Von Fliegen und Leichen

Tagung zur kriminalistischen Insektenkunde: ein Nachbericht von Jens Amendt

Calliphora vicina, die schwarzblaue Schmeißfliege.
AJC1 from UK, Bluebottle Calliphora vicina (16905381933), CC BY-SA 2.0.

Unter dem Motto Insects & Wine trafen sich in der Rotweinstadt Ingelheim am Rhein vom 12. bis 14. Juni 55 Teilnehmende aus 14 Ländern, darunter unter anderem Südafrika, Brasilien und Kanada, um sich über die neuesten Erkenntnisse und Fortschritte der kriminalistischen Insektenkunde auszutauschen. Ausgerichtet wurde diese internationale Veranstaltung vom Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums der Goethe-Universität. Hier wird seit 25 Jahren intensiv zur Biologie und Ökologie von Aas-Insekten geforscht. Die gewonnenen Erkenntnisse finden bundesweit in der täglichen Bearbeitung von Kapitaldelikten, zum Beispiel bei der Ermittlung des Todeszeitpunktes oder der Klärung der Todesumstände, Berücksichtigung.

Noch keine »Body Farm« in Europa

Die unter der Schirmherrschaft der European Association for Forensic Entomology stattfindende Tagung war in verschiedene Themenblöcke eingeteilt und hatte einige Besonderheiten aufzuweisen. So war zum Beispiel dieses Jahr das Augenmerk auf den Nutzen und die Einrichtung von „Human Forensic Taphonomy Facilities“ gelegt worden. Auf einer solchen, umgangssprachlich gerne auch als „Body Farm“ bezeichneten, Forschungsstation untersucht man unter anderem die Verwesungsprozesse menschlicher Leichen unter natürlichen Bedingungen (und hier spielen dann die erwähnten Aasinsekten eine wesentliche Rolle), simuliert Fall-Szenarien für Ermittlungsbehörden, bildet Kriminaltechniker aus oder dient Leichenspürhunden als Trainingsgelände. Eine den bereits in Australien, Kanada und den USA existierenden Einrichtungen vergleichbare Institution findet sich bisher in ganz Europa nicht. Dies zu ändern haben sich die Biologin- nen der Frankfurter Rechtsmedizin unter Führung von Prof. Dr. Jens Amendt zum Ziel gemacht. Allerdings müssen hier zunächst einige juristische und bürokratische Hindernisse aus dem Weg geräumt werden – um diese dicken Bretter besser bohren zu können, haben sich die Frankfurter für die Tagung prominente Verstärkung eingeladen: Prof. Dr. Shari Forbes von der University of Windsor (Kanada) hat bereits drei „Body Farmen“ in Australien und Kanada eröffnet und leistete mit ihrem Vortrag „Human decomposition facilities – What can we learn from these bodies of Knowledge?“ beeindruckende Überzeugungsarbeit. Es wird klar, dass das Netz dieser Einrichtungen weltweit viel dichter werden muss, um alle Klimazonen und Lebensräume abbilden zu können und den zahlreichen Anforderungen und Ausbildungskonzepten der verschiedenen Ermittlungsbehörden gerecht zu werden. Das zeigte auch die unmittelbar neben dem Tagungsgelände organisierte Vorführung der Leichenspürhunde des Landes Hessen – blutige Messer, alte Knochen und Kleidungsstücke von Leichen warteten im Gebüsch gut versteckt darauf, von den deutschen und belgischen Schäferhunden aufgespürt zu werden. Das funktionierte durchaus, aber Frank Lammers, Leiter der Ausbildungsstätte der Hunde in Mühlheim am Main, machte deutlich, wie wichtig es wäre, die Hunde auch mit echten Leichen zu trainieren – und das geht natürlich nicht einfach in der freien Natur, sondern an einem eigens nur dafür zur Verfügung stehenden Ort wie eben einer „Body Farm“. Shari Forbes und Kolleginnen aus Europa zeigten in ihren Vorträgen aber nicht nur die unmittelbare Praxis-Relevanz, sondern die große Vielfalt an Forschungsansätzen, die die Arbeit mit menschlichen Leichen zu bieten hat. So kann das humanspezifische Mikrobiom postmortal ein Marker für die Todeszeit der jeweiligen Person sein, die naturkundlichen Spuren an Leichen bei Weitem noch nicht alle ausreichend katalogisiert und verstanden, und der „Geruch des Todes“ in seiner chemischen Vielfalt ein für die Liegezeit eines Leichnams und die Todesumstände eines Mordopfers ein spannendes Werkzeug der Kriminaltechnik.

Die schwarzblaue Schmeißfliege, ein »Star« der Insekten-Szene

Ein weiterer Themenblock widmete sich einer auf den ersten Blick unscheinbaren Insektenart: der schwarzblauen Schmeißfliege Calliphora vicina. Sie ist der „Star“ in der europäischen nekrophagen Insekten-Szene, weil sie einer der häufigsten auf Leichen vorkommenden Fliegenarten ist und gleichzeitig mit den für Mitteleuropa durchaus immer noch häufigen niedrigen Temperaturen gut zurechtkommen kann. Insekten auf Leichen helfen bei der Eingrenzung des in Tötungsdelikten so wichtigen Todeszeitpunktes, wenn mehr als 1 bis 2 Tage postmortal vergangen sind – dann können die klassischen rechtsmedizinischen Methoden, wie Körpertemperatur, rigor mortis oder Totenflecken, nicht mehr greifen. Eine Altersbestimmung der sich auf dem Körper entwickelnden Insekten kann diesen Zeitraum aber auf mehrere Wochen ausdehnen – und besagte Calliphora vicina ist hier aufgrund ihrer Häufigkeit vor allem im städtischen Bereich sehr wichtig. Vorträge aus England, Polen, Tschechien und auch Frankfurt zeigten beispielhaft, wie komplex die Altersbestimmung von Insekten in der Fallarbeit sein kann und wie wichtig es ist, Einflussfaktoren auf die wechselwarmen Insekten wie etwa fluktuierende Temperaturprofile im Tag-Nacht-Verlauf noch besser zu verstehen.

Nekrophage Insekten stehen am Ende der Nahrungskette – und konsumieren mit dem Leichengewebe auch Substanzen, die der Mensch zu Lebzeiten mehr oder weniger regelmäßig konsumiert hat. Zahlreiche Beiträge widmeten sich in einem weiteren Themenblock der Frage, inwieweit man Substanzen wie diverse Benzodiazepine in den Insekten nachweisen kann, wenn die humanen Gewebeproben nicht mehr existieren bzw. nicht mehr zu analysieren sind und ob der Konsum dieser Substanzen den Alterungsprozess der Insekten verändern kann. Letzteres hätte Auswirkungen auf die Eingrenzung des Todeszeitpunktes. Die präsentierten Daten aus unter anderem München konnten das Publikum beruhigen, ein Einfluss wurde als extrem unwahrscheinlich angenommen.

Methodisches Füllhorn

Bei den Beiträgen in den sogenannten Freien Themen zeigte sich die enorme Vielfalt der forensischen Entomologie. Analysen der genetischen Vielfalt von Aasinsekten, ökologische Untersuchungen zur Sukzession dieser Tiere an Aas, die Berücksichtigung neuer Indikatorarten wie der invasiven Schmeißfliegenart Chrysomya albiceps oder aus anderen Disziplinen adaptierte Techniken wie die Infrarot-Spektroskopie, um die Verwitterung von Insektenresten am Leichenliegeort zeitlich klassifizieren zu können – es wurde ein methodisches Füllhorn präsentiert, was auch die Bandbreite an fachlichen Qualifikationen der Tagungsteilnehmer belegt: Vom Rechtsmediziner über den Kurator im Naturkundemuseum bis zum Mitarbeiter unterschiedlichster (inter)nationaler Kriminalämter war alles vertreten. Erfreulich war die hohe Zahl an Beiträgen junger Nachwuchswissenschaftlerinnen – insgesamt 14 Vorträge und Poster wurden von allen Teilnehmern der Tagung „begutachtet“ und am Ende der beste Beitrag ausgezeichnet.

In einer abschließenden Podiumsdiskussion wurde eine wichtige Problematik der Forensischen Entomologie thematisiert – während der „genetische Fingerabdruck“ oder der „virtuelle 3D-Tatort“ bei den Ermittlerinnen fest als Methode etabliert ist, fristen die Insekten auf europäischer Ebene noch zu oft das Dasein von Dornröschen. Aus diesem Schlaf soll sie das mit EU-Mitteln geförderte und in Frankfurt in der Rechtsmedizin verortete Projekt „MaDE in Deutschland“ erwecken. Es wird über nationale Grenzen hinaus als Schablone für weitere europäische Fortbildungs- und Informationsprojekte dienen.

Beschwingt von so einem positiven Ausblick in die Zukunft, schmeckte den Tagungsteilnehmenden die abschließende kulinarische Weinprobe gleich doppelt gut – Ingelheim zeigte sich auch hier von seiner besten Seite. Man ist gespannt, ob der Tagungsort 2025 mithalten kann. Kulinarisch auf jeden Fall: Es geht nach Parma …

Prof. Dr. Jens Amendt ist am Institut für Rechtsmedizin für die insektenkundliche Begutachtung von Tötungen oder unklaren Todesumständen zuständig und lehrt und forscht zum Thema forensische Entomologie an der Goethe-Universität. Er ist unter anderem Gründungsmitglied und aktueller Präsident der European Association for Forensic Entomology und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Entomologie und Acarologie.

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