Flüchtlinge, Terrorismus, die russische Invasion in der Ukraine, Großbritanniens Zukunft in der EU, Griechenlands Zugehörigkeit zum Euro, die Bankenkrise in Italien, die drohende portugiesische Verfassungskrise: Angesichts der vielen akuten Krisen, mit denen Europa gegenwärtig konfrontiert sei, habe die Bevölkerung den Eindruck bekommen, dass „die nationalen und internationalen Institutionen die Dinge nicht mehr unter Kontrolle haben“.
Mit dieser Feststellung eröffnete der ehemalige österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel seinen öffentlichen Vortrag, den er im Dezember letzten Jahres am Forschungskolleg Humanwissenschaften in Bad Homburg hielt. Auf Initiative des Vizepräsidenten der Goethe-Universität Manfred Schubert-Zsilavecz war er dazu eingeladen worden, im Rahmen der Vortragsreihe EuropaDialoge/Dialogues d’Europe seine Perspektive auf die aktuellen Probleme Europas zur Diskussion zu stellen.
Die Vortragsreihe wird vom Forschungskolleg Humanwissenschaften und dem an der Goethe-Universität angesiedelten Deutsch-Französischen Institut der Geschichts- und Sozialwissenschaften – Institut Franco-Allemand de Sciences Historiques et Sociales gemeinsam veranstaltet und von den jeweiligen Direktoren, Matthias Lutz-Bachmann und Pierre Monnet, wissenschaftlich geleitet.
EU als Erfolgsgeschichte
„The EU is überfordert“ − mit diesem Zitat von Wolfgang Münchau aus der Financial Times brachte Schüssel das Problem auf den Punkt. Die große Zahl der aktuellen Probleme und Krisen sowie die komplizierten Entscheidungsstrukturen innerhalb der europäischen Institutionen verhinderten es, einheitliche Lösungsstrategien zügig zu beschließen und umzusetzen. Gleichwohl zeigte sich der Redner des Abends als Optimist.
Grund dafür sei vor allem die Geschichte der EU: Es sei eine Erfolgsgeschichte, denn seit nunmehr 70 Jahren herrsche Frieden in Europa. Krisen habe es von Anfang an gegeben, und unzählige Krisen seien in der Vergangenheit bewältigt worden.
Schüssel erinnerte an den Fall des Eisernen Vorhangs und an die daraus resultierende Normalisierung der Beziehungen zwischen den Ländern des Ostblocks und des Westens; an die unglaubliche Geschwindigkeit, mit der die Maßnahmen des „Euro-Rettungsschirms“ entwickelt wurden, um den Staatsbankrott von Mitgliedsstaaten zu verhindern; und an Bedrohungen wie das Waldsterben, BSE oder die Vogelgrippe, die alle abgewendet werden konnten.
In schwierigen Situationen sei es wichtig, Krisen richtig zu definieren, Prioritäten zu setzen, Lösungswege aufzuzeigen und diese dann auch mutig umzusetzen. Dazu gehöre auch eine gehörige Portion Geduld. Kritischer Blick auch auf Österreich Aktuell komme es, so Schüssel, „im Kern darauf an, eine gemeinsame außenpolitische Strategie zu entwickeln“. Diese umfasse ganz unterschiedliche Maßnahmen:
Zuallererst müssten die europäischen Außengrenzen geschützt werden, um den Schengen-Raum zu erhalten − eine Maßnahme, die Schüssel auch als Vorstufe zur Begründung einer europäischen Armee begrüßen würde. Sodann sollte die Internetkommunikation kontrolliert werden, um den Austausch zwischen den Dschihadisten zu stoppen. Auch die Finanzströme, die den IS am Leben erhalten, wie etwa der Handel mit Öl und Antiquitäten, müssten „ausgetrocknet“ werden.
Die Vereinigungen radikaler Gruppen wie die der Salafisten sollten verboten werden, weil sie die freiheitlich-rechtlichen Grundordnungen der EU-Mitgliedstaaten bedrohten. Zudem nannte Schüssel die Entradikalisierungsprogramme, wie sie etwa in britischen Gefängnissen aufgelegt wurden, sowie Programme zur Stabilisierung der Länder, aus denen Flüchtlinge und Migranten kommen. Grundlage für all diese Maßnahmen sei die Sicherstellung der finanziellen Basis sowohl durch die EU wie auch durch die UN.
Mahnend blickte Schüssel dabei auf jene Mitgliedsstaaten, die ihren Zahlungsverpflichtungen zur Bewältigung der Flüchtlingskrise nicht immer fristgerecht nachkommen – wie etwa sein eigenes Land Österreich. Das Publikum im voll besetzten Vortragssaal des Forschungskollegs Humanwissenschaften dankte dem ausgezeichneten Redner mit langem, begeistertem Applaus. Denn Wolfgang Schüssel zeigte sich, wie Manfred Schubert-Zsilavecz eingangs angekündigt hatte, als ein „glühender und überzeugter Europäer“. [Autorin: Beate Sutterlüty]