffe.
Im Vorwort wird der französische Philosoph Michel Foucault als wichtiger Bezugspunkt des Glossars mehrfach genannt. Lässt sich dies, auch in Abgrenzung zu anderen vergleichbaren Gegenwartsdiagnosen, kurz erläutern?
Ulrich Bröckling: Um die Konturen der Gegenwart kenntlich zu machen, spannt unser Glossar ein Netzwerk von insgesamt 34 Begriffen auf, die aufeinander verweisen, aber jeweils unterschiedliche Aspekte beleuchten. Ein solcher Zugang braucht eine übergreifende Perspektive, eine gemeinsame Richtung des Fragens, welche die Artikel miteinander verbindet. Wie schon beim Glossar von 2004 haben wir Begriffe ausgewählt, die sich auf zeitgenössische Formen des Regierens und Regiertwerdens, auf Strategien des Regierbarmachens und die Grenzen der Regierbarkeit beziehen. Unser Blick auf die Gegenwart richtet sich auf die Menschenregierungskünste, um eine Formulierung von Michel Foucault aufzunehmen, der für diese Forschungsperspektive auch den Begriff der „Gouvernementalität“ geprägt hat. Er versteht ‚Regieren‘ in einem sehr weiten Sinn, der über die Sphäre staatlicher Institutionen und Interventionen hinausreicht. Dispositive des Regierens umfassen Ordnungen des Wissens, affektive Kraftfelder, institutionelle Settings, politische Herrschaftsgefüge, technologische Infrastrukturen, materiale Arrangements und Praktiken des planvollen Einwirkens auf Individuen, Kollektive, ihre Umwelten und die Relationen zwischen ihnen. Mit diesem Fokus unterscheidet sich das Glossar auch von begriffsgeschichtlichen Projekten, die sich auf die Beschreibung kultureller Semantiken konzentrieren.
Handelt es sich um ein grundlegendes Dilemma, dass (soziologische) Gegenwartsdiagnosen selber der Beschleunigung und dem Wandel anheimfallen (können)? Oder kann man dem methodisch entgegenarbeiten?
S. K.: Mit der analytischen Ausrichtung am „Raster der Gouvernementalität“ hebt sich das Glossar der Gegenwart 2.0 schon in seinem Gesellschaftsbegriff von herkömmlichen soziologischen Gegenwartsdiagnosen ab. Anstatt die Gegenwart über einen Krisenbefund zu charakterisieren und die Gesellschaft entsprechend auf einen einzigen Aspekt engzuführen – die Risiko-, die Erlebnis- oder die Abstiegsgesellschaft, um nur einige der Bindestrichgesellschaften zu nennen, die Soziolog*innen kreiert haben. Das Glossar geht dagegen davon aus, dass Gesellschaften von verschiedenen, auch gegenläufigen sozialen Kräften durchzogen sind. Die Beiträge zeichnen nach, wie diese Kräfte ineinanderspielen, sich bündeln und verstärken. Die Aussagekraft des Glossars liegt somit in der Auswahl seiner Lemmata. Maßgeblich waren für uns die folgenden Kriterien: Als soziale oder kulturelle Leitideen und Praktiken sollten die Stichworte erstens eine nennenswerte Rolle in der Gegenwartssprache spielen und zweitens in unterschiedlichen Diskursfeldern auftauchen. Drittens schließlich sollten sie gesellschaftlich umstritten sein, an ihnen sollten sich also Kontroversen entfachen. Das Glossar als Form legt eine nicht-lineare Lektüre nahe – es gibt keinen vorgeschriebenen oder besten Anfang.
Im Glossar von 2004 tauchten noch Begriffe wie »Wellness«, »Normalität« oder „Gender“ auf, an deren Stelle sind nun »Achtsamkeit«, „Disruption“ und „Diversität“ getreten. Haben die alten Begriffe gewissermaßen ihre Relevanz eingebüßt? Verwendet werden sie ja sicherlich noch.
