Mit ihrem literarischen Debüt »Kangal« hat die Frankfurter Literaturwissenschaftlerin Anna Yeliz Schentke eine erstaunliche Resonanz im Literaturbetrieb geerntet. In ihrem Roman lotet sie die seismographischen Erschütterungen aus, die der missglückte Putschversuch 2016 in der Türkei auf ein Netzwerk von jungen Menschen hat.
Wenn man Anna Yeliz Schentke nach der Entstehung ihres Romandebüts fragt, kann sie selber den überraschenden Erfolg ihres Erstlings kaum erklären: Die 1990 in Frankfurt geborene Literaturwissenschaftlerin hatte sich, erzählt sie hemdsärmelig, für einen Schreibworkshop angemeldet. Plötzlich musste sie sehr schnell etwas liefern, im Workshop sollten nämlich Texte der Teilnehmenden besprochen werden.: „Der Schreibworkshop von Lennart Loß war wirklich so etwas wie eine Initialzündung für mich“, erzählt Schentke. Der Druck, etwas schreiben zu müssen, habe wohl etwas in ihr bewirkt und freigesetzt. „Ich wusste vorher nicht, dass Literatur für mich ein Weg des ästhetischen Ausdrucks sein kann. Ein zweiter Schreibworkshop bei der Jürgen-Ponto-Stiftung war für mich sehr prägend. Die Leitung des Workshops dort hatten Judith Kuckardt und Joachim Helfer, beides Autor*innen. Es war schon faszinierend, mit anderen Teilnehmenden des Kurses, die ich überhaupt nicht kannte, über meinen Text in ein intensives Gespräch zu kommen. Ich kannte das vorher überhaupt nicht, möchte es aber jetzt definitiv nicht mehr missen.“ Aus einem anfänglichen Zweiseiter wurden im Workshop dann zehn Seiten – dann hatte sie auch schon den Vertrag mit einem angesehenen Verlag in der Tasche. Ein geradezu traumwandlerischer Einstieg in den Literaturbetrieb für eine junge Frau, die vorher noch nichts Literarisches zu Papier gebracht hatte.
Im Visier eines autoritären Regimes
„Kangal“ wartet mit einer modernen Konstruktion auf: Es gibt keinen auktorialen Erzähler, stattdessen wechseln sich drei Stimmen von jungen türkischen beziehungsweise türkischstämmigen Menschen nahezu übergangslos ab. In der Türkei ist der Putschversuch gerade niedergeschlagen worden. Kritiker der sich zunehmend autoritär gebärdenden Erdogan-Regierung müssen fürchten, verhaftet zu werden. Auch der digitale Austausch gestaltet sich zunehmend schwierig, man hüllt sich besser in Schweigen, selbst in intimsten Situationen. Dilek, die Hauptfigur des Romans, hat unter dem Pseudonym „Kangal“ regierungskritische Posts veröffentlicht. Aus Angst, in die Fänge der Polizei zu geraten, flüchtet sie Hals über Kopf mit dem Flieger nach Deutschland, wo sie Familienangehörige hat. Ihren Freund Tekin lässt sie zurück, nimmt Kontakt zu ihrer Cousine Aylin auf. Doch die familiäre Bande steht ganz im Zeichen der Erschütterungen, die das autoritäre Regime Erdogans selbst im fernen Deutschland hinterlässt. Wie gefährlich ist das Leben in der Türkei, aber wie sicher ist das Leben noch in Deutschland?
Bewusste Uneindeutigkeiten
Wie ist Anna Yeliz Schentke überhaupt auf das Thema gekommen? „Als ich einen Text verfassen musste für den Workshop, habe ich mich gerade mit diesem Thema auseinandergesetzt. Mich hat an den Nachwirkungen des Putschversuches vor allem interessiert, wie Menschen in Deutschland, ob mit oder ohne Familie in der Türkei, damit umgehen: in ihren Empfindungen und Beziehungen. Ich wollte keine politischen Strömungen nennen, mir ging es um das Private“, erklärt Schentke. Ihr Roman, der auf eine zentrale Vermittlungsinstanz verzichtet, lässt viele Leerstellen, die Leser*innen müssen sich aus dem sich überlagernden und überschneidenden Zusammenspiel der drei Stimmen einiges selbst erschließen. Nicht alles lässt sich (er-)klären, die Uneindeutigkeiten versteht Anna Yeliz Schentke auch als eine Annäherung an eine komplexe und oft unzugängliche Realität. Versteht sie sich als politische Autorin? „In dem Sinne, dass ich Konflikte aufzeigen möchte, ohne Positionen und Haltungen eindeutig zu beziehen, schon.“
Der Literaturbetrieb als Forschungsthema
Zahlreiche Lesungen hat sie mittlerweile mit ihrem Roman bestritten. Die ohnehin für eine Literaturwissenschaftlerin gewöhnungsbedürftige Rolle als Schriftstellerin erhält dadurch noch eine besondere Note, dass sich Schentke in ihrer Forschung auch mit der Autor-Persona und der öffentlichen Darstellung von Autor-Figuren beschäftigt hat. „Wo und wie verortet man sich als Autorin, ja muss man sich überhaupt irgendwo verorten? Solche Fragen beschäftigen mich schon. Ich versuche, eine Trennung von Autorin und Literaturwissenschaftlerin vorzunehmen.“ Schentke promoviert an der Goethe-Universität zum Thema „Posting als literarische Form“, hier berührt ihre Forschung das immer wichtiger werdende Feld der Digitalität in Sprache und Literatur. Ihre Mitarbeiterstelle ist bei Prof. Susanne Komfort-Hein in den Frankfurter Poetikvorlesungen verankert. „Das ist ein echter Glücksfall, ich habe mich bereits in meinem Studium schon sehr für die Poetikdozenturen interessiert.“ Gespannt ist sie schon auf den Büchner-Preisträger Clemens J. Setz, der im kommenden Sommersemester zu Gast sein wird. Gemeinsam mit Prof. Heinz Drügh und Maximilian Koch wird sie dann ein Seminar zu Clemens Setz’ Poetik leiten. Und wie geht’s bei ihr weiter, darf man sich schon auf ein neues Werk aus ihrer Feder freuen? Da hält sich Anna Yeliz Schentke noch etwas bedeckt, kann aber zumindest schon bestätigen, dass es einen neuen Roman geben wird.