Thomas Lemke: Das Glossar von 2004 umfasste 43 Einträge und thematisierte von „Aktivierung“ bis „Zivilgesellschaft“ Rationalitätsannahmen, Zielvorstellungen und Handlungsorientierungen, die aus unserer Sicht die damaligen Formen der Selbst- und Fremdführung kennzeichneten. Die 2.0-Version des Glossars zeichnet die Verschiebungen dieses begrifflichen Koordinatensystems seit 2004 nach. Wir haben uns entschieden, nicht einfach einzelne Lemmata zu streichen, andere zu überarbeiten und wieder andere neu aufzunehmen. Im Gegensatz zu herkömmlichen Updates präsentiert dieses Buch vielmehr ein völlig verändertes Inventar aktueller Leitbegriffe. Mit einer Ausnahme: Nachhaltigkeit war bereits im Glossar von 2004 enthalten, der Eintrag wurde jedoch neu geschrieben. Die beiden Versionen des Glossars ersetzen sich also nicht, sondern ergänzen sich beziehungsweise stehen in einem Verhältnis der Neuakzentuierung zueinander. Einige der neuen Stichworte überschreiben Lemmata des Glossars von 2004, neben den bereits genannten Beispielen etwa „Epigenetik“ statt „Gen“, „Finanzialisierung“ statt „Zirkulation“, „Krieg“ statt „humanitäre Intervention“, „Nudging“ statt „Aktivierung“, „planetarisch“ statt „Globalisierung“, „Plastizität“ statt „Flexibilität“, „Resilienz“ statt „Prävention“. Solche Begriffsverschiebungen besitzen selbst zeitdiagnostische Aufschlusskraft und laden geradezu dazu ein, die alten und neuen Glossareinträge nebeneinander zu lesen: So signalisiert Resilienz einen Umgang mit bedrohlichen Zukünften, der nicht mehr von der Erwartung geleitet ist, Katastrophen durch präventive Anstrengungen verhindern zu können, sondern sich stattdessen damit begnügt, ihre unvermeidlichen Auswirkungen so gut wie möglich abzufedern. Andere Lemmata – etwa „Anthropozän“, „Care“, „Dekolonisierung“, „Identitätspolitik“, „Klimawandel“, „Plattform“, „postfaktisch“, „Situiertheit“ und „Vulnerabilität“ – haben keine Entsprechung im Vorgängerbuch. Ihr Auftauchen markiert auch zeitdiagnostisch bedeutsame semantische Verschiebungen, die wiederum auf veränderte gesellschaftliche Problemlagen und Bewältigungsstrategien verweisen.
Das Glossar möchte kein Lexikon von Buzzwords sein. Aber einige Einträge des Buches sind Begriffen gewidmet, die durchaus als Modebegriffe in ganz unterschiedlichen, auch nicht-akademischen Diskursen, anzutreffen sind (zum Beispiel »Agilität«, „Social Media“). Versprechen Sie sich auch einen Bewusstseinswandel beziehungsweise eine kritische Reflexion in den beteiligten Berufsgruppen? Oder wäre das eine zu optimistische Zielsetzung des Buches?
U. B.: Selbstverständlich soll das Glossar der Gegenwart 2.0 ein Beitrag kritischer Zeitdiagnostik und damit ein Stück gesellschaftlicher Selbstaufklärung sein. Und wir hoffen auf Leser und Leserinnen auch außerhalb der Soziologie. Das Glossar von 2004 hat damals Eingang in viele Lehrveranstaltungen gefunden – in Universitäten, aber auch in Fachhochschulen und Gymnasien. Letztlich lässt es sich allerdings nur schwer vorhersagen, wer zu einem Buch greift und welche Effekte die Lektüre zeitigt.
Herr Lemke, in dem von Ihnen verfassten Eintrag zu „Resilienz“ kommen Sie unter anderem darauf zu sprechen, dass der weitverbreitete Begriff beispielsweise in der Ratgeberliteratur bestimmte Menschenbilder erzeuge (»Steh-auf-Menschen«), wodurch die Verantwortung für missliche Lebenslagen zunehmend auf den Einzelnen verlagert werde. Dennoch verurteilen Sie nicht komplett den Begriff, sondern sehen auch Potenziale – inwiefern?
T. L.: Generell geht es uns mit dem Glossar nicht um die Beschreibung einer totalitären und in sich geschlossenen Herrschaftslogik, sondern gerade um die Brüche, Uneindeutigkeiten und möglichen Spielräume, für die die analysierten Begriffe stehen. Uns interessiert, welche Selbstbeschreibungen zeitgenössischer Gesellschaften die jeweiligen Schlüsselbegriffe implizieren, welche Freiheitsspielräume sie eröffnen und welche Zwänge und Zumutungen sie enthalten.
Dies lässt sich sehr gut am Begriff der Resilienz zeigen. An der Forderung, resilient zu sein oder zu werden, scheint heute kein Weg mehr vorbeizuführen. Der Imperativ gilt für das Gesundheitssystem ebenso wie für die Stadtplanung oder die Klimapolitik, aber auch für den individuellen Umgang mit existenziellen Risiken. Immer geht es darum, sich auf eine Zukunft vorzubereiten, in der Krisen allgegenwärtig sind und immer mit katastrophalen Folgen gerechnet werden muss. Resilienz wird zur gesellschaftlichen Norm, die den richtigen Umgang mit traumatischen Erfahrungen und Krisensituationen vorgibt. Problematisch ist dabei, dass sich die Aufmerksamkeit von den strukturellen Bedingungen katastrophaler Ereignisse hin zu der Frage verschiebt, wie ein resilienter Umgang damit erlernt werden kann. Der Resilienzdiskurs arbeitet dabei mit dem Paradox der Vorbereitung auf das Unvorhersehbare und setzt auf die Kultivierung von Anpassungsfähigkeit und Stresstoleranz. Der Verweis auf Resilienz eröffnet aber auch neue Formen der Politisierung: Wenn zum Beispiel die Anpassung an zunehmende Klima-Unsicherheiten notwendig ist, dann wird darüber gestritten, wie wir leben wollen und wer die Kosten der Umstellung auf andere Lebensweisen tragen soll.
Ulrich Bröckling ist Professor für Kultursoziologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; Susanne Krasmann ist Professorin für Soziologie an der Universität Hamburg; Thomas Lemke ist Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Biotechnologie, Natur und Gesellschaft am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität.